Margaret Atwood : Katzenauge

Katzenauge
Cat's Eye Doubleday, New York 1989 Katzenauge Übersetzung: Charlotte Franke S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1990 ISBN 978-3-10-001104-6, 491 Seiten Neuausgabe Piper Verlag, München / Berlin / Zürich 2017 ISBN 978-3-492-31117-5, 508 Seiten ISBN 978-3-492-97078-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin Elaine wird als Kind von Mitschülerinnen gemobbt, aber vor dem Wechsel zur Highschool ändert sich das Kräfteverhältnis und Elaine erweist sich ihrer Herausforderin Cordelia nun als überlegen. Sie entwickelt sich zu einer selbstbewussten Malerin, während sich zugleich die Gesellschaft unter dem Einfluss des Feminismus und anderer Strömungen verändert.
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Kritik

Margaret Atwood entfaltet das Geschehen in "Katzenauge" nicht chronologisch, sondern aus einer Rahmenhandlung und Erinnerungen der Ich-Erzählerin. Vor allem wenn Elaine sich in ihre Kindheit zurückversetzt, beobachtet sie zwar mit der Wissbegierde eines Kindes, unterscheidet aber nicht zwischen Bedeutendem und Belanglosem.
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Die Familie

Der Vater ist Insektenforscher. Im Sommer zieht er mit seiner Frau, dem Sohn Stephen und der Tochter Elaine durch den Norden Kanadas.

Während des ganzen Essens redet er von den Ringelspinnern: wie viele es sind, wie geschickt sie sind, welche verschiedenen Methoden es gibt, sie zu bekämpfen. Es ist falsch, sie mit DDT und anderen Insektiziden zu besprühen, sagt er. Das vergiftet nur die Vögel, die ihre natürlichen Feinde sind, während sie selbst, da sie ja Insekten und daher erfinderisch sind, sogar erfinderischer als die Menschen selbst, eben einfach gegen die Sprühmittel resistent werden, sodass am Ende nichts anderes herauskommt als tote Vögel und immer mehr Ringelspinner. Er arbeitet an etwas anderem: einem Wachstumshormon, das ihr System durcheinanderbringt und sie dazu verführt, sich zu verpuppen, bevor es Zeit ist. Vorzeitiges Altern. Aber wenn er zu Wetten neigte, sagt er, dann würde er sein Geld auf die Insekten setzen. Insekten sind älter als Menschen, sie haben mehr Erfahrung im Überleben, und es gibt von ihnen sehr viel mehr, als es Menschen gibt. Und außerdem werden wir uns wahrscheinlich sowieso noch vor Ende dieses Jahrhunderts mit der Atombombe in die Luft jagen, so wie sich die Dinge entwickeln. Die Zukunft gehört den Insekten.

Schließlich richtet sich die Familie in einem Haus auf einer Schlammwüste in Toronto ein.

Unser Haus sieht aus wie nach einem Krieg übrig geblieben: drumherum Schutt, Verheerung.

Unser Vater hat einen neuen Beruf. Das erklärt alles. Er forscht jetzt nicht mehr nach Insekten im Wald, sondern er ist Universitätsprofessor.

Elaine und Stephen können nun auch zur Schule gehen.

Länger als drei oder vier Monate hintereinander sind wir sowieso noch nie in die Schule gegangen.

[…] ich habe noch nie eine Freundin gehabt, weil wir nirgends lange genug bleiben.

Grundschule

In der Queen Mary Public School freundet sich Elaine mit der gleichaltrigen Carol Campbell an, die wiederum mit der ein Jahr älteren Grace Smeath befreundet ist. Nach den Sommerferien kommt eine neue Klassenkameradin von Grace dazu: Cordelia.

Cordelia wohnt ein Stückchen weiter östlich als ich, in einem der Häuser, die noch nicht einmal so alt sind wie unseres, mit der gleichen aufgewühlten Erde ringsherum. Aber ihr Haus ist kein Bungalow, es hat zwei Stockwerke. Im Erdgeschoss hat es ein Esszimmer, das durch einen Vorhang vom Wohnzimmer getrennt ist. Man kann ihn zurückziehen, um beide Zimmer in einen einzigen großen Raum zu verwandeln. Sie haben ein Bad ohne Badewanne, das Gästetoilette genannt wird.

Cordelias Mutter hat eine Putzfrau. Sie ist die einzige von unseren Müttern, die eine hat.

Cordelias ältere Schwestern heißen Perdita und Miranda, werden aber Perdie und Mirrie gerufen, anders als Cordelia, die nicht mit Cordie, sondern mit ihrem vollen Namen angesprochen werden möchte.

Mrs Smeath fordert Elaine auf, sonntags mit in die Kirche zu kommen. Elaine, die noch nie an einer Messe teilnahm, weil ihre Eltern Atheisten sind, lässt sich dazu überreden. Zufällig hört Elaine einmal, wie Mrs Smeath und deren Schwester Mildred sie als „Heidin“ bezeichnen.

„Was kann man erwarten bei der Familie, aus der sie kommt?“, sagt Mrs Smeath.

Als die beiden Frauen merken, dass Elaine hört, was sie sagen, ist es ihnen nicht einmal peinlich.

Während vor allem Cordelia viele Kleider besitzt, hat Elaine nur ein Kleid für den Sommer und eines für den Winter. Ebenso wie ihre Eltern und ihr Bruder bevorzugt sie praktische und bequeme Kleidungsstücke. Sie trägt keine Röcke, sondern Hosen und ist es nicht gewohnt, darauf zu achten, dass die Beine beim Sitzen geschlossen bleiben.

Cordelia, Grace und Carol kritisieren Elaine fortwährend und behaupten, ihr helfen zu wollen, „besser“ zu werden. Dabei denken sie sich immer neue „Strafen“ für sie aus. Elaine findet das schlimm, ohne zu erkennen, dass es sich um Mobbing einer Außenseiterin handelt, aber sie möchte die Freundinnen nicht verlieren.

Ich habe kein blaues Auge, keine blutige Nase: Meinem Körper tut Cordelia ja nichts. Wenn es Jungen wären, die einen verfolgen oder ärgern, würde [der zwei Jahre ältere Bruder Stephen] wissen, was zu tun ist, aber Jungen tun mir nichts. Gegen Mädchen und ihre indirekten Methoden, gegen ihr Geflüster, wäre er hilflos.
Außerdem schäme ich mich. Ich habe Angst, dass er mich auslacht, dass er mich verachtet, weil ich feige bin und mich vor einem Haufen Mädchen fürchte, weil ich mich wegen nichts aufrege.

Mrs Finestein, eine Nachbarin, fragt Elaine, ob sie bereit wäre, ihren kleinen Sohn Brian einmal in der Woche eine Stunde lang im Kinderwagen herumzufahren und bietet ihr dafür Geld. Elaine tut das gern, aber sie hört bald wieder damit auf, denn Grace weist darauf hin, dass Finestein ein jüdischer Name sei, beschimpft das Kind als „Itzig“, und Elaine befürchtet, dass ihre Freundinnen dem kleinen Jungen etwas antun könnten.

Ich sage Mrs Finestein, dass ich nicht mehr kommen kann, weil ich zu viele Hausaufgaben habe. Den wahren Grund kann ich ihr nicht sagen: dass Brian auf eine unklare, dunkle Weise bei mir nicht sicher ist.

Mit knapp elf Jahren findet Elaine heraus, wie sie absichtlich ohnmächtig werden kann. Das hilft ihr.

Als Cordelia mir das nächste Mal befiehlt, mich an die Wand zu stellen, falle ich wieder in Ohnmacht. Ich kann es jetzt fast immer, wenn ich will.

Ich bin jetzt als das Mädchen bekannt, das in Ohnmacht fällt.
„Sie tut es absichtlich“, sagt Cordelia. „Na, mach schon, zeig uns doch mal, wie du ohnmächtig wirst. Na, los. Du sollst ohnmächtig werden.“ Aber wenn sie es mir sagt, kann ich es nicht.

Die Wende

Es ist noch Winter, als Cordelia auf dem Heimweg von der Schule hinfällt und glaubt, Elaine habe über sie gelacht. Zur Strafe reißt sie ihr die Mütze vom Kopf und wirft sie von der Brücke, die sie auf ihrem Weg überqueren, in die Schlucht.

Ich will nicht da runtergehen. Es ist verboten und gefährlich; außerdem ist es dunkel, und der Hang ist bestimmt glatt, es wird schwer sein, wieder raufzuklettern. Aber dort unten ist meine Mütze. Wenn ich ohne sie nach Hause komme, werde ich es erklären müssen, ich werde alles erzählen müssen.

Elaine schafft es, ohne auszurutschen, hinunterzukommen, aber als sie nach der Mütze auf dem Eis greift, bricht sie ein und taucht bis zur Hüfte ins Wasser.

Ich weiß, dass ich aufstehen und nach Hause gehen sollte, aber es kommt mir leichter vor hierzubleiben, im Schnee, mit den kleinen fallenden Eiskörnern, die sanft mein Gesicht streicheln. Außerdem bin ich sehr müde. Ich schließe die Augen.

Schließlich rafft Elaine sich doch auf und klettert zurück. Cordelia, Grace und Carol stehen nicht mehr auf der Brücke. Elaines Mutter kommt gelaufen.

„Ich bin reingefallen“, sage ich. „Ich hab meine Mütze geholt.“
[…] „Wo waren denn Grace und Cordelia?“, fragt sie. „Haben sie gesehen, wie du eingebrochen bist?“
„Nein“, sage ich. „Sie waren nicht da.“

Danach liegt Elaine zwei Tage lang fiebernd im Bett. Die Mutter meint, sie habe Glück gehabt, sie wäre beinahe erfroren.
Als Elaine sich erholt hat und wieder die Schule besucht, meint Cordelia, sie müsse bestraft werden, weil sie die Freundinnen verraten habe.

„Ich hab nichts gesagt“, sage ich. […]
„Widersprich nicht“, sagt Cordelia. „Wie kommt es dann, dass deine Mutter unsere Mütter angerufen hat?“

Elaine lässt sich nicht mehr einschüchtern, dreht sich um und lässt die drei Mitschülerinnen stehen.

Es ist genauso, als springe man von einer Klippe und glaube, dass einen die Luft tragen wird. Und sie tut es. Ich merke, dass ich nicht zu tun brauche, was sie mir sagt, und, schlimmer und besser noch, dass ich nie nötig gehabt hätte, zu tun, was sie sagt. Ich kann tun, was mir gefällt.
„Wag ja nicht, wegzugehen“, sagt Cordelia hinter meinem Rücken. „Komm sofort zurück!“

Sie hat sich lang genug zum Narren halten lassen. Ihr Zorn richtet sich ebenso gegen Cordelia, Grace und Carol wie gegen sich selbst.

Sie brauchen mich für dieses Spiel, und ich brauche sie nun nicht mehr.

Von da an will Elaine nichts mehr mit den vermeintlichen Freundinnen zu tun haben.

Obgleich ich Cordelia und Grace und Carol jeden Tag sehe, erinnere ich mich an nichts; nur dass sie früher, als ich noch kleiner war, meine Freundinnen waren, bevor ich andere Freundinnen hatte.

Highschool

Nachdem Grace und Cordelia ihren Grundschulabschluss gemacht haben, wechselt Cordelia auf die Privatschule St. Sebastian und Grace auf eine Highschool weiter im Norden. Carol Campbell zieht mit ihrer Familie fort.

Am Tag bevor auch für Elaine die Highschool beginnt, ruft Cordelias Mutter an und fragt, ob sie ihre Tochter auf dem Schulweg begleiten wolle. Cordelia ist von der Privatschule geflogen und geht nun in dieselbe Klasse der Burnham Highschool wie Elaine. Die beiden sind 13 bzw. 12 Jahre alt.

In unserem Gesundheitsbuch ist ein Kapitel über die Gefühle von Teenagern. Nach diesem Buch müsste ich in einem Wirbelsturm von Teenagergefühlen gefangen sein, den einen Augenblick lachen, den nächsten weinen, wie in einer Achterbahn hoch- und runtersausen, so heißt es dort. Aber diese Beschreibung trifft auf mich ganz und gar nicht zu. Ich bin ruhig; ich beobachte das groteske Benehmen meiner Mitschüler, die sich ganz genauso aufführen, wie es in dem Buch beschrieben ist.

Die Mädchen in der Schule lernen es, sich vor meinem bösen Mundwerk in Acht zu nehmen. […] Die Person, die mein böses Mundwerk am meisten zu spüren bekommt, ist Cordelia. […] Manchmal fällt Cordelia eine Antwort ein, aber manchmal fällt ihr auch nichts ein. Sie sagt: „Das ist gemein.“

Cordelias Familie zieht schließlich in eine vornehmere Gegend, und die Mädchen verlieren sich aus den Augen.

Studium

Zur Bestürzung ihrer Eltern studiert Elaine nicht Biologie, sondern Kunst und Archäologie. Außerdem belegt sie nacheinander fünf Abendkurse am Toronto College of Art.

Der Lehrer im Aktzeichnen heißt Josef Hrbik. Obwohl er Mitte 30 ist, hat er eine Affäre mit seiner 20-jährigen Schülerin Susie und fängt parallel dazu auch noch eine mit Elaine an, die zwei Jahre jünger als Susie ist und vorher noch nie mit einem Mann im Bett war. Susie darf nichts davon wissen. Elaine lässt sich dann ihrerseits auf eine Liebesbeziehung mit dem angehenden Maler Jon ein.

Josef muss ich vor meinen Eltern verbergen und Jon vor Josef und ihnen.

Jon denkt nicht, dass Frauen hilflose Blumen sind oder Gebilde, die arrangiert und vervollkommnet werden müssen, so wie Josef es tut.

Als Susie schwanger geworden ist, versucht sie, das Kind wegzumachen, verliert dabei aber viel Blut und stirbt beinahe. Josef ist am Boden zerstört und klammert sich an Elaine, aber die sieht ihn nun als Schwächling und beendet die Affäre.

Ehen

Elaine belegt auch einen Abendkurs in Werbegrafik und fängt an, Bilder zu malen.

Jon […] würde sie als Illustrationen bezeichnen. Jedes Bild, das irgendetwas Erkennbares aufweist, ist seiner Meinung nach Illustration. Solche Arbeit ist ohne spontane Energie, würde er sagen. Kein Prozess. Ich könnte genauso gut Fotograf sein oder Norman Rockwell.

Ich mache meinen Abschluss an der Uni und entdecke, dass ich mit meinem akademischen Grad nicht viel anfangen kann. Jedenfalls nichts, was ich machen will.

Sie entwirft Buchumschläge für einen Verlag und mietet eine kleine möblierte Wohnung, während ihre Eltern das Haus verkaufen und wieder nach Norden ziehen, wo der Vater nun als Direktor beim Forest Insect Laboratory in Sault Ste weiterforscht.

Einmal liegen Jon und Elaine im Bett, als eine Frau die Schlafzimmertür aufreißt und eine Papiertüte mit warmen Spaghetti samt Soße wirft, die beim Aufprall zerplatzt. Elaine erschrickt, aber Jon bricht in Lachen aus. Bei der Aggressorin handelt es sich um eine von Jon vernachlässigte Freundin, die bis zu diesem Zeitpunkt einen Schlüssel für seine Wohnung hatte.

Als Elaine schwanger wird, heiraten sie und Jon. Die Tochter nennen sie Sarah. Weil Elaine sich um das Kind kümmern muss, kommt sie nur noch abends zum Malen. Jon missfällt das, und Elaine hat den Eindruck, dass er ihre Bilder für belanglos hält.

Jon malt nicht mehr auf Leinwand oder auf irgendetwas anderem Flachen. Er malt überhaupt nicht mehr. Flache Oberflächen mit Farbe darauf sind für ihn „Kunst-an-der-Wand“. Es besteht kein Grund, warum Kunst an der Wand hängen soll, es besteht kein Grund, einen Rahmen darum herum zu machen oder Farbe darauf zu malen. Stattdessen stellt er Konstrukte aus Dingen her, die er von Müllhaufen holt oder sonst wo findet.

Jon zerschlägt Gegenstände und klebt die Scherben im Muster ihres Bruchs zusammen. Ich verstehe den Appell darin.

Bei einer Gruppenausstellung schleudert eine entrüstete Besucherin ein Glas mit Tinte gegen das Gemälde „Weißes Geschenk“ von Elaine. Den Vorfall greifen die Medien auf, und Elaine wird bekannt.

Nachdem sie jahrelang keinen Kontakt hatten, ruft Cordelia an, und Elaine schlägt ein Treffen vor. Sie können sich allerdings nicht in einem Restaurant verabreden, denn seit einem Suizidversuch wird Cordelia in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt. Vergeblich bittet die Patientin die frühere Schulfreundin, ihr zur Flucht zu verhelfen.

Elaine schluckt keine Tabletten wie Cordelia, sondern schneidet sich in die Pulsader des linken Arms. Jon findet sie rechtzeitig und bringt sie in die Notaufnahme, wo sie behauptet, es habe handele sich um einen Unfall.

Als sie sich erholt hat, kauft sie eine Fahrkarte nach Vancouver am anderen Ende des Kontinents und nimmt ihre Tochter mit. Jon besucht sie dort, aber die Versöhnung gelingt nicht, und das Ehepaar lässt sich scheiden.

Nach einigen hektischen, unbefriedigenden Affären lernt Elaine beim Einkaufen im Supermarkt einen zehn Jahre älteren Mann kennen. Ben hat mit Immobilien ein Vermögen verdient und sich soeben ein auf Mexiko spezialisiertes Reisebüro gekauft. Er ist ebenfalls geschieden und bringt einen erwachsenen Sohn mit in die Beziehung. Nach einer Weile heiraten Ben und Elaine.

Stephen

Elaines Bruder Stephen, der Astrophysiker geworden ist, reist viel und schickt nur hin und wieder eine Ansichtskarte. Aus San Francisco teilt er seiner Schwester mit, dass er geheiratet habe, und sieben Jahre später schreibt er aus New York, dass er und Annette nun geschieden seien.

Dann sitzt er in einem entführten Flugzeug. Nachdem Frauen und Kinder aussteigen durften, fordern die Terroristen ausgerechnet Stephen auf, mit nach vorne zu kommen, erschießen ihn und werfen ihn aufs Rollfeld.

Einige Zeit später sterben die Eltern kurz nacheinander.

Retrospektive

Als Elaine Risley in der Mitte ihres Lebens angekommen ist, reist sie zu einer Retrospektive in der Galerie Sub-Versions von British Columbia nach Toronto, obwohl sie die Stadt und die damit verbundenen Erinnerungen hasst. Ben kann sie wegen seines Reisebüros nicht begleiten. Jon, mit dem sie sich längst versöhnt hat, stellt ihr seine Wohnung in Toronto zur Verfügung. Er macht inzwischen Special Effects für Kinofilme, um seine Kunstwerke zu finanzieren und hat zu diesem Zeitpunkt in Los Angeles zu tun, wird aber rechtzeitig zur Vernissage wieder zurück sein.

Ich habe auch zwei Töchter, die jetzt schon erwachsen sind. Sie heißen Sarah und Anne, gute, vernünftige Namen. Eine von ihnen ist fast schon Ärztin, die andere Wirtschaftsprüferin. Das sind vernünftige Berufe.

[…] die Mädchen, jedenfalls meine Mädchen, scheinen mit einer Art Schutzhaut geboren zu sein, einer Immunität, die mir fehlte. Sie sehen einem ins Auge, gerade und abwägend, sie sitzen am Küchentisch und erhellen die Luft um sie herum mit ihrer Klarheit.

„Wie geht’s deiner Frau?“, fragt Elaine, als Jon aus Los Angeles kommt, und er antwortet: „Mary Jean und ich haben beschlossen, es ne Weile getrennt zu probieren.“

Elaine schläft noch einmal mit Jon. Dabei hat sie nicht den Eindruck, Ben zu betrügen; es ist wie ein endgültiger Schlusspunkt.

Eine Stunde zu früh trifft Elaine zur Vernissage ein. Die Galeristin heißt Charna. Elaine rechnet fest damit, dass Cordelia von der Retrospektive erfahren hat und zur Vernissage kommt, aber das geschieht nicht.

Ich war auf fast alles vorbereitet; nur nicht auf Abwesenheit, nur nicht auf Schweigen.

Am nächsten Tag fliegt sie nach Westen zurück.

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Die Ich-Erzählerin Elaine wird als Kind von Mitschülerinnen gemobbt, aber vor dem Wechsel zur Highschool ändert sich das Kräfteverhältnis und Elaine erweist sich ihrer Herausforderin Cordelia nun als überlegen. In der Grundschule fügte sie sich, aber danach entwickelt sie sich zu einer selbstbewussten Malerin, während sich zugleich die Gesellschaft unter dem Einfluss des Feminismus und anderer Strömungen verändert.

Das Buch beginnt mit den Worten:

Die Zeit ist keine Linie, sondern eine Dimension, wie die Dimensionen des Raums. Lässt sich der Raum krümmen, so lässt sich auch die Zeit krümmen, und wenn man genügend Wissen besäße und sich schneller als Licht bewegen könnte, dann könnte man auch zurückreisen in der Zeit und an zwei Orten zugleich sein.
[…] habe ich die Zeit als etwas angesehen, das eine Form besitzt, als etwas, das man sehen kann, wie flüssige Dias, die übereinanderliegen. Man blickt nicht an der Zeit entlang zurück, sondern in sie hinein und hinunter wie durch Wasser. Manchmal kommt dieses an die Oberfläche, manchmal jenes, manchmal gar nichts. Nichts geht weg.

Margaret Atwood bezieht sich in „Katzenauge“ auf Stephen W. Hawking und lässt sich davon bei der Komposition ihrer Geschichte inspirieren. Sie entfaltet das Geschehen nicht chronologisch, sondern aus einer Rahmenhandlung und Rückblenden. Elaine Risley, eine erfolgreiche Malerin um die 50, reist wegen einer Kunstausstellung ihrer Werke in Toronto erstmals seit vielen Jahren zurück an den Ort, an dem sie als Kind Schlimmes erlebte und erinnert sich an die erlittenen Verletzungen, an Kindheit und Jugend, aber auch an ihre Liebesbeziehungen und Ehen. Die Retrospektive in der Galerie geht mit Erinnerungen der Malerin einher.

An anderer Stelle erklärt Elaines Bruder Stephen:

„Wenn wir in den Nachthimmel blicken, […] sehen wir Fragmente der Vergangenheit. Nicht nur in dem Sinne, dass die Sterne, so wie wir sie sehen, Echos von Ereignissen sind, die in Zeit und Raum Lichtjahre entfernt stattgefunden haben: Alles dort oben und tatsächlich auch alles hier unten ist ein Fossil, etwas, das von den ersten Pikosekunden der Schöpfung übrig geblieben ist, als das Universum sich aus dem ursprünglichen homogenen Plasma herauskristallisiert hat.“

Margaret Atwood lässt Elaine unaufgeregt, melancholisch und weitgehend im Präsens zu Wort kommen. Effekthascherisch wird „Katzenauge“ nie. Im Gegenteil: Vor allem wenn Elaine sich in ihre Kindheit zurückversetzt, beobachtet sie zwar mit der Wissbegierde eines Kindes, unterscheidet aber nicht zwischen Wichtigem und Belanglosem. Ebenso detailreich wie ausschweifend erzählt sie sowohl von Bedeutendem als auch Trivialem, .

Der Titel „Cat’s Eye“ bzw. „Katzenauge“ bezieht sich auf gläserne Murmeln.

Katzenaugen, klares Glas mit einer Blume aus farbigen Blütenblättern in der Mitte, rot oder gelb oder grün oder blau; Puris, pur einfarbige Kugeln, lupenrein wie gefärbtes Wasser oder Saphire oder Rubine; Wasserbabys, in denen bunte Staubfäden wie unter Wasser schweben; Bowlies, Metallkugeln; Aggies, Tonkugeln, wie Murmeln, nur größer. All diese exotischen Exemplare gehen von Gewinner zu Gewinner. Sie zu kaufen ist Betrug, man muss sie gewinnen.

Margaret Atwoods Vater war Entomologe wie der Vater der Protagonistin in „Katzenauge“. Wie dieser kam er 1946 an die University of Toronto.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Margaret Atwood (kurze Biografie / Bibliografie)

Margaret Atwood: Lady Orakel
Margaret Atwood: Der Report der Magd (Verfilmung)
Margaret Atwood: Der blinde Mörder
Margaret Atwood: Moralische Unordnung
Margaret Atwood: Das Zelt
Margaret Atwood: Hexensaat
Margaret Atwood: Die Zeuginnen
Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde

Panait Istrati - Kyra Kyralina
Eingebettet in eine um 1900 spielende Rahmenhandlung mit seinem Alter Ego Adrian, lässt Panait Istrati in "Kyra Kyralina" einen in der Jugend von reichen Päderasten miss­brauchten Vagabunden mit orienta­lischer Fabulierlaune aus seinem ereignisreichen Leben erzählen.
Kyra Kyralina