William Trevor : Die Geschichte der Lucy Gault

Die Geschichte der Lucy Gault
Originalausgabe: The Story of Lucy Gault Viking/Penguin, London 2002 Die Geschichte der Lucy Gault Übersetzung: Brigitte Jakobeit Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003 Taschenbuch: dtv, München 2006 ISBN 3-423-13472-0, 303 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nach einem Brandanschlag auf sein Haus in Irland entschließt sich Captain Gault, der mit einer Engländerin verheiratet ist, sein Land zu verlassen. Als sie abreisen wollen, ist ihre neunjährige Tochter Lucy verschwunden. Die Umstände deuten darauf hin, dass sie tot ist, und die Eltern fahren ohne sie ab ...
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Kritik

Die konservativ und ausführlich erzählte "Geschichte der Lucy Gault" vermittelt durch seine Redundanz den gleichförmigen, eintönigen Lebenslauf Lucys und ihrer Eltern. Andeutungen ermöglichen dem Leser eigene Interpretationen.
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Captain Everard Gault lebt mit seiner dreißigjährigen Frau Heloise und dem Töchterchen Lucy auf dem Landgut Lahardane in Süd-Irland. Eines Nachts versuchen drei Männer das Haus der Familie in Brand zu setzen. Das Vorhaben kann der Hausherr gerade noch verhindern, indem er auf einen der Eindringlinge schießt und ihn an der Schulter verletzt. Der Brandanschlag fanatischer Patrioten sollte in den politischen Wirren Irlands der Zwanzigerjahre eine Warnung sein, dass Engländer nicht mehr gerne gesehen werden. Everard Gaults englische Vorfahren waren zwar schon vor Jahrhunderten nach Irland gekommen, aber seine Frau ist Engländerin. Da mit weiteren Attentaten zu rechnen ist, entschließen sich die Eheleute, das Land zu verlassen. Alle Vorbereitungen sind getroffen und die Abreise ist organisiert – nur Lucy ist nirgends aufzufinden. Sie hatte schon angedeutet, dass sie nicht von Lahardane weggehen wolle.

Die neun Jahre alte Lucy wird überall gesucht, bleibt aber unauffindbar. Nach ein paar Tagen sind die Eltern davon überzeugt, dass ihr Kind tot ist; und sie entschließen sich letztendlich zur Abreise.

Henry, ein Bediensteter der Gaults, der sich um die Landwirtschaft, die Kühe und zusammen mit seiner Frau Bridget um das Haus kümmert, stößt dann zufällig auf ein vermeintliches Bündel Kleider. Es ist Lucy, verletzt, verwahrlost und ausgehungert.

Bevor sie von zu Hause ausgerissen war, hatte sie heimlich einige Lebensmittel beiseite geschafft und zusammen mit einem alten Mantel ihrer Mutter in Körbe gepackt. Auf ihrer Flucht durchs Gebüsch stolperte sie über eine Wurzel und verletzte sich am Knöchel, sodass sie kaum weiterlaufen konnte. Sie schleppte sich in ein verfallenes Haus, wo sie sich tagelang versteckte.

Der zur Hilfe gerufene Arzt befürchtet, dass die inzwischen stark angeschwollene Fraktur am Bein schlecht verheilt und Lucy womöglich später hinken wird. Mit Mr Sullivan, dem langjährigen Anwalt Captain Gaults wird vereinbart, dass Henry und Bridget nicht in das Pförtnerhaus umziehen werden, sondern im herrschaftlichen Anwesen bleiben sollen, um sich um Lucy kümmern.

Das Ehepaar Gault ist auf dem Weg nach England und beschließt noch im Zug, nicht in die in Sussex gemietete Villa einzuziehen; der Ort scheint ihnen nicht weit genug entfernt zu sein. Sie reisen weiter nach Frankreich, wo sie ein paar Nächte bleiben und verweilen einige Zeit in Basel. – Das von Henry nach Sussex geschickte Telegramm „Lucy lebend im Wald gefunden“ kommt also bei Lucys Eltern nicht an.

Everard und Heloise Gault lassen sich in einem Städtchen in Italien nieder. Captain Gault schreibt immer wieder ein paar Zeilen für Lahardane, frankiert den Umschlag, schickt aber die Briefe nie ab. Heloise – sie ist jetzt Mitte dreißig – und ihr Mann haben sich nun endgültig im Exil eingerichtet und wünschen sich, noch ein Kind zu bekommen. Die Tage gestalten sich jedoch recht eintönig und trotz fürsorglicher Bemühungen ihres Ehemanns wird Heloise von Tag zu Tag schwermütiger. Die beiden können nicht wissen, dass sich ihr Anwalt Sullivan verzweifelt bemüht, ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Auch ein von ihm beauftragter Privatdetektiv bleibt erfolglos.

Umsorgt von Bridget und Henry, wächst Lucy in Lahardane auf. In der Schule wird sie wegen der außergewöhnlichen Geschichte, die über ihre Familie und sie erzählt wird, als Außenseiterin behandelt. Aufgrund des schlecht verheilten Knochenbruchs am Bein hinkt sie tatsächlich ein wenig. Nach Abschluß der Schule kümmert sie sich um die Bienenstöcke, liest viel und fühlt sich auch nicht einsam. Lucy – sie ist inzwischen einundzwanzig – macht sich keine Gedanken über ihre Lage und nimmt die Situation hin, so wie sie ist. Inzwischen geht man davon aus, dass Captain Gault und seiner Frau etwas zugestoßen ist und man deshalb nichts von ihnen hört.

Im Sommer verfährt sich ein junger Mann mit seinem Auto und landet versehentlich auf dem Hof von Lahardane. Ralph ist der Sohn eines Sägewerkbesitzers, gibt in den Ferien aber den Söhnen einer wohlhabenden Familie Nachhilfeuntericht. Er wohnt bei ihnen im Haus und darf hin und wieder deren Auto benutzen. Als Ralph auf dem Anwesen Lucy entdeckt, ist er sofort von ihr begeistert. Auch Lucy fühlt sich zu ihm hingezogen. Ralph besucht sie öfter; es entwickelt sich eine schüchterne Romanze, er gesteht ihr seine Liebe und verspricht ihr, sie zu heiraten. Dann wird Ralph zum Kriegsdienst eingezogen. Durch die Briefe, die Lucy in großen Abständen aus Europa und Afrika von ihm erhält, wird ihr bewusst, dass ihr Verhältnis im Laufe des langen Getrenntseins an Intensität verloren hat. Und sie sieht sich mittlerweile darin bestärkt, dass sie Ralph wegen ihres unheilvollen Schicksals nicht an sich binden darf. (Einige Jahre später erfährt sie aus der Zeitung, dass Ralph eine andere Frau heiraten wird.)

Indessen fühlen sich Captain Gault und seine Frau unter der Regierung Mussolinis in Italien nicht mehr sicher. Sie gehen wieder in die Schweiz, aus der sie vor siebzehn Jahre gekommen waren. In Bellinzona finden sie eine Wohnung. Dort erkrankt Heloise an einer schweren Grippe. Der Arzt befürchtet, dass ihre Depression, die sich im Lauf der Jahre verschlimmerte, eine Heilung der Influenza ungünstig beeinflussen könnte. Einen Monat nach Beginn der Krankheit stirbt Heloise. Everard lässt sie in der Schweiz begraben.

Der Captain hält es in Bellinzona nicht mehr aus. Von Unruhe getrieben reist er in mehrere Länder Europas. Auch die ein, zwei Frauenbekanntschaften, die er macht, heitern ihn nicht auf. Bei Erkundigungen nach seinem Bruder erfährt er von dessen Tod in Indien. Der fast Siebzigjährige sieht sich also allein auf der Welt.

Eines Tages steht er plötzlich im Hof von Lahardane. Lucy erkennt ihn nicht. Die Annäherung zwischen Vater und Tochter gestaltet sich schwierig und nur zögernd finden sie Zugang zueinander. Manchmal machen sie zusammen einen Ausflug, und der Captain erzählt Lucy hin und wieder von ihrer Mutter.

Bridget verständigt eines Nachmittags Lucy von dem Besuch eines Mannes bei ihrem Vater. Lucy legt etwas Puder auf und putzt sich besonders hübsch heraus. Als sie den Tee für den Gast hereinbringt ist sie enttäuscht, nicht Ralph vorzufinden, wie sie geglaubt hatte. Stattdessen sitzt dort ein verschüchteter, unscheinbarer Mann: Es ist Horahan.

Horahan war dabei, als damals der Brandanschlag auf das Anwesen der Gaults verübt wurde, und derjenige, auf den der Captain geschossen hatte. Horahan kommt seither wegen seines Vergehens mit sich nicht mehr ins Reine. Seine Gewissensbisse führten zu einem religiösen Wahn. Auch als er sich beim Militär meldete, weil er meinte, damit Abbitte zu leisten, fand er keinen Frieden. Von seinen Kameraden wurde er ausgelacht und so steigerte er sich mehr und mehr in seine Hirngespinste.

Was Horahans Besuch bei Captain Gault bezwecken soll, wird nicht ganz klar. Jedenfalls entschuldigt er sich für den Vorfall vor etwa dreißig Jahren. Es sei nur ein „Versehen“ gewesen.

An ihrem neununddreißigsten Geburtstag ist Lucy mit ihrem Vater im Kino. Ein paar Wochen später kümmern sie sich um die Familiengräber, und der Captain regt an, das Grab von Heloise in der Schweiz zu besuchen. Ob sie ihn begleiten würde? Aber dazu kommt es nicht mehr. Ein paar Stunden später stirbt Captain Gault friedlich.

Lucy folgt dem Wunsch ihres Vaters und fährt nach Bellinzona zum Grab ihrer Mutter. Auch das Haus in dem italienischen Städtchen, in dem ihre Eltern lange Zeit gewohnt hatten, sieht sie sich an. Um die Vergangenheit abzuschließen, liest sie noch einmal alle Briefe Ralphs, rollt sie in eine unvollendete Stickarbeit ein und verknotet diese.

Seit Lucy weiß, dass Horahan in einer Irrenanstalt ist, besucht sie ihn dort regelmäßig. Er spricht zwar nicht mit ihr, aber sie spielen zusammen Brettspiele. Lucy achtet nicht darauf, dass die Leute über ihre Besuche bei ihm reden – siebzehn Jahre insgesamt geht sie hin. Und trotz des Getuschels nimmt sie dann auch an Horahans Begräbnis teil.

Weil Bridget und Henry inzwischen alte Leute sind, denen die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht, hilft Lucy immer mehr im Haus mit. Bridget kommt eines Tages nicht mehr aus dem ersten Stock herunter, sodass Henry mit Lucy allein ist. Für die Stickarbeiten mit den von ihr selbst entworfenen Motiven hat sie keine Lust mehr. Hin und wieder kommen zwei Nonnen, um mit ihr Tee zu trinken und ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Ansonsten gehen die Tage einer wie der andere vorbei.

Sie hätte als Kind sterben sollen; davon ist sie überzeugt, aber sie hat es nie zu den Nonnen gesagt, hat in ihrer Geschichte nie von den Tagen erzählt, die sich anfühlten wie Jahre, als sie zwischen den eingestürzten Steinen lag. Es hätte ihre Stimmung gedrückt, obwohl es ihre eigene hebt, denn es ist besser, diese Erinnerung zu haben als gar nichts. (Seite 302)

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Die unbesonnene Handlung einer Neunjährigen bewirkt einen Wendepunkt im Leben sowohl des Mädchens als auch seiner Eltern. Für einen am Brandanschlag Beteiligten hat das ebenfalls Folgen. Außerdem spielen Zufälle und unvorhersehbare Ereignisse eine Rolle bei der Entwicklung ihrer Lebenswege.

Es war Zufall und nicht Zorn, der das Schicksal der Gaults in diesem Sommer bestimmt hatte. (Seite 52)

Wer es gern ausführlich hat, kommt bei der konservativ erzählten „Geschichte der Lucy Gault“ auf seine Rechnung. Die Redundanz bringt aber auch die Gleichförmigkeit und den eintönigen Verlauf des Alltags in Lucys Leben zum Ausdruck. Sie hat keine Verantwortung für irgendwen oder irgendetwas, keinen wirklichen Kummer, aber auch keine richtige Freude. Selbstvorwürfe verbieten es ihr, das Heiratsangebot, wenn es denn letztlich noch ernst gemeint war, anzunehmen.

Ihr erneutes Beharren, dass Ralph sein Leben nicht an sie und ihr trauriges Schicksal verschwenden dürfe, war so schmerzhaft wie immer. (Seite 185)

Erstmals als sie den bei seinem Anschlag auf die Familie Gault von ihrem Vater verletzten, inzwischen geisteskranken Horahan regelmäßig in der Anstalt besucht, hat sie von sich aus eine Aufgabe übernommen, die noch nicht einmal auf allgemeine Zustimmung stößt.

Wie gesagt, „Die Geschichte der Lucy Gault“ ist recht breit erzählt, andererseits werden die politischen Verhältnisse in Irland und deren Auswirkungen nur gestreift. Außerdem sind alle möglichen Nebenfiguren eingeführt, die weder für den Fortgang der Handlung wichtig noch als Charaktere interessant sind. Freude macht hingegen die feine Ironie, mit der angedeutet wird, dass Mrs Gault wahrscheinlich ein Alkoholproblem hat: „Wollen wir den Wein heute Abend ein bisschen früher öffnen, fragte Heloise dann.“ Und dass ein Anstaltsangestellter Horahan ausführlich vormacht, wie man ein Rasiermesser schärft, ist wohl ein Hinweis auf das bald darauf stattfindende Begräbnis Horahans, von dem man nicht erfahren hat, woran er gestorben ist. Die zurückhaltende Beschreibung der Emotionen lässt ebenfalls Raum für persönliche Auslegungen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2007
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

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