Margaret Atwood : Die Zeuginnen

Die Zeuginnen
The Testaments PenguinRandom House, Toronto / New York / London 2019 Die Zeuginnen Übersetzung: Monika Baark Berlin Verlag, Berllin 2019 ISBN 978-3-8270-1404-7, 573 Seiten ISBN 978-3-8270-7999-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

2197 wird ein Augenzeugenbericht über verbrecherische Machenschaften in dem repressiven und frauenfeindlichen Gottesstaat Gilead entdeckt, den es vor längerer Zeit auf dem Gebiet der früheren USA gab. Ergänzt wird das Material durch die schriftlichen Aussagen von zwei Zeuginnen, die den Bericht nach Kanada schmuggelten und an die Medien weiterleiteten – was entscheidend zum Untergang von Gilead beitrug.
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Kritik

Mit "Die Zeuginnen" setzt Margaret Atwood die Handlung von "Der Report der Magd" fort. Aber vom Ernst und Tiefgang des 1985 veröffentlichten Romans ist in dem Sequel von 2019 nichts zu finden. Es handelt sich um eine unterhaltsame Lektüre mit Elementen von Abenteuergeschichten, Spionage- und Kriminalromanen.
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Gilead

Radikale Christen – die „Söhne Jakobs“ – haben nach den von Erdbeben an der San-Andreas-Verwerfung ausgelösten Explosionen von Atomkraftwerken und der Erschießung des US-Präsidenten ein totalitäres Regime in Nordamerika etabliert, den Gottesstaat Gilead. Universitäten und Bibliotheken wurden geschlossen, Animierbetriebe jeglicher Art verboten. Weil die misogynen Fundamentalisten überzeugt sind, dass die weitgehende Unfruchtbarkeit der Bevölkerung die Strafe Gottes für Promiskuität, Empfängnisverhütung und Abtreibung ist, haben sie das alles untersagt. Die Führungsschicht wird in Gilead von „Kommandanten“ gebildet. Kommandant Judd, einer der „Söhne Jakobs“, ist der mächtigste von ihnen; ihm untersteht auch der „Augen“ genannte Geheimdienst des repressiven Staates.

Auf Kommandant Judd stieß auch eine 53-jährige Familienrichterin, die kurz nach dem Umsturz mit zahlreichen anderen Frauen zusammen festgenommen worden war. Er zwang sie, beim Aufbau des Staates Gilead mitzumachen und verlangte von ihr als Bewährungsprobe, bei einer öffentlichen Massenerschießung im Sportstadion mitzumachen.

Als „Tante Lydia“ gehört sie seither wie die ihr nachgeordneten „Tanten“ Elizabeth, Helena und Vidala zu den „Gründerinnen“, die damals mit der Organisation der Sphäre der Frauen in Gilead betraut wurden und dafür sowohl einen Etat als auch eine Wirkungsstätte – das Haus Ardua – erhielten.

Falls die Ehefrau eines Kommandanten nicht schwanger wird, steht ihm eine „Magd“ zu, deren einzige Aufgabe es ist, ein Kind von ihm zu empfangen. Es sind Frauen, die man für gebärfähig hält und die unter der Aufsicht von „Tanten“ im Rachel-und-Leah-Zentrum auf ihre Rolle als „Magd“ vorbereitet werden.

Agnes

Als Agnes Jemima acht oder neun Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter Tabitha. Der Vater, Kommandant Kyle, heiratet bald darauf eine junge Witwe namens Paula. Um ein weiteres Kind zu bekommen, erhält das Ehepaar eine Magd, die eigentlich Chrystal heißt, aber nun Deskyle gerufen wird. Sie stirbt bei der Geburt eines Sohnes.

Agnes hat sich mit zwei Mitschülerinnen angefreundet − Becka und Shunammite – obwohl solche Freundschaften von den Tanten argwöhnisch belauert werden.

Tante Vidala sagte, beste Freundinnen führten zu Getuschel und Verschwörungen und Geheimnissen, und Verschwörungen und Geheimnisse führten zu Ungehorsam gegenüber Gott, und Ungehorsam führte zu Rebellion, und Mädchen, die rebellisch seien, würden zu Frauen, die rebellisch seien, und eine rebellische Frau sei schlimmer als ein rebellischer Mann, denn rebellische Männer würden zu Verrätern, rebellische Frauen aber zu Ehebrecherinnen.

Beckas Vater, Dr. Grove, ist Zahnarzt. Als Agnes bei ihm zur Untersuchung ist, zwingt er sie zu Fellatio. Als das Mädchen die Praxis dann verlässt, fragt die männliche Sprechstundenhilfe:

„Hat er gebohrt?“
„Nein“, sagte ich. „Diesmal nicht.“

Sobald Agnes 13 Jahre alt ist, sorgt Paula dafür, dass eine Ehe für sie arrangiert wird. Sie soll den mehrfach verwitweten Kommandanten Judd heiraten. Stattdessen lässt sie sich, von Tante Lydia tatkräftig unterstützt, im Haus Ardua aufnehmen. Dort trifft sie auf Becka, die sich der Zwangsverheiratung durch einen Suizidversuch entzog und nun als Tante Immortelle zu den Supplikantinnen im Haus Ardua zählt. Agnes nimmt als Supplikantin den Namen Tante Victoria an.

Becka und Agnes lernen lesen und schreiben. Das ist Tanten vorbehalten. Schließlich dürfen sie die Bibliothek im Haus Ardua benutzen. Dort finden sie immer wieder heimlich von Tante Lydia zusammengestellte Mappen mit Belastungsmaterial über Kommandanten und deren Frauen. Auf diese Weise erfährt Agnes, dass Kommandant Judd in kurzen Zeitabständen junge Frauen heiratet und sie ermordet, sobald er ihrer überdrüssig ist. Paula erstach ihren ersten Mann mit einem Bratspieß und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Affäre mit Kommandant Kyle, obwohl dessen Frau Tabitha noch lebte. Weder Tabitha noch Kommandant Kyle sind Agnes‘ leibliche Eltern. Ihre Mutter flüchtete mit ihrer damals gerade erst geborenen zweiten Tochter Nicole nach Kanada. All dies liest Agnes bzw. Tante Victoria in den geheimen Unterlagen, die ihr zugespielt werden.

Kanada

Daisy wohnt mit ihren Eltern Neil und Melanie in der Nähe von Toronto. Im Second-Hand-Laden der Eltern sieht Daisy immer wieder „Perlenmädchen“, Missionarinnen aus Gilead, die stets paarweise auftreten und Werbebroschüren auslegen.

Eine Woche vor ihrem 16. Geburtstag nimmt Daisy an einer Demonstration gegen Gilead teil.

Am Geburtstag holt Ada sie von der Schule ab, eine Vertraute ihrer Eltern. Sie kann nicht mehr nach Hause: Neil und Melanie wurden bei einem Sprengstoffanschlag ermordet. Und Daisy erfährt, dass es sich bei den beiden nicht um ihre leiblichen Eltern handelte. Sie heißt eigentlich Nicole, wurde in Gilead als Tochter eines Kommandanten geboren und vor 15 Jahren als Baby von ihrer Mutter nach Kanada geschmuggelt. Neil und Melanie arbeiten ebenso wie Ada für das Flüchtlingsnetzwerk MigrAsyl und die Spionageorganisation Mayday. Von einem ihnen unbekannten Maulwurf in Gilead erhalten sie geheime Informationen in Form von Mikropunkten auf Broschüren ahnungsloser Perlenmädchen. Mikropunkte, auf mikroskopisches Format verkleinerte Fotos von Dokumenten, erzeugt man mit einer speziellen Kamera. Auch Neil und Melanie verfügten über ein solches Gerät.

Die unbekannte Kontaktperson in Gilead teilte zuletzt mit, dass Nicole nach Gilead eingeschleust werden und dann ein Konvolut von Belastungsmaterial über führende Persönlichkeiten nach Kanada schmuggeln soll.

Mit Hilfe von Garth, einem Aktivisten Mitte 20, gibt sich Nicole als Obdachlose mit dem Namen Jade aus. Wie erwartet, wird sie auf der Straße von zwei Perlenmädchen angesprochen und schließlich nach Gilead mitgenommen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Tante Lydia

Bei der den Kanadiern unbekannten Kontaktperson in Gilead handelt es sich um Tante Lydia. Sie schreibt seit langem heimlich an einem umfassenden Bericht über den repressiven Staat und verbrecherische Kommandanten.

Jade wird von ihr als angehende Supplikantin im Haus Ardua aufgenommen. Die Tanten Victoria und Immortelle erhalten die Aufgabe, sie zu betreuen. Schließlich klärt Tante Lydia die drei jungen Frauen über die Zusammenhänge auf: Agnes ist Jades Halbschwester. Die beiden sollen Tante Lydias Bericht in Form eines Mikropunkts, den sie durch einen kleinen Schnitt an Nicoles Arm unter die Haut geschoben hat, nach Kanada bringen.

Mit Hilfe von Kontaktpersonen des illegalen Flüchtlingsnetzwerks schaffen es Agnes und Nicole bis an die östliche Küste der Bay of Fundy, wo sie von Ada und Garth empfangen werden. Nicole muss mit einem Hubschrauber in eine Klinik in Campobello geflogen werden, weil sie sich eine Blutvergiftung am Arm zugezogen hat. Zum Glück erholt sie sich von der Erkrankung.

Die Medien berichten anhand des übermittelten Berichts ausführlich über Verbrechen in  Gilead.

13. Symposion über Gileadstudien

Das 13. Symposion über Gileadstudien findet am 29./30. Juni 2197 in Passamaquoddy statt, einer früher Bangor genannten und zu Maine gehörenden Stadt. Der Hauptredner Professor James Darcy Pieixoto aus Cambridge in England erinnert an Desfreds Tonbandkassetten, über die er auf dem 12. Symposion am 25. Juni 2195 berichtete (Der Report der Magd). Nun gibt es neue Funde aus Gilead: einen ausführlichen Bericht mit dem Titel „Hologramm von Haus Ardua“ und Aussagen von zwei jungen Zeuginnen. Diese Materialien trugen damals maßgeblich zum Untergang des Staates Gilead bei. Professor Pieixoto vermutet, dass es sich bei den beiden Zeuginnen Agnes und Nicole um die Töchter der „Magd“ Desfred handelte, die nach ihrer Flucht aus Gilead in Kanada zwei von den „Augen“ initiierte Attentate überlebte.

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1985 veröffentlichte Margaret Atwood den dystopischen Ideenroman „The Handmaid’s Tale“ / „Der Report der Magd“ (1987). Mit „The Testaments“ / „Die Zeuginnen“ (2019) setzt sie die Geschichte nach einem Zeitsprung von 15 Jahren fort. Die Handlungen der beiden Romane sind eng verknüpft, aber „Die Zeuginnen“ fällt gegenüber „Der Report der Magd“ deutlich zurück: Vom Ernst und Tiefgang des Romans „Der Report der Magd“ ist in „Die Zeuginnen“ nichts mehr zu finden. Es ist kaum mehr als eine unterhaltsame Lektüre mit Elementen von Abenteuergeschichten, Spionage- und Kriminalromanen. „Die Zeuginnen“ sind wohl stärker mit der erfolgreichen Fernsehserie „The Handmaid’s Tale. Der Report der Magd“ verknüpft als mit der Romanvorlage.

Das Buch lässt sich flott lesen, aber die Handlung ist abstrus.

Margaret Atwood fügt den Roman „Die Zeuginnen“ aus drei fiktiven Dokumenten und einer abschließenden, im Jahr 2197 spielenden Rahmengeschichte („Das Dreizehnte Symposion“) zusammen. Die drei Ich-Erzählerinnen – Tante Lydia, Agnes und Nicole – sind mit verschiedenen Logos gekennzeichnet. Tante Lydia spricht übrigens die Leserinnen und Leser immer wieder direkt an:

Wer bist du, mein Leser? Und wann bist du? Vielleicht morgen vielleicht in fünfzig Jahren, vielleicht nie.

Drei weibliche Perspektiven bestimmen das Bild, in dem Männer lediglich als Päderasten, Unterdrücker und Verbrecher, bezahlte Kontaktpersonen oder nicht näher charakterisierte Aktivisten eines Flüchtlingshilfswerks für Frauen aus Gilead vorkommen. Auf eine Ausleuchtung der Charaktere hat Margaret Atood in „Die Zeuginnen“ verzichtet.

Den Roman „Die Zeuginnen“ von Margaret Atwood gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Leslie Malton, Eva Meckbach, Inka Löwendorf, Vera Teltz und Julian Mehne (ISBN 978-3-8449-2223-3).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Berlin Verlag

Margaret Atwood (Kurzbiografie / Bibliografie)

Margaret Atwood: Der Report der Magd (Verfilmung)
Margaret Atwood: Lady Orakel
Margaret Atwood: Katzenauge
Margaret Atwood: Der blinde Mörder
Margaret Atwood: Moralische Unordnung
Margaret Atwood: Das Zelt
Margaret Atwood: Hexensaat
Margaret Atwood: Penelope und die zwölf Mägde

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