Mario Vargas Llosa : Wer hat Palomino Molero umgebracht?

Wer hat Palomino Molero umgebracht?
Originalausgabe: Quién mató a Palomino Molero? Seix Barral, Barcelona 1986 Wer hat Palomino Molero umgebracht? Übersetzung: Elke Wehr Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1988 ISBN: 3-518-40140-8, 202 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 1990 ISBN: 3-518-38286-1, 202 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Palomino Molero, ein Rekrut, den man auch als Bolerosänger kennt, und die Tochter eines Obersts verlieben sich und wollen heimlich heiraten. So eine Mesalliance kommt für den patriarchalischen Kommandanten nicht in Frage. – Bei der Suche nach dem Mörder des jungen Soldaten, dessen Leiche grausam verstümmelt gefunden wird, stoßen die zwei ermittelnden Polizisten nicht nur bei den militärischen Behörden auf Granit ...
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Kritik

Obwohl es in dem Buch um die Aufklärung eines Mordfalls geht, liest sich die Geschichte nicht wie ein Kriminalroman im herkömmlichen Sinn. Die differenzierte Beschreibung der Charaktere macht die Erzählung farbig und abwechslungsreich.
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Ein Ziegenhirte meldet der Polizei den Fund der entsetzlich zugerichteten Leiche eines jungen Mannes. Einen derart barbarisch verübten Mord hat der Gendarm Lituma bisher noch nicht gesehen.

Vor oder nach seinem Tod hatte man ihn mit grenzenloser Wut zusammengeschlagen: seine Nase und sein Mund waren aufgeplatzt, Blutgerinnsel, blaue Flecken, tiefe Risse in der Haut und Verbrennungen von Zigaretten bedeckten seinen Körper, und als wäre das noch nicht genug, […] hatte man auch versucht, ihn zu kastrieren, denn die Hoden hingen ihm bis auf die Innenseite der Oberschenkel herab. Er war barfuß, nackt vom Gürtel abwärts und nur mit einem zerfetzten Unterhemd bekleidet.

Außerdem steckt ein Stock in seinem Anus, und Fliegen umschwirren den der Hitze ausgesetzten Körper. Der Ermordete ist der achtzehnjährige Palomino Molero, Soldat bei der Luftwaffe in Piura. Der braunhäutige, hübsche Junge konnte zu seiner Gitarre so herzbewegend Bolerolieder singen, was ihn allseits beliebt machte.

Die Einwohner des peruanischen Ortes Talara beschweren sich, dass bei der Aufklärung des Mordfalles nichts vorangeht. Leutnant Silva von der Polizeistation ärgert sich darüber hinaus, weil er von der Luftwaffenbehörde keine Unterstützung bekommt. Diese beansprucht, den Fall allein aufzuklären, und es soll so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit dringen.

Die Polizeibeamten von Talara versuchen deshalb auf eigene Faust, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Sie befragen Doña Asunta, die Mutter Palominos, und erfahren, dass ihrem Sohn wegen seiner schönen Stimme eine Musikerkarriere offengestanden wäre. Als der einzige lebende Sohn der verwitweten Mutter hätte er keinen Militärdienst leisten müssen, aber er meldete sich freiwillig beim Luftstützpunkt. Darüber wunderte sich Doña Asunta. Dass Palominos Gitarre verschwunden ist, macht sie misstrauisch: „Die Leute, die seine Gitarre haben, haben ihn auch umgebracht.“

Palomino wurde von den Weißen, den Gringos, zu Auftritten bei Festen und in Clubs engagiert. Die Mädchen himmelten den schüchternen Romantiker an, und ein Freund erinnert sich, dass Palomino andeutete, wegen einer nicht erfüllbaren Liebe unglücklich zu sein.

Trotz der unkooperativen Haltung der Militärbehörde besteht Leutnant Silva darauf, nochmals beim Kommandanten vorstellig zu werden. Missmutig werden er und seine Kollegen von Oberst Mindreau empfangen. Nach dem Besuch der Polizisten vor drei Tagen bei ihm habe er ihnen ein Memorandum zukommen lassen, erinnert er sie. Dem sei zu entnehmen, dass der Rekrut Palomino Molero Sanchez in der Nacht vom 23. auf den 24. März vom Stützpunkt verschwand. Als er sich nach einem freien Tag nicht zurückmeldete, wurde er zum Deserteur erklärt. Der Oberst beendet das Gespräch mit der Bemerkung, in der Sache nicht weiter behilflich sein zu können. Silva erdreistet sich dennoch darauf hinzuweisen, dass sich Palomino möglicherweise genötigt sah, die Stadt zu verlassen, „weil es eine Frage von Leben und Tod für ihn war“, wie er seiner Mutter sagte. Darauf geht Oberst Mindreau nicht ein, und den Einwand des Leutnants, dass der junge Rekrut einer Angebeteten auf dem Luftstützpunkt heimlich Ständchen gegeben habe, weist der Kommandant entrüstet zurück. Außerdem betont er noch einmal – „da Sie es anscheinend beim letzten Mal nicht begriffen haben“ –, dass einzig und allein Einrichtungen der Streitkräfte die Untersuchungen durchführen.

Während des Gesprächs der Männer stürmt grußlos ein Mädchen ins Zimmer, das ebenso schlecht gelaunt wirkt wie der Oberst, ihr Vater. Ob der Chauffeur sie nun ins Schwimmbad bringen könne, verlangt sie forsch. „Aber natürlich, mein Töchterchen“, gurrt der Alte wie umgewandelt.

Den Polizisten wird zugetragen, dass seit ein paar Abenden ein Fliegerleutnant im Bordell von Talara randaliert. Als sie die Bar dort aufsuchen, beobachten sie den alkoholisierten Offizier, der auf die Theke geklettert ist, Zuhälter und Kunden provoziert und sie auffordert, die Hosen ausziehen. Er selbst löst seinen Gürtel, und die herunterrutschende Hose wickelt sich um seine Füße. Beim Versuch sich loszustrampeln, stürzt er auf die Tanzfläche und fällt in die Scherben der Flasche, die er in der Hand hatte. Silva und Lituma führen ihn ins Freie und versuchen, aus dem Betrunkenen herauszubekommen, was mit Palomino Molero geschah. Er leugnet, etwas zu wissen und beleidigt die Polizisten aufs Übelste. Auf die Frage, warum er so maßlos trinke, antwortet er:

„Ich besaufe mich, weil dieses Dreckschwein mir das Herz gebrochen hat. Er lässt mich nicht mein Mädchen sehen! Er hat mir verboten, sie zu sehen. Und sie will mich auch nicht sehen […] Glaubst du, er hat das Recht zu einer solchen Sauerei?“

Mit „Dreckschwein“ meint Ricardo Dufó – so heißt der Fliegerleutnant – den Oberst. Dieser ließ ihn glauben, dass er seine Tochter heiraten könne. Und nun will er nichts mehr davon wissen. Der unglücklich Verliebte flucht gleich noch weiter. Das Mädchen sei „auch der größte Dreck“, sie tue nur, was „das Monstrum“ befiehlt.

Obwohl sich der Fliegerleutnant mehrmals übergeben muss, bedrängt Silva ihn nochmals mit Fragen wegen Palomino Molero. Was mit Palomino passiert sei, sagt Dufó, habe er sich selber eingebrockt. Er musste dafür büßen, dass er sich in Kreise gewagt hatte, in die ein windiger Bolerosänger nicht gehört. Dem Offizier ist aber nicht zu entlocken, wem Palomino seine Ständchen brachte und warum dieser sich veranlasst sah, den Fliegerstützpunkt zu verlassen.

Die Männer hören Geräusche hinter sich. Im Nu sind sie von Polizisten der Luftwaffe umringt. Sie kommen, um Leutnant Dufó mitzunehmen. Befehl vom Oberst!

Als Lituma und sein Chef in ihr Polizeirevier zurückgehen, finden sie einen fehlerfrei, in eleganter Schrift beschriebenen Zettel an der Türe: „Die Mörder von Palomino Molero haben ihn aus dem Haus von Doña Lupe geholt, in Amotape. Sie weiß, was passiert ist. Fragen Sie sie.“

Doña Lupe ist eine alte ungepflegte Frau. Die Witwe, die mit ihren sechs Kindern in einer verwahrlosten Hütte haust, verdient sich etwas Geld, indem sie einfache Gerichte zubereitet und verkauft. Sie fürchtet sich vor den Polizisten aus Talara und rückt erst nach einiger Zeit mit ihrer Geschichte heraus. Sie traue sich eigentlich nicht, etwas zu sagen, jammert sie, denn sie sei von den Männern, die die zwei jungen Leute wegbrachten, die bei ihr Unterschlupf gesucht hatten, mit vorgehaltenem Revolver bedroht worden. Man werde sie umbringen, sagten sie, falls sie etwas verraten würde.

Palomino Molero und Alicia Mindreau, die Tochter des Kommandanten, waren mit der Absicht nach Amotape geflüchtet, sich dort von dem örtlichen Priester trauen zu lassen. Dieser war aber verreist. Sie hielten sich zwei Tage in der heruntergekommenen Absteige auf und konnten in ihrer Verliebtheit gar nicht genug voneinander kriegen. Dann fuhr ein Jeep der Luftwaffenpolizei vor. Alicia drängte Palomino, zu fliehen, aber dazu war er nicht bereit. Er glaubte, man müsse ihre Liebe akzeptieren, nachdem sie zwei Nächte wie Mann und Frau miteinander verbracht hatten.

Die zwei uniformierten Männer aus dem Jeep forderten das Paar auf, mitzukommen. Alicia drohte, sich umzubringen, wenn ihrem Geliebten auch nur ein Haar gekrümmt werde. Der ältere der beiden Offiziere versuchte, das Mädchen zu beruhigen: „Mein Töchterchen“, sagte er, „wie kannst du mir nur mit so etwas drohen. Schau nur, ich reiche deinem Freund die Hand und verzeihe ihm.“ Die Angelegenheit sei nun unter Männern geregelt, die Sache somit ausgestanden. Man könne nun wohl wegfahren, sagte der Ältere. Alicia weigerte sich mitzugehen und versuchte, ihren Liebhaber ebenfalls davon abzuhalten. Palomino aber meinte, sie hätten nichts zu befürchten, wenn man bedenke, „wer der eine ist“.

Ob der eine Offizier den anderen mit Leutnant Dufó angesprochen habe, fragt Lituma die verängstigte Doña Lupe, und ob der Ältere als Herr Oberst betitelt worden sei? Die Alte kann sich nicht erinnern. Als das junge Paar im Jeep verschwand, sagt sie, sei sie verzweifelt gewesen und habe nicht gewusst, was sie tun sollte.

Die Polizisten aus Talara können nur vermuten, dass Mindreau und Dufó die Entführer waren. Lituma glaubt jetzt zu wissen, warum sich der Junge freiwillig beim Luftstützpunkt gemeldet hat: Um in der Nähe des Mädchens zu sein, das er liebte.

Silva macht der korpulenten Wirtin Doña Adriana fortwährend den Hof und ist davon besessen, von ihr erhört zu werden. Sie badet gerne im Meer. Um sie dabei zu beobachten, verstecken Silva und Lituma sich an dem von ihr bevorzugten Badeplatz. Der liebestolle Tölpel gibt seine schlüpfrigen Kommentare zu der üppigen Figur seiner Angehimmelten zum Besten und bemerkt nicht, dass sich hinter ihm und Lituma schon eine Weile ein Mädchen aufhält. Sie habe alle Ferkeleien gehört, beschimpft das Mädchen den Leutnant, widerlich sei das. Dieser versucht, die junge Frau einzuschüchtern: Es sei gefährlich, die Beamten bei ihrer behördlichen Arbeit zu überraschen; wie leicht hätte er einen Schuss abgeben können, als er sich umdrehte. Sie lacht ihn nur aus: Arbeit soll das sein, wenn man Frauen beim Baden beobachtet! „Sie sind nicht nur ein Ferkel, Sie missbrauchen auch noch Ihre Amtsgewalt“, wirft sie ihm vor. Als Silva und Lituma in dem Mädchen die Tochter des Obersts erkennen, können sie ihre Autorität nicht mehr ausspielen.

Es scheint als sei Alicias Verstimmung verflogen, doch es dauert nicht lange, dann wirft sie den Polizisten vor, sie hätten die Situation ausgenutzt, als Ricardo neulich nachts betrunken war, und ihn zum Reden gebracht. Ihr Papa wisse sowohl davon, wie er auch über ihre Erkundigungen in Amotape informiert sei. Die Siebzehnjährige (oder ist sie schon achtzehn?) hört sich nicht so an, als ob sie drohen wolle, findet Lituma, ihr Tonfall kommt ihm eher vor, als amüsiere sie sich innerlich und wolle sie verspotten. Dann gehen sie miteinander den Hügel hinunter in Richtung Polizeistation. Die Señorita möchte zur Aufklärung des Verbrechens beitragen.

Auf die Frage Silvas, wie sie Palomino Molero eingeschätzt habe, antwortet Alicia, dass er eine Seele von Mensch gewesen sei. Außerdem habe er so schön singen und himmlisch Gitarre spielen können. Die Gitarre sei wohl gestohlen worden, meint Lituma. Das sei ein großer Kummer von Palominos Mutter, die das Instrument gerne zurückhaben würde. Da gibt Alicia zu, die Gitarre zu haben.

Doña Asunta sei wohl eine Chola, vermutet das Mädchen. Aber Palomino machte überhaupt nicht den Eindruck eines Mestizen, sein Haar war fein und blond, und er war der wohlerzogenste Junge, den man sich vorstellen kann. Da können selbst Ricardo und ihr Vater nicht mithalten.

Alicia und Palomino lernten sich auf einer Geburtstagsfeier einer Freundin von Alicia kennen, die den Bolerosänger für das Fest engagiert hatte. Sie erinnert sich, dass er ihr drei Lieder widmete und mit ihr tanzte. Gleich beim ersten Tanz gestand er ihr, dass er sich in sie verliebt habe und sie bis zu seinem Tod lieben werde, auch dann, wenn sie ihn nicht beachten und wie einen Hund behandeln würde. Er werde ihr jeden Tag ein Ständchen bringen, versprach er ihr, damit auch sie sich in ihn verliebe. Alicia berichtet dies alles so emotionslos, als hätte sie mit der tragischen Geschichte nichts zu tun.

Als Silva sie fragt, ob sie sich am Ende in Palomino verliebt habe, nachdem er ihr dann tatsächlich mehrere Tage hintereinander Ständchen vor ihrem Haus brachte, antwortet das Mädchen: „Ich weiß es nicht“. Wie kann man nicht wissen, ob man sich verliebt hat, das will dem Gendarm nicht einleuchten. Sie sei wohl ein bisschen übergeschnappt oder spiele absichtlich die Dumme, überlegt er.

Als sie auf der Polizeistation ankommen, verhält sie sich seltsam. Hat sie etwas zu verbergen oder leidet sie doch und kann es nicht zeigen? Unvermittelt fragt sie, ob ihr Papa ins Gefängnis müsse oder man ihn gar erschießen werde. Weshalb sollte ihm etwas passieren, besänftigt Silva sie. Aber Ricardo Dufó könnte es übel ergehen. Wenn ihr eifersüchtiger Freund jedoch beweisen kann, dass er „mit Palomino gemacht hat, was er mit ihm gemacht hat“, dann wird man ihn für den Zeitpunkt des Verbrechens für unzurechnungsfähig erklären. Mit einem guten Anwalt sollte das möglich sein, da brauche sie sich keine Sorgen zu machen.

„Ich mache mir keine Sorgen“, murmelte das Mädchen. „Ich hasse ihn. Ich wünsche ihm die Pest an den Hals. Ich sage es ihm die ganze Zeit ins Gesicht. Einmal ist er weggegangen und mit seinem Revolver wiedergekommen. Er hat zu mir gesagt: ‚So drückt man ab, hier. Nimm ihn. Wenn du mich wirklich so hasst, dann verdiene ich es, dass du mich umbringst‘ […]“

Leutnant Silva versichert ihr, dass er ihr nicht zutraue, jemanden umzubringen.

Zusammenfassend rekapituliert er: Um den Schein zu wahren, diente Ricardo Dufó, Alicias „offizieller Freund“, als Vorwand, damit Mindreau von der Liebesbeziehung zu Palomino nichts merkte. Als Ricardo dies begriff, nahm er aus Eifersucht Rache an seinem Rivalen. Halb wahnsinnig vor Angst gestand er Alicia, ihren Geliebten umgebracht zu haben. Als sie ihn demütigte und abwies, kam er mit dem Revolver und forderte sie auf, ihn umzubringen. Darüber hinaus verbot ihm der Oberst, seine Tochter wiederzusehen, denn ein Mörder als Schwiegersohn war natürlich genauso wenig vorzeigbar wie ein dunkelhäutiger Bolerosänger aus einfachen Verhältnissen. – Die Señorita möge ihn korrigieren, wenn er sich geirrt habe, bittet Leutnant Silva.

Alicia lacht höhnisch. Er habe sich allerdings geirrt: Wer ihr den Revolver brachte und sagte, sie solle ihn umbringen, war ihr Papa. Der Gerechtigkeit halber müsse man ihn einsperren, aber das traue sich ja keiner. „Dann ist es also nicht Dufó, dem Sie die Pest an den Hals wünschen, sondern …“. Leutnant Silva wagt es nicht, den Satz zu beenden. Alicia nickt.

„Er fällt auf die Knie wie ein Hund und küsst mir die Füße“, hörte er [Silva] sie ausrufen, mit einer Stimme, die von einem dieser urplötzlichen Wutausbrüche verändert war. „Liebe kennt keine Grenzen, sagt er. Die Welt würde das nicht verstehen. Die Stimme des Blutes, sagt er. Liebe ist Liebe, eine Lawine, die alles mit sich fortreißt. Wenn er das sagt, wenn er diese Sachen macht, wenn er weint und mich um Verzeihung bittet, hasse ich ihn. Dann wünsche ich ihm die Pest an den Hals.“

Silva glaubt nun auch zu wissen, dass der anonyme Hinweis, in Amotape bei Doña Lupe nachzufragen, von Alicia stammt.

Ich gehe jetzt, sagt Alicia. Papa wird mich bestimmt schon überall suchen lassen, weil er glaubt, dass ich wieder durchbrennen will.

In ihrer kleinen Stimme, die erneut verwandelt war, entdeckte Lituma jenen kecken, spöttischen Ton, das Sympathischste oder am wenigsten Unsympathische an ihr; wenn sie so sprach, dann schien sie wirklich das zu sein, was sie war, ein kleines Mädchen, und nicht, wie vor einem Augenblick noch, eine erwachsene, schreckliche Frau mit einem Kindergesicht und einem Kinderkörper.

Die Einheimischen in Talara werden schon ungeduldig, weil es im Mordfall Molero immer noch keine verlässlichen Erkenntnisse gibt. Als die Polizisten am Morgen in ihr Revier kommen, finden sie eine Gitarre an die Tür gelehnt. Lituma vermutet, dass Alicia sie brachte.

Sie nehmen das Instrument mit an den Strand, und Silva klimpert darauf herum. Der Gendarm schlägt gerade vor, es der Mutter Palominos demnächst zurückzugeben, als sie merken, dass sie nicht alleine sind. Oberst Mindreau steht hinter ihnen. Mit der Bemerkung, Silva sei wohl ein besserer Polizist als Gitarrespieler, macht sich der Kommandant bemerkbar, habe er doch in knapp drei Wochen den Mord „an diesem Deserteur“ aufgeklärt. Ob der Leutnant zur Belohnung eine Beförderung erwarte, fragt Mindreau. Er rechne nicht damit, sagt Silva, vielmehr befürchte er, dass seine Ermittlungen in diesem Mordfall seiner beruflichen Zukunft eher schaden werden. Der Kommandant fragt, ob Silva sicher sei, den Fall definitiv aufgeklärt zu haben. Ein paar Einzelheiten seien noch im Ungewissen, gibt dieser zu, aber es bestehe wohl kein Zweifel bei den drei entscheidenden Fragen: „Von wem er umgebracht wurde. Wie er umgebracht wurde. Warum er umgebracht wurde.“ Der Oberst bestätigt, dass er Silvas offiziellen Bericht kennt, was den Leutnant hoffen lässt, dass auch Mindreau den Fall als abgeschlossen ansieht. Der Kommandant hat aber immer noch Bedenken, „denn wie die Dinge im Augenblick liegen, hängt dies von ganz oben ab, nicht von mir“.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Der Oberst fragt Leutnant Silva übergangslos, ob seine Tochter erwähnt habe, dass sie von ihm missbraucht worden sei. Silva stottert herum: nicht ausdrücklich, nur andeutungsweise, sie gab aber zu verstehen, „dass sie für Sie nicht eine Tochter, sondern eine Frau war, Herr Oberst“. Jetzt gerät der Kommandant völlig aus der Fassung.

„Hat sie Ihnen auch gesagt, dass ich ihr die Füße geküsst habe? Dass ich mich auf den Boden geworfen habe, nachdem ich sie missbraucht hatte, und sie um Verzeihung angefleht habe?“, sagte Oberst Mindreau. Er stellte keine Fragen, sondern er bestätigte etwas, dessen er sich sicher zu sein schien. […] „Dass ich, vor Reue wahnsinnig, ihr den Revolver gereicht habe, damit sie mich umbringt?“ fuhr der Oberst unverdrossen fort. Er hatte die Stimme gesenkt. Er wirkte müde und sehr weit weg.

Der Leutnant fragt ihn, ob er sich schlecht fühle. Ohne darauf einzugehen, fährt der Oberst fort:

„Im Englischen heißt das Wort ‚delusions‘. […] Im Spanischen gibt es kein Äquivalent. Denn ‚delusions‘ heißt zugleich Illusion, Phantasie und Täuschung oder Betrug. Eine Illusion, die eine Täuschung ist. Eine vorsätzliche, betrügerische Phantasie.“

Mindreau verkaufte das Haus seiner Eltern, opferte seine ganzen Ersparnisse und verpfändete seine Ruhestandspension, um seine Tochter nach New York zu Spezialärzten bringen zu können. Es ging darum, das Mädchen zu retten, und auch mich, begründet der Oberst seine Entscheidung. Die Ärzte stellten als Diagnose: „delusions“. Diese Krankheit ist unheilbar, sie dauert solange an wie die Ursache fortbesteht, die sie hervorruft. Und die Ursache bin ich, sagt der Oberst. Die Ärzte erklärten ihm, dass Alicia ihn für den Tod ihrer Mutter verantwortlich macht, die sie nicht gekannt hat. Sie denkt sich die gemeinsten Sachen gegen ihn aus und erzählt überall, dass er sie missbrauche und quäle. Er müsse sich aber auf noch Schlimmeres gefasst machen, warnten ihn die Psychiater.

„Denn später, wenn sie heranwächst, wird sie Sie beschuldigen, sie umbringen zu wollen, sie zu vergewaltigen, sie vergewaltigen zu lassen. Sie wird Sie der schrecklichsten Dinge beschuldigen. Und sie wird nicht einmal merken, dass sie alles erfindet und dass sie lügt. Denn sie glaubt und lebt ihre Lügen ganz genauso, als wären sie Wahrheit.“

Der Leutnant versucht eine Erklärung zu finden, warum Palomino derartig blindwütig umgebracht wurde. Könne der Oberst diese besessene Raserei verstehen? Die Angelegenheit sei aus dem Ruder gelaufen, sagt er, das Verhalten Dufós unbegreiflich. Der Befehl lautete: ein Schuss in den Kopf und eine diskrete Beerdigung. Diese unnötige Schlächterei hätte er ihm nicht zugetraut. Alkohol, Verachtung und Demütigung ließen den abgeblitzten Liebhaber wohl zum Sadisten werden. Er selbst sei nicht dabei gewesen, erklärt der Oberst, weil er Dufó die Chance habe geben wollen, seinen verletzten Stolz wiederherzustellen. Er war auch von der Erbarmungslosigkeit der Untergebenen Dufós überrascht, die bei der Tat dabei waren. Die Soldaten waren immerhin Kameraden Palominos. Aber wahrscheinlich stecke in jedem Menschen eine gewisse Brutalität, die in den unteren Klassen, bei den cholos, wohl häufiger anzutreffen sei.

„Ich bereue nichts, wenn es das ist was Sie wissen wollen. Hat man je erlebt, dass ein gemeiner Soldat die Tochter des Kommandanten seines Stützpunktes entführt und vergewaltigt? Aber ich hätte die Sache rasch und sauber erledigt. Ein Genickschuss und Schluss.“

Silva vergewissert sich, dass er richtig gehört hat. Dass die beiden jungen Leute durchgebrannt sind, ist eine Tatsache; Alicia habe von sich aus gesagt, dass sie sich liebten und geheiratet hätten, wenn der Priester in Amotape anwesend gewesen wäre. Was soll da eine Vergewaltigung sein? Nun wird der Oberst ärgerlich. Wie oft soll er es denn noch erklären: Alles verlogene Phantasien, delusions eben. Er hatte versucht, auch Palomino Molero verständlich zu machen, dass dieses Mädchen nicht das ist, wofür er es hielt. Entweder Palomino unterlasse es, sich ihr weiterhin zu nähern, legte der Oberst ihm nahe, oder er werde seine Dreistigkeit mit dem Leben bezahlen. Von Mann zu Mann sprach er mit ihm, um ihm Gelegenheit zu geben, sich wie ein Ehrenmann zu verhalten, was er natürlich nicht war. Palomino versicherte, von Alicia abzulassen und nichts von ihrer Krankheit geahnt zu haben.

„Und in der gleichen Nacht hat der verlogene kleine Cholo sie entführt und sie missbraucht. […] Nein, mein Junge, meine Tochter, dieses kranke Kind, kann mich erpressen, soviel sie will, sie kann mir alle Niederträchtigkeiten antun, und ich habe keine andere Wahl, als dieses Kreuz auf mich zu nehmen, das Gott mir aufgeladen hat. Sie ja, denn ich … Aber du nicht, armer Tropf.“

Warum durfte aber Ricardo Dufó der Freund Alicias sein, fragt Silva. Weil der nicht irgendein Hergelaufener aus dem Ort ist, sondern ein Offizier aus guter Familie, und vor allem, „weil er charakterschwach und ein Dummkopf ist“, ereifert sich Mindreau, und er sich mit dem armen Teufel Ricardo zusammen weiterhin um sie hätte kümmern können, so wie er es Alicias Mutter auf dem Sterbebett geschworen hatte.

Der Oberst beendet abrupt das Gespräch; er habe jetzt keine Lust mehr, weiter über seine Familie zu sprechen. Beim Leutnant bedankt er sich, dass er die Angelegenheit nicht in dem Polizeibericht erwähnte. Ob er damit den Missbrauchsvorwurf seiner Tochter meine, vergewissert sich Silva. Es gehe dabei nicht um ihn, sagt Mindreau, sondern es sei wegen des Kindes. Er könne sich schon die dreckigen Schlagzeilen in den Zeitungen vorstellen, wenn etwas davon bekannt würde. „Eine Minderjährige muss immer vor einem Skandal geschützt werden. Um jeden Preis.“ Silva gibt zu bedenken, dass es von seiner Tochter abhängt, was an die Öffentlichkeit gelangt; man wird sie verfolgen und bedrängen, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Wäre es vielleicht nicht besser, sie wegen ihrer Krankheit in eine Klinik oder ins Ausland zu bringen? Ohne darauf einzugehen, verabschiedet sich der Oberst und macht darauf aufmerksam, dass er am Polizeiposten einen Brief hinterließ, weil er nicht wusste, ob er sie hier antreffen würde.

Im Weggehen sehen die Beamten den Oberst am Meer stehen. Dann hören sie einen Knall. Lituma kann nicht glauben, dass sein Vorgesetzter nicht sofort nachsehen will, ob Mindreau sich etwas angetan hat. Es werde sich herausstellen, ob es so sei; vielleicht beantworte sich die Frage von selbst, wenn sie die hinterlassene Mitteilung des Oberst fänden, meint Silva. Als dieser dann die Nachricht gelesen hat, flucht er: „Er hat nicht nur sich umgebracht, Lituma. Das Schwein hat auch das Mädchen umgebracht.“ Lituma will sofort im Haus des Obersts nachsehen, was mit Alicia geschehen ist. Aber Silva rät ihm, einstweilen nichts zu tun, bis jemand ihn mit der Nachricht dieser beiden Todesfälle wecken kommt.

Im Ort wird gerätselt, was mit Oberst Mindreau geschehen ist. Alle möglichen Gerüchte gehen um. Lituma berichtet seinem Vorgesetzten:

„Das Tollste an der ganzen Geschichte ist, dass niemand glaubt, dass Oberst Mindreau zuerst das Mädchen und dann sich selbst umgebracht hat […] Sie erzählen den letzten Schwachsinn, Herr Leutnant. Dass es ein Verbrechen wegen Schmuggels war, wegen Spionage, dass Ecuador seine Hand im Spiel hatte. Und sogar, dass es wegen irgendwelcher Schwulengeschichten war. Stellen Sie sich diese Dummheit vor.“

Unbeeindruckt von dem Resümee, rückt Leutnant Silva mit einer Ankündigung heraus: „Schlechte Nachrichten für dich, Lituma.“ Sie haben dich „auf eine Art Gespensterposten“ nach Junín versetzt. Er selbst soll auch versetzt werden, möglicherweise ebenfalls dorthin. Dann muss das ja das Ende der Welt sein, spottet der Gendarm. Silva wirft Lituma vor, dass er so versessen darauf war, den Fall aufzuklären. Und das haben sie jetzt davon! Lituma wird in die Sierra geschickt, und er landet wahrscheinlich in einer noch unwirtlicheren Gegend. „Das ist der Dank für die gute Arbeit der Gendarmerie, in die du so blöd warst einzutreten.“

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Obwohl es in „Wer hat Palomino Molero umgebracht?“ um die Aufklärung eines Mordfalls geht, liest sich die Geschichte nicht wie ein Kriminalroman im herkömmlichen Sinn. Durch die differenzierte Beschreibung der Charaktere wird die Erzählung farbig und lebendig.

Da ist der selbstbewusste, mit Kraftausdrücken nicht sparende Leutnant Silva, der seine Vernehmungen routiniert durchführt. Allerdings macht er sich mit seiner obsessiven Manie lächerlich, mit der er einer verheirateten Wirtin nachstellt. Der Gendarm Lituma ist zwar nicht so routiniert wie Silva, aber mit seinem gesunden Menschenverstand ist er seinem Vorgesetzten ein guter Assistent. Die beiden Polizisten indianischer Herkunft haben dem autoritären Oberst Mindreau gegenüber einen schlechten Stand. Als Weißer und aufgrund seines militärischen Status lässt er sie seine Überheblichkeit spüren. Seine psychisch kranke Tochter Alicia, die er abgöttisch liebt, bekommt sein patriarchalisches Gebaren über Gebühr zu spüren.

Palomino Molera verliebt sich in Alicia und meldet sich freiwillig bei der Luftwaffe, um in ihrer Nähe zu sein. Als der junge Mestize, der auch als Bolerosänger auftritt, und Alicia durchbrennen, weil sie heimlich heiraten wollen, schaltet sich der Oberst ein. Um eine unstandesgemäße Verbindung seiner Tochter zu verhindern, scheut er nicht davor zurück, einen von ihm bevorzugten Verehrer Alicias in ein Verbrechen zu involvieren.

Mario Vargas Llosa schreibt in weiten Teilen in Dialogform. Das liest sich unterhaltsam und wirkt lebensnah.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2011
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Mario Vargas Llosa (Kurzbiografie)

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Philip Roth - Mein Mann, der Kommunist
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