Steve Sem-Sandberg : Theres

Theres
Originalausgabe: Theres Albert Bonniers förlag, Stockholm 1996 Theres Übersetzung: Gisela Kosubek Klett-Cotta, Stuttgart 2012 ISBN: 978-3-608-93959-0, 391 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In zahlreichen kurzen Kapiteln kombiniert Steve Sem-Sandberg Auszüge aus Akten und Nachrichtenmeldungen mit fiktiven Passagen, von denen einige wie eine Szene aus einem Theaterstück gestaltet sind. Die Textarten sind durch unterschiedliche Schriftarten voneinander abgehoben. Quellen nennt Steve Sem-Sandberg keine. In der Collage tritt er als auktorialer Erzähler auf und orchestriert zugleich viele andere Stimmen ...
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Kritik

"Theres" ist keine narrative Biografie, sondern eine Collage. Steve Sem-Sandberg kombiniert in dem Roman Texte über Ulrike Meinhof und die RAF. Dabei spricht er nur den Intellekt des Lesers an und lässt keine Empathie aufkommen.

„Theres“ lautete der von Gudrun Ensslin für Ulrike Meinhof gewählte Spitzname. Steve Sem-Sandberg verwendet den Namen als Titel für sein Buch über Ulrike Meinhof und die RAF.

Der 1958 in Oslo geborene schwedische Schriftsteller legt keine narrative Biografie vor, sondern eine Collage aus Zitaten und eigenem Text. In zahlreichen, mitunter nicht einmal eine ganze Seite langen Kapiteln kombiniert er Auszüge aus Akten und Nachrichtenmeldungen mit fiktiven Passagen, von denen einige wie eine Szene aus einem Theaterstück gestaltet sind. Die Textarten sind durch unterschiedliche Schriftarten voneinander abgehoben. Quellen nennt Steve Sem-Sandberg keine. In der Collage tritt er als auktorialer Erzähler auf und orchestriert zugleich viele andere Stimmen: Komplizen und Weggefährten, Journalisten und Nachrichtensprecher, den Leiter des Bundeskriminalamts, Anwälte und Richter. Dass er widersprüchliche Ansichten, Fakten und Fiktion mischt, entspricht durchaus der Mythisierung Ulrike Meinhofs durch die Medien.

Es geht mir nicht darum, geschichtliche Ereignisse nachzuerzählen. Das war nie mein Ansatz. Ich verwende meine Empathie und mein Vorstellungsvermögen, um die Gemütsverfassung eines Menschen nachzuzeichnen, mich in diesen Menschen hineinzuversetzen. Mein Roman ist der Versuch, die mentale Verfasstheit, den Seelenzustand Ulrike Meinhofs nachzuvollziehen. (Steve Sem-Sandberg)

Das Kapitel „Gruppenporträt mit Baader“ ist ein Beispiel für eine fiktive Szene:

(Verbrechergalerie. Frei nach da Vincis „Nachtmahl“)
[…]
Es ist Heiligabend. Baader hat Geschenke erhalten, eingepackt in schmuddeliges Zeitungspapier. Lauter harte Sachen. Er öffnet das erste und nimmt eine Walter PPK heraus, dieselbe Waffe, mit der Ohnesorg hingerichtet wurde. Er öffnet das zweite: eine Beretta, Kaliber 9,35 (deren Aufgabe bevorsteht), legt sie neben die Walther-Pistole. Öffnet das dritte: eine Smith & Wesson 38 Spezial (ebenfalls eine Waffe, die ihre Zukunft noch vor sich hat), legt sie beiseite, nachdem er den Lauf mit einem Stück Öltuch eingefettet hat. Halfter sind auch darunter. Er reiht die Dinge hintereinander auf, sagt:
BAADER: Ich habe diese Gaben gesehen und heiße sie gut.
Öffnet das letzte Päckchen und hebt einen lebendigen Aal heraus. Der Aal windet und schlängelt sich in seiner festgeschlossenen Hand. Er beugt sich vor und schaut auf das Zeitungspapier:
BAADER: Aha, hier steht es: Die Hamburger Schauspielerin Marlene Rahn hat einen neuen Beschützer gefunden. Benno Hoffman. Hier sieht man, wie er ihr hilft, den BH auszuziehen, während sie sich mit einem lebendigen Aal verprügeln lässt. Das also ist der AAL (zeigt ihn). Meine Freunde, ich bin nicht nur der dekadenten Bürgerlichkeit auf der Spur, ich habe auch deren letzte Reliquie gefunden. Nun, wer prügelt mich damit? Sagt mir. Wer prügelt mich?
(betretenes Schweigen)

In der folgenden Textpassage denkt Steve Sem-Sandberg sich in Ulrike Meinhof hinein und tritt als auktorialer Erzähler auf:

Obwohl Ulrike in höchstem Grad eine aktive Teilnehmerin dessen ist, was sich ereignet, und sich in ihrer Eigenschaft als Sprachrohr von Baader und Ensslin in gewisser Weise im Zentrum des Geschehens befindet, verspürt sie immer mehr ein bohrendes Gefühl der Unzufriedenheit. Ihr ist, als würde sie ständig zu spät zu Plätzen gelangen, an denen wesentliche Gespräche stattfinden (Gesprächsgruppen bereits in Auflösung befindlich: Lachen und vertrautes Schulterklopfen). Dieses Gefühl, sich nicht auf gleicher Höhe zu befinden, schafft Frustration: schärft aber zugleich ihre Wachsamkeit.

Die Befreiung Andreas Baaders wird in „Theres“ zunächst szenisch dargestellt und dann noch einmal als Zitat aus einem Fahndungsaufruf:

Ulrike befindet sich bereits im Lesesaal, als der Gefangenentransporter aus Tegel eintrifft. Durch das Fenster kann sie sehen, wie Baader, an einen seiner Bewacher gekettet, hinausgeführt wird. Der andere Bewacher schließt das Auto ab und eilt voraus zum Eingang. Im Gebäude ist ein gedämpfter Summton zu hören. Ulrike sitzt da, vor sich das Totenbuch aufgeschlagen. Durchs Fenster sieht sie auch den Goldregen blühen, frisch ausgeschlagene Birken bewegen sich in einer schwachen Brise. Es ist wie im Fernsehen, denkt sie. (Die Wirklichkeit findet dort draußen statt, hier drinnen ist nichts wirklich.) […]
Denkt jetzt dasselbe, als Baader, an seinen Bewacher gefesselt, in den Lesesaal geführt wird; denkt: Die stellvertretenden Werkzeuge der Macht, gehorsame Lakaien; „Statisten“. Es wird irgendwie leichter, damit umzugehen, wenn man so an sie denkt. Sie sagt zu dem einen. Wie heißen Sie? Wetter, Günter Wetter. Sind Sie verheiratet, Herr Wetter? Ja, ich habe Frau und Kinder, zwei. Sie schließt die Augen, sagt: Ist Ihnen da niemals in den Sinn gekommen, Herr Wetter, dass Sie vielleicht ein bisschen mehr Rücksicht auf sie nehmen müssten?

Am Donnerstag, den 14. Mai, kam es gegen 11.00 Uhr anlässlich der Ausführung des Strafgefangenen ANDREAS BAADER in Berlin-Dahlem, Miquelstraße 83, zu seiner Befreiung durch mehrere bewaffnete Täter, wobei der am Institut für soziale Fragen tätige GEORG LINKE durch mehrere Pistolenschüsse lebensgefährlich verletzt wurde. Auch zwei Justizvollzugsbeamte erlitten Verletzungen. Der Beteiligung an der Tat dringend verdächtig ist die am 7. Oktober 1934 in Oldenburg geborene Journalistin ULRIKE MEINHOF, geschiedene RÖHL.

Ulrike Meinhofs geschiedener Ehemann Klaus Rainer Röhl kommt zu Wort:

(Sondersendung)
RÖHL ÜBER DIE EHE MIT MEINHOF
Was ihr gefehlt hat, war nicht Selbstvertrauen, sondern eine grundlegende Geborgenheit hier im Leben …

Die Festnahme Ulrike Meinhofs wird in einer fiktiven Bühnenszene gespiegelt:

Herrn „Herolds“ Büro in der Wiesbadener Thaerstraße. Das Licht bleibt, obgleich die Dunkelheit dort draußen andauert. Der „Adjutant“ klopft an der Tür und gibt sich durch seine Stimme zu erkennen.
„A“: Es scheint, als ob man jemanden gefasst hat.
„H“: Wer?
„A“: Die Polizei in Hannover.
„H“: Ich meine, wer ist es?
„A“: Das ist noch unklar. Eine Frau um die vierzig. Bewaffnet, anscheinend auch mit Handgranaten ausgerüstet. Die Polizei vermutet, dass es Meinhof sein könnte.
„H“: Und wieso?
„A“: Die Röntgenaufnahmen von Frau Meinhofs Gehirnoperation sind in der Handtasche der Festgenommenen gefunden worden. Ich war mit einem gewissen Severin in Kontakt, der meinte, es gäbe nur eine einzige Methode, die Identität der Festgenommenen zu sichern.
„H“: Den Schädel zu röntgen.
„A“: Das ist außerhalb des regulären …
„H“: Ich weiß.
„A“: Und was soll ich Severin sagen?
„H“: Sagen Sie, er soll die Operation zu Ende führen. Und … Herr Leutnant?
„A“: Ja?
„H“: Vergewissern Sie sich, dass auch ich eine Kopie erhalte.

Beim folgenden Dialog handelt es sich vermutlich um die Niederschrift einer Tonaufnahme aus dem Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim:

Will die Angeklagte Frau Meinhof so freundlich sein und sich erheben?
Ich erhebe mich nicht für ein Arschloch wie Sie.
Entschuldigung, was haben Sie gesagt? Können Sie so freundlich sein und der Deutlichkeit halber ins Mikrofon sprechen?
Ich erhebe mich nicht für ein Arschloch wie Sie.
Kann ich das ins Protokoll aufnehmen? Dass Sie den Vorsitzenden des Gerichts ein Arschloch genannt haben?

Ein faschistisches Arschloch.
Entschuldigung? Sprechen Sie ins Mikrofon.
Ein faschistisches Arschloch.
Kann ich das ins Protokoll aufnehmen lassen? Dass die Angeklagte Frau Meinhof das Vertrauen des Gerichts missbraucht, indem sie dessen Vorsitzenden ein faschistisches Arschloch nennt.

Ich nehme es zurück.
Sprechen Sie ins Mikrofon!
Ich nehme es zurück.
Eine Null ist das richtige Wort.

Frau Meinhof …?
Eine verdammte faschistische Scheißnull!

Dazu noch einmal der Erzähler Steve Sem-Sandberg:

Einer der wenigen, die sich allen Ernstes für den Gesundheitszustand der Terroristen interessieren, ist ironischerweise jener Mann, der nichts lieber sähe, als dass sie von der Erdoberfläche wegradiert würden. Von seinem Stammheim aus, nach all der technischen Ausrüstung zu urteilen, im selben Maße Isolationszelle wie Verbindungszentrale und Aufnahmestudio, folgt Herold aufmerksam dem Katz- und Mausspiel der Verteidigung mit der Staatsanwaltschaft.

Steve Sem-Sandberg spürt in „Theres“ nicht nur der Terroristin Ulrike Meinhof nach, sondern auch der verwaisten Jugendlichen, der engagierten Journalistin, der Mutter von Zwillingen. Dabei spricht er nur den Intellekt des Lesers an und lässt keine Empathie aufkommen.

Doch im Buch ist es das Interesse eines Präparators am von anderen erjagten Objekt: Die Leidenschaft beschränkt sich aufs möglichst authentische Bewahren von etwas längst Totem. Das Leben der Ulrike Meinhof gerinnt bei ihm ebenso zur klassifizierten Psychose wie die Tätigkeit ihrer Häscher, unter denen Horst Herold die Rolle eines charakterlich ganz ähnlich deformierten Jägers einnimmt – aber das ist für ein deutsches Publikum natürlich nichts Neues. (Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. September 2012)

Die Originalausgabe des Romans „Theres“ erschien 1996. Das erst 2012 ins Deutsche übersetzte Buch ist der erste Teil einer „deutschen Trilogie“, die Steve Sem-Sandberg mit „Allt förgängligt är bara en bild“ (das heißt: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis) und „Ravensbrück“ fortsetzte. Jeder der drei Bände dreht sich um eine Frauengestalt: Ulrike Meinhof, Lou Andreas-Salomé und Kafkas im KZ Ravensbrück ermordete Freundin Milena Jesenská.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Ulrike Meinhof (kurze Biografie)
Andreas Baader (kurze Biografie)
Gudrun Ensslin (kurze Biografie)
Horst Herold (kurze Biografie)
RAF, Baader-Meinhof-Bande

Margriet de Moor - Mélodie d'amour
Unter dem Titel "Mélodie d'amour" hat Margriet de Moor vier Erzählun­gen zu einem Roman zusammen­gefasst, in dem sie das Thema Liebe variiert und veranschaulicht, dass der Verstand die mit der Liebe ver­bundenen Leidenschaften nicht zu bändigen vermag.
Mélodie d’amour