Matthias Politycki : Weiberroman
Inhaltsangabe
Kritik
Gregor Gustav Schattschneider wurde am 22. April 1956 in Ibbenbüren geboren. Sein Vater war dort stellvertretender Filialleiter der Raiffeisenkasse. Als Heinrich Schattschneider 1970 zur Spardaka in Lengerich wechselte, zog er mit seiner Frau Johanna und dem inzwischen vierzehnjährigen Sohn um. Auch im neuen Zuhause zieren die Vorschlagsbände des Bertelsmann Leserings den Bücherschrank der Familie Schattschneider.
Beim Rülps-Wettbewerb scheitert Gregor immer schon daran, dass er es nicht schafft, einen Liter Fanta zu trinken. Um sich an seiner Klavierlehrerin zu rächen, bestellt er in ihrem Namen beim besten Feinkostgeschäft in Osnabrück ein exquisites Buffet für dreißig Personen und lässt es gegen Nachnahme liefern.
Als Gregor mit knapp sechzehn den Film „Spiel mir das Lied vom Tod“ sehen möchte, muss er an der Kasse seinen Ausweis vorzeigen und wird zurückgewiesen. Das wäre seinen gleichaltrigen Mitschülern nicht passiert! Aber die anderen Jungen nehmen ihn mit, als sie nach Osnabrück fahren und dort ein Nachtlokal besuchen, in dem sich eine Striptease-Tänzerin namens Kim mit einem Staubwedel zwischen den Beinen herumfährt und eine andere, Angela, ihr Negligé an den Brustwarzen aufhängt. Im Gegensatz zu seinen gleichaltrigen Mitschülern hat Gregor auch mit siebzehn noch keine sexuellen Erfahrungen.
Mittlerweile war wohl fast jeder schon mal an Astrid darangewesen, jeder zweite an Iris und Arne sogar an Katrin. (Seite 63)
Als ihm seine Mitschülerin Ulli mit „ihrer dicken nassen Zunge in den Mund“ (Seite 63) fährt, findet er das eklig.
Er verliebt sich in Kristina Kipp-Oeljeklaus, die wie er an der Foto-AG des Gymnasiums teilnimmt. Obwohl alle behaupten, Kristina habe braune Haare, ist Gregor überzeugt, dass sie blond ist. Als er bei einer Party beobachtet, dass alle männlichen Gäste hinter Kristina her sind, rechnet er sich eine winzige Chance aus, an sie heranzukommen,
… weil’s so viele gab, weil’s viel zu viele gab, die alle dasselbe wollten, dieselbe wollten und sich gegenseitig überwachten und in die Quere gerieten und aus der Bahn balzten: damit sie wenigstens kein andrer bekam. (Seite 53)
Schließlich gelingt es ihm, Kristina zu einem Fahrrad-Ausflug zu überreden. Dabei stellt er fest, dass sie keine Zahnspange mehr trägt. Doch bevor er sie küssen kann, wird er von einer Biene in die Unterlippe gestochen.
Beim Abschlussball 1974 nutzt Kristina einen Aufruf zur Damenwahl, um mit Gregor zu tanzen. Als er sie später am Abend sucht, heißt es, dass sie hinausgegangen sei, um mit einem anderen Jungen zu knutschen.
Nach dem Abitur studiert der „realidealistische Restromantiker“ (Seite 139) Gregor Schattschneider Germanistik in Wien. Sein Freund Eckart („Ecki“) Beinhofer folgt seinem Beispiel, nachdem er mit seinen Bemühungen gescheitert ist, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden.
In Wien beginnt Gregor 1977 eine Beziehung mit der Zahnarzthelferin Tania Adametz, die zwar nicht besonders intelligent ist, aber so scharf aussieht, dass die Männer sie überall angaffen und ihr in Gaststätten Drinks spendieren. Das ist ihr lästig:
„I wü um maaner söibst wüen geliebt werdn.“ (Seite 147)
Erst bei einer Polizeikontrolle erfährt Gregor, dass Tania nicht einundzwanzig ist wie er, sondern zwei Jahre älter. Sie hält ihren Freund für einen „Spassettelmacher“ (Seite 188) und findet, er sei „hoit doch a recht a Siaßa“ (Seite 151). Wenn er sich nur nicht immer so „mariniert“ (Seite 150) ausdrücken würde!
Obwohl Gregor mit Tania liiert ist, lässt er sich auf andere Affären ein, etwa mit Felizitas Kulterer. Als sie zum ersten Mal miteinander im Bett liegen, warnt sie ihn:
„I orbat oba ohne Netz.“ (Seite 178)
Vorübergehend flieht er nach Amsterdam. Nach seiner Rückkehr sucht er vergeblich nach Tania. Frau Adametz, bei der er sich nach Tanias Verbleib erkundigt, tituliert ihn als Doktor, und als er ihr erklärt, keiner zu sein, meint sie:
„A geh hearn S‘, die Tania hat erzählt, Sie san a echte Konifere.“ (Seite 187)
Während Gregors Abwesenheit bezog Tania eine eigene Wohnung mitten in Wien. Durch Zufall findet Gregor heraus, dass sie nur ein paar Wochen beim Zahnarzt Schafmann angestellt war, aber seit zwei Jahren als Model arbeitet. Als er sie darauf anspricht, schwärmt sie:
„Stöi da vua, die mochn a Sedcard von mia!“ (Seite 195)
1979 trennt Tania sich von Gregor:
„Waaßt‘, Gregor, i bin hoit da Meinung … i bin, wia-r-i-bin … und net wie du maanst, dass i sein soit.“ (Seite 230)
Daraufhin zieht er nach Stuttgart und setzt dort sein Germanistikstudium fort.
Eckart Beinhofer schreibt aus München, man habe ihm nach Abgabe seiner Dissertation eine Assistentenstelle angeboten. Außerdem teilt er seinem Freund mit, er sei bei seinem letzten Besuch in Lengerich Kristina begegnet, und zwar in einer Filiale der „Welt-der-Erotik“, wo sie sich einen Plastik-Dildo ausgesucht habe.
Im Sommer 1984 läuft Gregor der Stewardess Katarina Bühler nach, bis diese sich auf ein Liebesverhältnis mit ihm einlässt. Mit ihrer zunehmenden Eifersucht beginnt sie ihn allerdings bald zu nerven. Als er nach dem Film „Gefährliche Liebschaften“ von Uma Thurman schwärmt, kommt es zum Streit, und im Bett weigert sich Katarina, ihre Füße an seinen zu wärmen. An seinem 33. Geburtstag behauptet sie zu wissen, dass er in eine andere Frau verliebt sei; sie spüre das.
Gregor mochte um Begründungen bitten, um Beweise, sie blieb bei ihrem schlichten Sie-wisse-das-eben-und-er-lüge-sie-sowieso-nur-an. (Seite 306)
Im Rausch lässt Gregor sich dann tatsächlich von der Metzgerei-Verkäuferin Karla verführen, die plötzlich nackt bis auf die Turnschuhe vor ihm steht und ihm die Beine um „den entsetzt beglückten Unterkörper“ (Seite 324) schlingt.
1989 beendet Katarina die Beziehung mit Gregor und zieht nach Degerloch.
Im Jahr darauf bricht Gregor sein Studium ab. 1991 nimmt er sich eine Wohnung in München. Vier Jahre später zieht er sich nach Frauenchiemsee zurück und beginnt dort, das 1974 bis 1990 angelegte Konvolut handschriftlicher Notizen für einen „Weiberroman“ zu überarbeiten. Bevor er damit fertig ist, verschwindet er Anfang 1996 plötzlich.
Im selbstgewählten Frauenchiemseer Arbeitsexil wollte Gregor Schattschneider seine Autobiografie schreiben, eine Chronik des Versagens, und, kein Zweifel, auch daran ist er gescheitert. (Seite 375)
Professor Eckart Beinhofer sichtet die 3481 Romanfragmente und stellt 487 davon zum „Weiberroman“ zusammen. Die Arbeit bleibt jedoch unvollendet, denn im Januar 1997 verschwindet auch Beinhofer spurlos.
Daraufhin betraut der Verlag den Schriftsteller M. P. mit der „historisch-kritischen Gesamtausgabe“.
Vollständige Ausgabe nach dem Text der Fragmente, wie sie von Gregor Schattschneider in seiner Pension auf Frauenchiemsee, Bayern, im Januar 1996 zurückgelassen wurden, angeordnet, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Eckart Beinhofer. Mit einer Nachschrift von M. P. (Seite 4)
Ungeachtet des Titels handelt „Weiberroman“ von Matthias Polityckiweniger von Frauen als von einem Mann und seinen gescheiterten Beziehungen. Mit „Kristina“, „Tania“ und „Katarina“ sind die drei Kapitel des Buches überschrieben. Das erste spielt zu Beginn der Siebzigerjahre in der westfälischen Stadt Lengerich und endet damit, dass Gregor Schattschneider im Alter von achtzehn Jahren sein Abitur macht. Tania ist Gregors Gefährtin von 1977 bis 1979 in Wien, wo er 1974 mit seinem Germanistikstudium begann. Ab 1979 lebt Gregor in Stuttgart. Davon – und von seiner Beziehung mit Katarina (1984 – 1989) – handelt das dritte Kapitel.
Während Matthias Politycki die Erlebnisse des Versagers schildert, lässt er im Hintergrund politische und kulturelle Ereignisse aufblitzen. Außerdem erwähnt er immer wieder Musiktitel und Utensilien aus der Zeit. Dadurch wird „Weiberroman“ zum Panorama des Lebens in der Ära von 1972 bis 1989.
Mit fast fünfzig Seiten Anhang erweckt Matthias Politycki den Eindruck, nicht er habe den „Weiberroman“ geschrieben, sondern der Protagonist Gregor Schattschneider. Er sei nur eingesprungen, nachdem sowohl der Autor als auch der eigentlich als Herausgeber vorgesehene Germanstik-Professor Eckart Beinhofer verschwanden.
Das Niveau seines Romans „Herr der Hörner“ erreicht Matthias Politycki hier zwar nicht, aber mit einem originellen Aufbau und geschliffenen Formulierungen, Tragikomik und Wortwitz sorgt er in „Weiberroman“ für ein intelligentes Lesevergnügen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Luchterhand
Matthias Politycki (kurze Biografie / Bibliografie)
Matthias Politycki: Herr der Hörner
Matthias Politycki: Jenseitsnovelle