Uwe Tellkamp : Der Eisvogel
Inhaltsangabe
Kritik
Wiggo ist eines von drei Kindern des Bankdirektors Stefan Ritter und dessen Ehefrau. Außer seiner Zwillingsschwester Dorothea hat er noch eine ältere Schwester mit Namen Oda.
Während die Familie in Nizza lebt, wo Stefan Ritter eine Bank leitet, verliebt Wiggo sich in die Schneiderin Jeanne, doch als er seinen Vater mit ihr in flagranti ertappt und hört, wie sie ihrem Liebhaber von der Schwärmerei seines Sohnes erzählt, verbrennt er seine Anzüge und Hemden.
Oda macht eine erfolgreiche Karriere im Bankgeschäft, bewohnt ein Loft in London und zieht später aus beruflichen Gründen mit ihrem Ehemann Ansgar nach New York. Dorothea wird Ärztin und lebt mit ihrem Freund Patrick Grammarté zusammen in Berlin. Wiggo studiert zum Entsetzen seines Vaters Philosophie:
Ein Philosoph willst du sein, wovon gedenkst du da zu leben, vom Taxifahren? Tellerwaschen? Von der Barmherzigkeit einer Frau, die doof genug ist, dich zu lieben und zu heiraten? (Seite 118)
Stefan Ritter hält seinen Sohn für einen Versager und prahlt damit, dass er 1968 Pflastersteine geworfen habe und inzwischen eine Spitzenposition bekleide.
Wir waren keine Spießer, falls du das denkst, mein Sohn, hatten auch unseren Spaß; aber ihr, eure Generation, ihr kommt mir ehrlich gesagt vor wie ein Haufen schlaffer Säcke, könnt weder richtig einen draufmachen noch richtig malochen, jeder Puster haut euch gleich um! (Seite 12)
Er drängt seinen Sohn, einen Job in der Bank anzunehmen, aber Wiggo will auf keinen Fall so werden wie sein Vater. Um Wiggo aus der Lethargie herauszureißen, bittet Stefan Ritter seine Assistentin und Geliebte Ines t’Hooft, ihn zu verführen und eine Weile mit ihm zu schlafen. Dafür verschafft er ihr einen lukrativen Job in Singapur.
Vater hatte Recht, ich war ein Versager, hatte nichts zustande gebracht, ich war dreißig und hatte nichts von dem zu bieten, was Menschen in meinem Alter in diesen Breiten gemeinhin zu bieten haben. Ich hatte keinen Beruf, der mich ernährte, keine Frau, keine Familie, keine erkennbare Perspektive. (Seite 223)
Nachdem Stefan Ritter sich scheiden ließ und ein zweites Mal heiratete, schläft Wiggo einmal mit seiner Stiefmutter Gabi, und zwar als ihre Brüste nach der Geburt seines Halbbruders noch geschwollen sind.
In Berlin, wo Wiggo bei Prof. Leo Hertwig über Thomas Morus promoviert, besucht er eines Tages den Entomologie-Professor Hans Kaltmeister. In dessen Villa fällt ihm ein Gemälde auf, das einen Eisvogel zeigt.
Nach einer alten griechischen Sage wurde Alkyone von Zeus in einen Eisvogel verwandelt. Alcedo atthis. Alkyone. (Seite 186)
Er lernt auch einen Neffen des Professors kennen: den Juristen Mauritz Kaltmeister, der in einer Anwaltssozietät beschäftigt ist und sich über seinen auf die Staatenbildung von Insekten spezialisierten Onkel ärgert:
„Warum studiert er statt des Termitennests nicht ein Menschennest wie Berlin oder New York?“ (Seite 96)
Mauritz achtet peinlich auf Sauberkeit.
Er wechselte seine Unterwäsche täglich zweimal, weniges hasste er so wie Schmutz und Unreinheit. (Seite 82)
Seine Schwester Manuela lebt in München. Herbert und Fritzi Kaltmeister, die Eltern des Geschwisterpaares, kamen bei einer Entführung durch Terroristen ums Leben. Wiggo befreundet sich mit Mauritz und verliebt sich in Manuela. Einmal zwingt Manuela Wiggo halb im Ernst, halb im Scherz mit vorgehaltener Pistole, sich aufs Bett zu legen und fesselt ihn. Während sie es miteinander treiben, bemerkt Wiggo, dass Mauritz sich ins Zimmer geschlichen hat und ihnen zusieht.
Bei einer U-Bahnfahrt in Berlin erlebt Wiggo, wie Skinheads einsteigen und ein ausländisches Paar anpöbeln. Mauritz bleibt ganz ruhig, schlägt aber blitzschnell den Anführer der Skinheads krankenhausreif und schickt auch noch einen zweiten Angreifer zu Boden.
Mauritz ist überzeugt, dass die verkommene Gesellschaft mit Gewalt zum Positiven verändert werden müsse, und während er Wiggo als Theoretiker akzeptiert, hält er sich selbst für einen Tatmenschen.
Es gibt keine Veränderung ohne Zwang, und was wir jetzt haben, ist ein Herumdoktern an Symptomen, aber keine wirkliche Therapie, das geht nicht an die Wurzeln, das bessert nichts grundsätzlich. (Seite 107)
[…] wir müssen zerstören, Wiggo, um dem Neuen den Weg zu ebnen, alles ist verstopft, dicht, ermattet, ermüdet, die Gesellschaft verkalkt, sieh es dir doch an, was haben wir denn hier, eine Sozietät reformunfähiger Rentner, Vergreisung überall, es müssen die Museen niedergebrannt werden, Wiggo, damit die nachfolgenden Generationen Platz haben und Luft zum Atmen, es muss wieder Unschuld geben und Neubeginn, wir müssen zerstören, um aufbauen zu können […] (Seite 108)
Eines Tages führt Mauritz seinen neuen Freund bei der Geheimorganisation „Wiedergeburt“ ein, die auf einen elitären Ordens- und Kastenstaat in Deutschland hinarbeitet.
Das Volk ist niemals frei, es will gar nicht frei sein. Freiheit ist nur etwas für solche, die damit umgehen können. Für eine Elite. (Seite 112)
Zu den führenden Mitgliedern zählen Hildegard Freifrau von Usar, ein Bischof und einige Unternehmer wie der Schnapsfabrikant Edgar Lothmann. Mauritz gibt sich jedoch mit den Aktivitäten der Organisation „Wiedergeburt“ nicht zufrieden und gründet deshalb die radikale Untergruppe „Cassiopeia“.
Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, wirklich und nachhaltig etwas zu verändern, ist der organisierte Terror. (Seite 151)
Als Wiggo seinen Philosophie-Professor provoziert, bis dieser ihn hinauswirft, verlangt Mauritz von ihm, Leo Hertwig in dessen Wohnung zu überfallen und ihm eine Haarlocke abzuschneiden. Damit soll er sich rächen, und die Tat soll zugleich seine Initiation für die Geheimorganisation sein. Wiggo dringt zwar mit einem vom Mauritz besorgten Nachschlüssel in Hertwigs Wohnung ein und versteckt sich dort, aber er bringt es nicht fertig, dem Überlebenden von Auschwitz etwas anzutun und schleicht sich unbemerkt wieder davon. (Später stellt sich heraus, dass Hertwig von 1998 bis 2000 der Organisation „Wiedergeburt“ angehört hatte, dann aber wegen unterschiedlicher Auffassungen ausgeschieden war.)
Wiggo lässt sich in einem Ausbildungslager der Organisation paramilitärisch trainieren.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Mauritz scheint eines Tages, als er betrunken ist, aufgeben zu wollen.
Nichts kann man ändern, Schwesterchen. Es ist sinnlos, etwas ändern zu wollen. Mein Irrtum war, dass man nicht schwatzen, sondern handeln müsse … Aber man kann nicht handeln. Man muss schwatzen. Wer handeln will in dieser Gesellschaft, wird über kurz oder lang zugrunde gehen. (Seite 316)
Doch dann bereitet er einen Brandanschlag auf das KaDeWe in Berlin vor. In einer stillgelegten Eierteigwaren-Fabrik zündet er einen Sprengsatz. Obwohl die Einrichtung brennt, hält er seine Schwester fest und drückt ihr den Lauf einer Pistole an die Schläfe. Wiggo fordert Mauritz auf, Manuela loszulassen und richtet die Pistole, die er vor einiger Zeit von ihm bekam, auf ihn. Manuela gelingt es, sich loszureißen. Mauritz zielt auf sie, doch bevor er abdrücken kann, schießt Wiggo.
Zwei Schüsse, flach und scharf, sehr schnell hintereinander schmetternde Detonationen, Echos, in einen einzigen Knall gejagt in der Lautstärke von Hammerschlägen, die mit aller Kraft gegen ein frei hängendes Blech donnern, dann widerspricht die Erinnerung, schneidet ein Stück Zeit heraus und dehnt es quälend: Mauritz senkte den Kopf, als die erste Kugel ihn in die Brust traf, die Wunde war ein pfenniggroßer Punkt neben dem Brustbein, der sich langsam ausbreitete, langsam, wie Mauritz den Kopf hob, um mich anzustarren, überrascht, grenzenlos überrascht, mit einem sonderbar freimütigen, fast erleichterten Ausdruck im Gesicht, als ich zum zweiten Mal abdrückte, der zweite Schuss traf ihn unter dem Auge und zerriss sein Gesicht […] (Seite 7)
Nachdem Wiggo Mauritz erschossen hat, rennt er mit Manuela durch die Feuerwand ins Freie, stößt sie in eine mit Regenwasser gefüllte Wanne und verliert das Bewusstsein.
In der Charité kommt er wieder zu sich und erfährt, dass Manuela auf der Intensivstation einer anderen Klinik in Berlin liegt. Der mit Wiggo befreundete Arzt Jost Fortner kümmert sich um ihn. Die schweren Brandwunden werden mit Hauttransplantaten abgedeckt.
Noch im Krankenbett bespricht Wiggo in einem Diktiergerät eine Kassette nach der anderen, um seinem Verteidiger zu erklären, wie es zu den tödlichen Schüssen auf Mauritz kam.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In dem Roman „Der Eisvogel“ geht es um einen Bankierssohn, der auf keinen Fall so werden will wie sein Vater, jedoch als Philosoph scheitert und in seiner Orientierungslosigkeit einem Geschwisterpaar verfällt, das Deutschland in eine elitäre Kastengesellschaft verwandeln will. Mit den radikalen politischen Ansichten setzen sich weder der Protagonist noch der Autor ernsthaft auseinander; die angestrebte Revolution von rechts erweist sich einfach nur als Irrweg.
Eindrucksvoller als der Inhalt ist die Form des Romans: Uwe Tellkamp beginnt „Der Eisvogel“ mit zwei Schüssen und inszeniert die Szene wie bei einer Zeitlupenaufnahme in einem Film. Danach liegt der Protagonist Wiggo Ritter mit schweren Brandverletzungen in der Charité in Berlin und versucht, seinem Verteidiger – der nicht als Figur auftritt – über ein Diktiergerät zu erklären, wie es zu den Schüssen kam. In diesen Text eingestreut lesen wir Passagen aus mehreren Zeugenaussagen, alles in der Ich-Form. Der gesamte Roman ist also gewissermaßen wörtliche Rede, wobei Sprecher und Episoden teilweise mitten im Satz wechseln, ohne dass wir als Leser die Orientierung verlieren. Uwe Tellkamp füttert uns häppchenweise mit Interesse weckenden Informationen und schafft auf diese Weise Spannung.
Uwe Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren. Nach dem Medizinstudium in Leipzig, New York und Dresden arbeitete er als Unfallchirurg in einer Münchner Klinik. Im Jahr 2000 veröffentlichte der Verlag Faber & Faber in Leipzig seinen Debütroman: „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café“. Davon seien gerade mal so viele Exemplare verkauft worden wie das Buch Seiten hat, behauptet Uwe Tellkamp: 163. Das Manuskript für den Roman „Der Eisvogel“ bot er zwei Jahre lang vergeblich an. Erst als Jaroslaw Piwowarski, der damalige Herausgeber der Literaturzeitschrift „Edit“ in Leipzig, darauf aufmerksam wurde und es dem Rowohlt-Verlag empfahl, fand Uwe Tellkamp einen Verlag.
2004 wurde Uwe Tellkamp mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 / 2008
Textauszüge: © Rowohlt-Berlin Verlag
Uwe Tellkamp: Der Turm