Robert Seethaler : Ein ganzes Leben

Ein ganzes Leben
Ein ganzes Leben Originalausgabe: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München 2014 ISBN: 978-3-446-24645-4, 155 Seiten eBook: 978-3-446-24696-6
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1902 kommt Andreas Egger als ungefähr vierjähriger Waise in ein Bergdorf, wird von einem geizigen Bauern zuerst widerwillig aufgenommen und dann als Hilfskraft ausgebeutet. Als eine Seilbahn gebaut und das Dorf ans Stromnetz angeschlossen wird, erhält Egger eine Arbeitsstelle und macht einer Magd einen Heiratsantrag, aber seine Braut kommt bei einem Unglück ums Leben. Nur ein einziges Mal, im Zweiten Weltkrieg, verlässt er das Tal. Als es von Touristen entdeckt wird, verdient er sein Geld als Wanderführer. Mit 79 stirbt Egger ...
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Kritik

"Ein ganzes Leben" ist weder ein romantischer Heimatroman noch Zivilisationskritik. Robert Seethaler kondensiert das Leben des Protagonisten auf gerade einmal 150 Seiten, und zwar in ergreifenden Szenen.
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Im Sommer 1902 wird der schätzungsweise vier Jahre alte Bub Andreas Egger mit einem Pferdewagen in ein österreichisches Bergdorf gebracht. Widerwillig nimmt der Großbauer Hubert Kranzstocker den „Bankert“ seiner an Schwindsucht gestorbenen, unverheirateten Schwägerin zu sich. Der Bürgermeister stellt eine Geburtsurkunde aus, und weil er ein Geburtsdatum eintragen muss, schreibt er: 15. August 1898.

Andreas muss hart arbeiten, und sobald der Bauer mit ihm nicht zufrieden ist, züchtigt er das Kind mit einer in Wasser eingelegten Gerte. Nur die greise Mutter der Bäuerin hat hin und wieder ein freundliches Wort für Andreas übrig – bis sie beim Brotbacken ohnmächtig wird, mit dem Gesicht in den Teig kippt und erstickt.

Als der Bauer den achtjährigen Andreas wieder einmal verprügelt, bricht er ihm den Oberschenkel, und weil es zu teuer wäre, einen Arzt zu holen oder den Jungen im Spital untersuchen zu lassen, schient der Knochenrichter Alois Klammerer das Bein mit Holzlatten. Der Knochen wächst krumm zusammen. Andreas hinkt fortan und wird von anderen Kindern verspottet.

1910 richtet das Dorf eine Schule ein, und nach der Stallarbeit nimmt auch Andreas am Unterricht teil. Die beiden jüngsten Kranzstocker-Kinder sterben an Diphtherie. Daraufhin gibt es zwar für Andreas und die anderen Kinder mehr zu essen, aber sie müssen auch mehr arbeiten.

Andreas hinkt, entwickelt sich jedoch zu einem besonders kräftigen jungen Mann, und als ihn der Bauer kurz nach seinem theoretischen 18. Geburtstag erneut verprügeln will, stellt Andreas sich ihm entgegen und droht damit, ihn umzubringen, falls er die Gerte benutzen würde. Daraufhin wird er vom Hof verbannt.

Er nimmt jede Arbeit an. Mit 29 hat er so viel Geld gespart, dass er ein kleines, von Steinen übersätes Grundstück mit einem Heuschober oberhalb des Dorfes pachten kann. Dort richtet er sich ein.

Im Februar 1933 findet er den „Hörnerhannes“ genannten Ziegenhirt Johannes Kalischka sterbend in dessen Berghütte. Um ihn ins Dorf hinunterzutragen, schnallt er sich eine Holzkraxe auf den Rücken und kämpft sich durch den tiefen Schnee. Er rutscht aus, fällt hin. Da befreit sich der Hörnerhannes aus der Kraxe. Andreas Egger fordert ihn auf, wieder hineinzusteigen, aber der Ziegenhirt läuft plötzlich los, bergaufwärts. „Bleib stehen, du blöder Hund!“, ruft Egger. „Dem Tod ist noch keiner davongerannt.“ Aber der Andere hört nicht auf ihn und verschwindet im Schneegestöber.

Ohne den Hörnerhannes und die Kraxe steigt Egger das restliche Stück ab und bestellt ausnahmsweise im Wirtshaus Zum goldenen Gamser einen Krauterer, um sich zu wärmen und von dem Schreck zu erholen. Die Bedienung ist neu. Marie Reisenbacher hatte Glück: Kurz bevor sie auf der Suche nach Arbeit ins Dorf kam, hatte der Wirt die bisherige Kellnerin davongejagt, weil sie schwanger geworden war. Marie bedient nicht nur die Gäste und macht die Betten für die Saisonarbeiter, sondern versorgt auch die Hühner, arbeitet im Garten, in der Küche und hilft beim Schlachten. Der Wirt rät Egger, die Finger von ihr zu lassen und sagt: „Die Marie ist eine für die Arbeit und keine für die Liebe, verstanden?“ Aber die beiden jungen Leute treffen sich bald jeden Sonntag. Ende August zeigt Egger der jungen Frau sein Grundstück, und bald darauf küsst er sie ein erstes Mal.

Weil er glaubt, ihr ohne regelmäßiges Einkommen keinen Heiratsantrag machen zu können, bewirbt er sich bei dem vor ein paar Monaten ins Tal gekommenen Bautrupp der Firma Bittermann & Söhne, der eine Seilbahn anlegt, mit der auch die Elektrizität ins Dorf kommt. Wegen seines Hinkens will ihn der Prokurist zunächst nicht einstellen, aber Egger überzeugt ihn davon, dass er zupacken kann, und da meint der Prokurist: „Kein Alkohol, keine Hurereien, keine Gewerkschaften. Arbeitsbeginn morgen früh halb sechs!“ Egger hilft beim Holzschlagen und Errichten der Eisenträger.

Anfang Oktober fragt er seinen älteren Kollegen Thomas Mattl, wie er Marie auf besondere Weise einen Heiratsantrag machen könne. Mattl weiß Rat und legt mit 17 weiteren Männern oberhalb der Adlerkante 250 mit Sägespänen gefüllte und Petroleum getränkte Leinensäckchen aus. Andreas Egger wartet mit Marie im Tal, bis am Hang ein Schriftzug aufflammt: „FÜR DICH MARIE“: Dann fragt er sie, ob sie seine Frau werden wolle. Sie sagt ja und zieht als seine Braut zu ihm in den umgebauten Heuschober oberhalb des Dorfes.

Bei der Einweihung der von den Dorfbewohnern „Blaue Liesl“ genannten Wendenkogler Luftseilbahn stößt Egger einen Juchzer aus:

In seinem Herzen spürte er ein eigenartiges Gefühl der Weite und des Stolzes. Er fühlte sich als Teil von etwas Großem, etwas, das seine eigenen Kräfte (eingeschlossen seine Vorstellungskraft) bei weitem überstieg und das, wie er zu erkennen glaubte, nicht nur das Leben im Tal, sondern irgendwie auch die ganze Menschheit voranbringen würde.

Die „Blaue Liesl“ bleibt nicht die einzige Seilbahn in der Gegend. Die neuen Einrichtungen locken im Sommer Wanderer und im Winter Skifahrer an.

Egger und Marie verbringen glückliche Monate miteinander.

Ende März 1935 kann Egger nicht schlafen, steht auf und geht ein Stück weit von der Hütte weg. Da gerät er in eine Lawine. Mit beiden Händen kratzt und schaufelt er sich aus dem festgebackenen Schnee. Seine Beine sind kalt und fremd wie zwei Holzstücke, aber er schafft es zurück. Von der Hütte findet er nur noch Bruchstücke. Drei Tote hat das Unglück gefordert: Marie und das Altbauernpaar Simon und Hedwig Jonasser.

Auf Kosten von Bittermann & Söhne erhält Egger ein Bett im Goldenen Gamser, und weil Alois Klammerer längst gestorben ist, gipst der neue Gemeindearzt Eggers Beine ein. Im Herbst meldet Egger sich zur Arbeit zurück. Der Prokurist spricht ihm das Beileid zum Tod seiner Braut aus und fügt hinzu:

„Aber komm mir bloß nicht auf die Idee, dass das was mit den Sprengungen zu tun hat.“

Dann teilt er ihn einem Trupp zu, der Wartungsarbeiten an der „Blauen Liesl“ und anderen inzwischen in der Nachbarschaft gebauten Seilbahnen durchführt.

Anfang September 1939 erfährt Egger von einer Pensionswirtin, die ein Radio besitzt, dass der Krieg begonnen hat. Unverzüglich kehrt er ins Dorf zurück und meldet sich bei der aus einem Offizier, dem Bürgermeister und einer Schreibkraft bestehenden und am Wirtshaustisch im Goldenen Gamser sitzenden Musterungskommission. Aber der Offizier lehnt ihn wegen seines Hinkens ab. 1942 wird er dann doch noch einberufen. Zwei Monate lang harrt er irgendwo an der Front im Kaukasus aus, ohne den Zweck zu begreifen. Am 1. Januar 1943 wird er von den Russen gefangen genommen und in ein Arbeitslager bei Woroschilowgrad gebracht.

Acht Jahre verbringt er dort. Im Sommer 1951 kehrt er zurück, und die Gemeinde überlässt ihm einen Bretterverschlag hinter dem neuem Schulhaus. Die Firma Bittermann & Söhne gibt es nicht mehr; sie hatte im Krieg auf Waffenproduktion umgestellt und war 1946 in Konkurs gegangen. Die Unternehmen, die jetzt die Seilbahnen betreiben, stellen Egger nicht ein. Er lebt vom Entlassungsgeld für Kriegsheimkehrer und von Gelegenheitsarbeiten.

Einmal kommt er beim Kranzstocker-Hof vorbei und grüßt den alten Großbauern, der auf einem Melkhocker vor dem Haus sitzt. Egger hat bereits gehört, dass zwei seiner Söhne gefallen sind. Der verbitterte Alte wartet seit einem gescheiterten Selbstmordversuch nur noch auf den Tod und verflucht Gott.

In der Gaststube des Goldenen Gamser steht jetzt ein Fernsehgerät. Da fällt Egger einmal eine Frau auf, die ihm überirdisch schön vorkommt: Grace Kelly.

Inzwischen gibt es ein zweites Gasthaus im Dorf: Zum Mitterhofer. Es lohnt sich wegen der Ausflügler, Wanderer und Skifahrer.

Im Sommer 1957 begegnet Egger an einem Abhang einem älteren Ehepaar, das sich beim Wandern verlaufen hat. Nachdem er die beiden sicher ins Dorf gebracht hat, fragen sie ihn, ob er ihnen nicht in den nächsten Tagen ein paar schöne Touren zeigen wolle. So wird Egger zum Wanderführer. Die Touristen sind anfangs oft arrogant, aber das legt sich in der Regel nach zwei Stunden Aufstieg. Am Gipfel muss Egger dann aufpassen, dass die Städter nicht vor Begeisterung herumspringen und abstürzen.

Offenbar suchten die Menschen in den Bergen etwas, von dem sie glaubten, es irgendwann vor langer Zeit verloren zu haben. Er kam nie dahinter, um was es sich dabei genau handelte […].

Er war schon so lange auf der Welt, er hatte gesehen, wie sie sich veränderte und sich mit jedem Jahr schneller zu drehen schien, und es kam ihm vor, als wäre er ein Überbleibsel aus einer längst verschütteten Zeit, ein dorniges Kraut, das sich, solange es irgendwie ging, der Sonne entgegenstreckte.

Als der Gamserwirt in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre stirbt, hinterlässt er seiner einzigen, unverheirateten Tochter außer dem Wirtshaus drei Gästehäuser, mehrere Hektar Land, eine Kegelbahn und Beteiligungen an zwei Sesselliften. Damit gilt die über 40 Jahre alte Frau nun als gute Partie.

1969 verfolgt Egger die Übertragung der Mondlandung im Fernsehen.

Der Schullehrer wirft am Tag seiner Pensionierung im Jahr 1972 alle Kreidestücke aus dem Fenster und verlässt sofort das Dorf. Anna Holler, eine ebenfalls bereits pensionierte Lehrerin aus dem Nachbardorf, springt für ihn ein. Egger beschwert sich bei ihr wegen des ungewohnten Lärms der Schulkinder. Am Sonntag darauf bringt sie ihm einen Kuchen. Schließlich nimmt sie ihn mit in ihr Zimmer hinter dem Rathaus und geht mit ihm ins Bett, aber er bringt es nicht fertig, in sie einzudringen, und als kurz darauf ein neuer Lehrer eintrifft, verlässt Anna Holler das Dorf, ohne sich von Egger zu verabschieden.

Skiwanderer entdecken in einer Gletscherspalte oberhalb der Pisten eine Leiche, der ein Bein fehlt. Egger kennt den steifgefrorenen Toten, den die Männer auf einer behelfsmäßigen Trage ins Dorf bringen. Es ist der Hörnerhannes. Der muss fast 40 Jahre im Eis gelegen haben.

Seine Arme waren eng um seine Brust geschlungen, an den Händen hingen vertrocknete Fleischfetzen und die fast vollständig freiliegenden Fingerknochen waren gekrümmt wie Vogelkrallen.

Die Zahl der Dorfbewohner hat sich inzwischen verdoppelt, die der Fremdenbetten verzehnfacht. Die Gemeinde verfügt über ein Ferienzentrum mit Hallenbad und Kurgarten. Das Schulgebäude wurde vergrößert. Statt weiter Touristen zu führen, zieht Egger sich in einen vor Jahrzehnten aufgegebenen, höhlenartig in den Hang gebauten Viehstahl oberhalb des Dorfes zurück. Er ist einsam und weiß, dass sie im Dorf über ihn tuscheln, er sei verrückt, aber das macht ihm nichts aus.

Im Alter von 79 Jahren wird ihm plötzlich bewusst, dass er sein ganzes Leben in diesem Tal verbrachte und es nur ein einziges Mal verließ: im Krieg. Spontan rennt er ins Dorf hinunter und löst beim Fahrer des Postbusses eine Fahrkarte bis zur Endstation. Aber dort weiß er nicht, was er tun soll, und der Fahrer nimmt ihn dann wieder mit zurück.

Ein halbes Jahr später, im Februar des neuen Jahres, stirbt Egger an seinem Tisch.

Er hörte sein eigenes Herz. Und er lauschte der Stille, als es zu schlagen aufhörte. Geduldig wartete er auf den nächsten Herzschlag. Und als keiner mehr kam, ließ er los und starb.

Drei Tage später findet ihn der Briefträger.

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Robert Seethaler erzählt in dem Roman „Ein ganzes Leben“ von einem einfachen Mann, der 1902 als vierjähriges Waisenkind in ein Bergdorf gebracht wird und dort 75 Jahre später stirbt. Nur ein einziges Mal, im Zweiten Weltkrieg, verlässt er das Tal. Andreas Egger nimmt das Leben und dann auch das Sterben, wie es kommt, erduldet Schicksalsschläge ohne zu klagen.

Er erlebt mit, wie Berghänge abgeholzt und Seilbahnen gebaut werden. Weil für die Seilbahnen Elektrizität benötigt wird, erhält auch das Dorf einen Anschluss ans Stromnetz. Immer mehr Ausflügler, Wanderer und Skifahrer beleben den Ort, während der geizige Bauer, der Andreas in dessen Kindheit ausbeutete, nur noch verbittert auf den Tod wartet.

Offenbar geht es Robert Seethaler in „Ein ganzes Leben“ weder um eine Romantisierung des Lebens in den Bergdörfern vor der Industrialisierung noch um Kritik an der Zivilisation oder den Umweltschäden, die durch den Tourismus verursacht werden. Das Vordringen von Fremden in das Bergdorf wird eher als Chance für die Bewohner dargestellt, ihr Leben zu verbessern.

Siebzig Lebensjahre werden von Robert Seethaler auf gerade einmal 150 Seiten kondensiert. Dabei erzählt er nicht, sondern setzt eine Reihe von entscheidenden Erlebnissen des Protagonisten lebhaft in Szene. „Ein ganzes Leben“ beginnt im Februar 1933 mit einem skurrilen Vorfall. Dann springt Robert Seethaler ins Jahr 1902 zurück und fängt an, Andreas Eggers Lebensgeschichte chronologisch zu entwickeln. Symmetrisch wird die Form, indem er nach dem Tod des Protagonisten noch eine Szene hinzufügt, die sich ein halbes Jahr vorher abspielt.

Hin und wieder schrammt Robert Seethaler knapp am Alpenkitsch vorbei, aber „Ein ganzes Leben“ ist ein ebenso leiser und unspektakulärer wie ergreifender Roman. Die Lakonie und bewusste Schlichtheit, die Unaufgeregtheit und zurückgenommene Art der Darstellung spiegeln den Charakter des Protagonisten.

Den Roman „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Matthes (ISBN 978-3-86484-097-5).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Hanser Berlin

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