Fatma Aydemir : Dschinns

Dschinns
Dschinns Originalausgabe Carl Hanser Verlag, München 2022 ISBN 978-3-446-26914-9, 368 Seiten ISBN 978-3-446-27333-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die kurdische Familie Yılmaz lebt seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Während die Tochter Sevda die Türkei erst mit knapp 16 verließ, ohne je eine Schule besucht zu haben, wuchs ihre jüngere Schwester Peri vom dritten Lebensjahr an in Deutschland auf, wurde in dieser Umgebung sozialisiert und fing nach dem Abitur zu studieren an.
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Kritik

"Dschinns" ist sowohl ein Familien- als auch ein Gesellschaftsroman. Er dreht sich um Migration, aber Fatma Aydemir greift auch andere Themen auf. Sie entwickelt die Geschichte in der erzählten Gegenwart (1999) und in der Rückschau aus sechs verschiedenen Perspektiven.
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Hüseyin

Hüseyin Yılmaz zieht mit seiner Frau Emine von einem kurdischen Bergdorf nach Karlıdağ. Jedes Jahr arbeitet er auf den Teeplantagen von Rize, bis er 1971 nach Deutschland reist und in Rheinstadt am Schmelzofen eines Stahlwerks zu arbeiten beginnt. Erst nach mehreren Jahren kann er seine Familie nachholen.

Als das Stahlwerk schließt, wechselt Hüseyin zu einer Kartonfabrik und arbeitet dort weitere fünf Jahre in drei Schichten.

1999 kann sich der inzwischen 59-Jährige endlich einen Traum erfüllen und eine Eigentumswohnung in Istanbul kaufen.

Und nun hast du es endlich geschafft. Du bist neunundfünfzig und Eigentümer. Wenn in ein paar Jahren Ümit die Schule beendet und du endlich Deutschland, dieses kalte, herzlose Land, verlassen kannst, dann gibt es diese Wohnung hier mit deinem Namen auf dem Klingelschild. Hüseyin! Du hast endlich einen Ort gefunden, den du dein Zuhause nennen kannst.

Während sich Hüseyin in der Wohnung umsieht, spürt er ein heftiges Stechen im linken Arm und bricht zusammen. Er schreit. Die Nachbarin Halime Bacı ruft einen Krankenwagen, der Hüseyin in eine Klinik bringt. Aber die Ärzte können nichts mehr für ihn tun: Eine Woche vor dem Beginn der Rente stirbt Hüseyin an einem Herzinfarkt.

Ümit

Weil der Tote nach muslimischen Vorschriften innerhalb von 48 Stunden bestattet werden muss, beeilen sich die Familienangehörigen, von Deutschland nach Istanbul zu kommen. Emine fliegt mit der zweitältesten Tochter Perihan („Peri“) und dem jüngsten der Kinder, dem 15-jährigen Ümit.

In Istanbul denkt Ümit an die peinliche Situation im Fußballteam, als sein Liebesbrief für Jonas entdeckt wurde und ihn der Trainer Walter Hartmann zu dem Psychologen Dr. Richard Schumann schickte:

„Ümit, ich hörte von deinem Trainer Herrn Hartmann, dass du Hilfe benötigst. Und zwar, weil du eine Neigung entwickelt hast, die dich stört. Ist das korrekt?“

Sevda

Sevda ist zwölf Jahre alt, als der Vater die Mutter, den Bruder Hakan und die dreijährige Schwester Peri nach Rheinstadt holt. Nur sie muss bei den kurdisch sprechenden Großeltern in Karlıdağ bleiben. Erst drei Jahre später darf auch sie wieder zu ihrer Familie.

Kurz nach ihrem 18. Geburtstag heiratet Sevda einen Mann, den die Eltern für sie ausgesucht haben. Ihsan Demirkan zieht mit ihr nach Salzhagen, wo er eine verwahrloste Dachgeschosswohnung gemietet hat.

1994, als der Sohn Cem sechs und die Tochter Bahar drei Jahre alt sind, beginnt Sevda, in einer Wäscherei zu arbeiten, um das Familieneinkommen aufzubessern. Als sie eines Morgens von der Nachtschicht kommt, steht die Feuerwehr vor dem brennenden Mietshaus. Zum Glück ist niemand umgekommen. Die geretteten Bewohnerinnen und Bewohner, auch Cem und Bahar, tragen ihre Nachthemden bzw. Schlafanzüge. Ihsan ist als einziger voll angezogen: Er war nicht da, hatte die Kinder also allein gelassen.

Handelt es sich bei dem Brand um einen ausländerfeindlichen Anschlag? Die Polizei versucht nicht ernsthaft, den Fall aufzuklären.

Sevda sucht mit den Kindern Zuflucht bei den Eltern in Rheinstadt und trennt sich telefonisch von Ihsan. Aber als er eine neue Wohnung gefunden hat, holt er sie mit Unterstützung ihrer Eltern zurück nach Salzhagen. Das verzeiht Sevda ihren Eltern nicht, und sie bricht den Kontakt ab.

Im Erdgeschoss des Hauses, in dem sich die neue Wohnung befindet, betreibt die 55 Jahre alte allein lebende Sizilianerin Mariella eine Pizzeria. Sevda freundet sich mit ihr an. Als sie in der Pizzeria zu kellnern beginnt, will Ihsan ihr das verbieten, aber sie trennt sich nun endgültig von ihm und wechselt das Schloss der Wohnungstür.

Zwei Jahre später übernimmt Sevda die Pizzeria, und Mariella kehrt nach Sizilien zurück.

Die Nachricht vom Tod des Vaters lässt Sevda mit den Kindern zum Flughafen Hannover eilen. Aber dort stellt sie fest, dass die Pässe zu Hause liegen geblieben sind. Sie müssen zurück und auf ein Flugzeug am folgenden Tag warten, das erst einige Stunden nach der Beerdigung nach Istanbul eintreffen wird.

Peri

Anders als Sevda wuchs Peri von ihrem dritten Lebensjahr an in Deutschland auf. Während die ältere Schwester in Karlıdağ nicht einmal eine Grundschule besuchen durfte, kann Peri in Rheinstadt Abitur machen. Und 1994 zieht sie nach Frankfurt am Main, um dort Germanistik zu studieren.

Armin, ihr erster Freund, erhängt sich. Als sie nach einem One-Night-Stand schwanger wird, lässt sie eine Abtreibung vornehmen. Harte Drogen probiert sie nur kurze Zeit, aber ein bisschen Koks, Speed und Gras muss schon sein.

Die Germanistik-Studentin weist ihre Mutter darauf hin, dass es im Türkischen kein grammatisches Geschlecht gibt, und sie redet über Judith Butlers Queer-Theorie, die davon ausgeht, dass die binäre Geschlechterunterscheidung nicht naturgegeben, sondern soziokulturell bedingt ist.

In Frankfurt begegnet sie einem jungen Mann aus Berlin, der den kurdischen Namen Ciwan trägt und an einer Demonstration zur Freilassung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan teilnimmt. Als Peri ihn zu verführen versucht, verschwindet er ebenso unvermittelt wie er aufgetaucht ist.

Hakan

Als Sveda endlich mit Cem und Bahar in Istanbul eintrifft, ist Hakan noch mit dem Auto unterwegs: 2100 Kilometer in 30 Stunden nahm sich der Gebrauchtwagen-Händler vor.

Aber noch vor der österreichischen Grenze winkt ihn ein Streifenwagen heraus, und er muss auf einer Parkbucht halten. Nachdem die Polizisten keinen Alkohol nachweisen können, unterstellen sie Hakan, unter Drogeneinfluss gefahren zu sein. Vergeblich erklärt er ihnen, er müsse zur Beerdigung seines Vaters nach Istanbul und habe es eilig. Die Beamten nehmen ihn im Streifenwagen mit zum Revier. Eine Urinprobe beweist, dass der Verdacht unbegründet ist, und Hakan darf sich von einem Taxi zu seinem Auto in der Parkbucht zurückbringen lassen. Vier Stunden hat er verloren.

Das war nicht Hakans erster Konflikt mit der Polizei. Als 13-Jähriger wurde er 1987 zusammen mit seinem Freund Musti beim Sprühen eines Graffitos erwischt. Die Väter mussten sehr viel Geld bezahlen. Während Musti daraufhin zu einem Onkel nach Sinop geschickt wurde, erlebte Hakan seinen Vater Hüseyin als hilflos.

Als Letzter trifft Hakan in Istanbul ein. Aber die Situation in der Wohnung – vor allem die Spannung zwischen seiner Schwester Sevda und der Mutter Emine – erträgt er nicht lange. Deshalb fährt er weiter nach Antalya, wo Musti inzwischen ein florierendes Internetcafé betreibt. Peri und Ümit, Cem und Bahar nimmt er im Auto mit. Sevda will in zwei Tagen nachkommen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Emine

Emine bleibt also mit ihrer Tochter Sevda allein in der von Hüseyin erworbenen Wohnung zurück. Nachts kann keine der beiden Frauen schlafen.

Erst jetzt erfährt Sevda, dass sie nicht Emines erstes Kind war. Mit knapp 16 – da war Emine bereits mit Hüseyin verheiratet – brachte sie in Karlıdağ eine Tochter zur Welt. Die wurde ihr nach wenigen Tagen weggenommen. Hüseyins älterer Bruder Ahmet und dessen Ehefrau Ayşe nahmen das kleine Mädchen mit nach Österreich, wo das kinderlose Paar lebte.

Sevda kann es kaum fassen, dass ihre Mutter eine Tochter weggab und erinnert sich mit Schrecken daran, wie sie im Alter von zwölf Jahren in Karlıdağ zurückgelassen wurde. Aber Emine versucht ihr zu erklären, dass damals die Anordnungen der Autoritäten befolgt worden seien. Hüseyin habe sich der Entscheidung der älteren Generation und seines älteren Bruders gefügt, und sie sei auch nicht in der Lage gewesen, sich dem Familienbeschluss zu widersetzen.

Aus dem in Österreich aufgewachsenen Mädchen wurde ein Mann mit dem kurdischen Namen Ciwan. 1990 kontaktierte er seinen leiblichen Vater, aber Hüseyin hielt ihn von Emine fern und verschwieg ihr die Begegnung zunächst. Inzwischen ist Ciwan tot. Er starb bei einem Autounfall in Berlin.

Als Emine sich endlich schlafen legen will, zittert der Boden. Während sie verschüttet wird, hört sie Sevda schreien. Ein Erdbeben!

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„Dschinns“ ist sowohl ein Familien- als auch ein Gesellschaftsroman. Fatma Aydemir erzählt mitreißend von einer kurdischen Familie, die mehr als 20 Jahre lang in Deutschland lebt. Während die Tochter Sevda die Türkei erst mit knapp 16 verließ, ohne je eine Schule besucht zu haben, wuchs ihre jüngere Schwester Peri vom dritten Lebensjahr an in Deutschland auf, wurde in dieser Umgebung sozialisiert und fing nach dem Abitur zu studieren an.

In „Dschinns“ geht es nicht nur um Migration, Culture Clash und ein Leben zwischen den Kulturen, sondern Fatma Aydemir greift auch zahlreiche andere Themen auf, zum Beispiel: patriarchalische Familienstrukturen, Rebellion und Emanzipation, Identitätsfindung und Transsexualität, Homo- und Xenophobie, Diskriminierung, Racial Profiling, Polizeigewalt und Korruption.

Fatma Aydemir entwickelt „Dschinns“ aus sechs verschiedenen Perspektiven: Hüseyin, Ümit, Sevda, Peri, Hakan, Emine. Die Gegenwart ist das Jahr 1999, aber jede der Romanfiguren erinnert sich an frühere Erlebnisse, die in der Zusammenschau aus den unterschiedlichen Blickwinkeln das Gesamtbild ergeben.

Keine der deutschstämmigen Nebenfiguren wirkt sympathisch, und die Kapitel über Hakan und Ümit bleiben dünn, aber die drei Frauenfiguren Emine, Sevda und Peri arbeitet Fatma Aydemir differenziert in ihrer Widersprüchlichkeit heraus.

Bemerkenswert ist, dass sowohl das erste als auch das letzte Kapitel in der ungewöhnlichen Zweiten Person Singular verfasst sind und dabei jeweils ein Ich aus dem Off zu hören ist:

Hüseyin … weißt du, wer du bist, Hüseyin […]

Ebenso gelungen ist es, dass im Kapitel über Peri eine Figur (Ciwan) auftaucht und verschwindet, über deren Identität wir erst am Ende mehr erfahren. Peri ist es auch, die sich daran erinnert, wie sie mit ihrer Mutter einmal darüber sprach, dass es im Türkischen kein grammatisches Geschlecht gibt. Im letzten Kapitel wird dann gewissermaßen aus einem „Es“ ein „Er“.

Eindrucksvoll ist nicht zuletzt die nächtliche Aussprache von Mutter und Tochter, bei der Fatma Aydemir den Dialog durch einen inneren Monolog Emines (und die bereits erwähnte Stimme aus dem Off) ergänzt.

Der Plural „Dschinns“ ist bewusst falsch. Laut Duden wäre „die Dschinn“ und „die Dschinnen“ korrekt. Ümit fragt seine Schwester Peri nach der Ankunft in Istanbul, was ein Dschinn sei, und sie denkt darüber nach:

„Man nennt sie auf Türkisch nur die mit den drei Buchstaben, statt cin, aus Angst man könnte sie versehentlich rufen und werde sie dann nie mehr los. Was ist die Mehrzahl von Dschinn? Dschinns? Was ist die Mehrzahl von Dschinn? Dschinns? Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil es sich mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen lässt und nichts erbarmungsloser ist als die eigene Fantasie? […]
Wenn jemand nicht dem entspricht, was die meisten Menschen als normal empfinden, heißt es schnell: Der und der ist von einem Dschinn besessen.“
„Weil Dschinns böse sind?“, fragt Ümit.
„Das denken die Leute dann, aber eigentlich ist es gar nicht so. Dschinns sind weder gut noch böse … Wenn man nach dem Koran geht. Sie können beides sein oder nichts davon. Wie Menschen eben.“

Fatma Aydemir, deren türkische Großeltern als Gastarbeiter nach Deutschland gezogen waren, wurde 1986 in Karlsruhe geboren und wuchs in einem Vorort auf. Nach dem Studium der Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main begann Fatma Aydemir als Journalistin zu arbeiten. 2017 veröffentlichte sie den Roman „Ellbogen“ ‒ und erhielt dafür den Klaus-Michael Kühne-Preis des Harbour-Front-Literaturfestivals für den besten Debütroman des Jahres. „Dschinns“ ist ihr zweiter Roman. Dafür wurde sie mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.

Den Roman „Dschinns“ von Fatma Aydemir gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sesede Terziyan.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Fatma Aydemir: Ellbogen

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