Gerbrand Bakker : Der Sohn des Friseurs

Der Sohn des Friseurs
De kapperszoon Uitgeverij Cossee, Amsterdam 2022 Der Sohn des Friseurs Übersetzung: Andreas Ecke Suhrkamp Verlag, Berlin 2024 ISBN 978-3-518-43158-0, 288 Seiten ISBN 978-3-518-77844-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Simon hat den Friseur-Salon seines Großvaters übernommen, weil sein Vater nach der Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa am 27. März 1977 – ein halbes Jahr vor Simons Geburt – für tot erklärt wurde. In einem zweiten Handlungsstrang erzählt Gerbrand Bakker die Geschichte aus der Perspektive des Vaters, der die Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa überlebt, sich aber nie zurückmeldet und ein neues Leben als Friseur auf der kanarischen Insel führt.
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Kritik

Gerbrand Bakker hat den Roman "Der Sohn des Friseurs" aus zwei Teilen zusammengefügt, einer in der Gegenwart spielenden Geschichte über den Sohn, und einem gut 40 Jahre zuvor beginnenden Handlungsstrang mit dem Vater im Zentrum. Dabei gibt es eine Reihe von Parallelen und Spiegelungen. Und dann ist da noch ein namenloser Schriftsteller, der vorhat, einen Roman wie den vorliegenden zu schreiben: Gerbrand Bakkers Alter Ego.
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Simon

Simons Vater Cornelis Weiman war an Bord der KLM-Boeing, die am 27. März 1977 bei der Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa zerstört wurde. Keiner der Insassen überlebte. Ein halbes Jahr später, am 4. September 1977, wurde Simon in Amsterdam geboren, und weil er keinen Vater mehr hatte, übernahm er schließlich den Friseur-Salon seines Großvaters Jan: „Chez Jean“. Simon wohnt über dem Salon, und die Immobilie gehört ihm. Es fehlt ihm an nichts, zumal er anspruchslos und alles andere als ehrgeizig ist. Deshalb genügen ihm vier Kunden am Tag. Hin und wieder nimmt er einen Mann mit ins Schlafzimmer, aber feste Beziehungen vermeidet er.

Seine Mutter Anja betreut mit ihrer Freundin Henny gemeinsam eine Gruppe geistig behinderter Jugendlicher in der Schwimmhalle. Als Henny kurzerhand mit ihrem neuen Freund, einem schwarz arbeitenden Handwerker, nach Teneriffa fliegt und sich nicht absehen lässt, wann sie zurückkommt, drängt Anja ihren Sohn, für Henny einzuspringen.

Der 18-jährige Igor kann zwar nicht sprechen, sieht aber ungewöhnlich gut aus und erinnert Simon an eines seiner Idole, den eleganten russischen Schwimmer Alexander Wladimirowitsch Popow. Anja entgeht nicht, dass ihr Sohn eine Erektion bekommt, als Igor sich im Wasser an ihn klammert.

Im Salon taucht ein ebenfalls schwuler Schriftsteller auf, der Eindrücke für einen geplanten Roman über einen Friseur sammeln möchte. Als er hört, dass Simons Vater nach der Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa vor vier Jahrzehnten für tot erklärt wurde, ohne dass seine Leiche identifiziert werden konnte, stellt er dazu Fragen – und weckt nun auch Simons Interesse an den Ereignissen von damals. Er googelt, bis er weiß, wie es zu der Flugzeugkatastrophe kam. Dabei findet er auch heraus, dass Evelyn („Eve“) Meyer (1928 – 1977) unter den Toten war, Playmate vom Juni 1955 und von 1952 bis 1969 mit Russ Meyer verheiratet. Vom Großvater erfährt Simon, dass in der KLM-Maschine auch Jacob Willems war, ein 21-jähriger Praktikant im Friseursalon „Chez Jean“.

Cornelis

Cornelis Weiman schleicht sich aus dem Haus und fährt mit dem Praktikanten seines Vaters Jan zum Flughafen Schiphol. Jakob Willems gehört zu einer Reisegesellschaft der Holland International Travel Group, die eine KLM-Boeing gechartert hat. Der schwule 21-Jährige überredete Simon, mitzukommen, und Cornelis Weiman bekam ohne Weiteres einen Platz als Einzelreisender in der Maschine.

Weil der Zielflughafen auf Gran Canaria gesperrt ist, wird die KLM-Maschine am 27. März 1977 nach Teneriffa umgeleitet. Die Stunden bis zum Weiterflug verbringen die Fluggäste in der Wartehalle des Flughafens Los Rodeos. Aber in dieser Zeit kommt Cornelis zur Besinnung – und als das Boarding erfolgt, bleibt er zurück.

Während Jacob ohne ihn an Bord geht, verlässt Cornelis das Flughafengebäude, ohne sich irgendwo abzumelden. Gedankenlos strandet er in San Cristóbal de La Laguna und nimmt sich ein Hotelzimmer. Erst am nächsten Tag hört er von der Flugzeugkatastrophe, der er entkommen ist.

Cornelis lässt sich von Manuel González anstellen, dem Betreiber der Barbería Juan Flórez, und weil kein Spanier seinen Vornamen aussprechen kann, heißt er von da an Carlos Weiman. Er fängt einfach ein neues Leben an und denkt gar nicht daran, Kontakt mit seinen Angehörigen aufzunehmen. Im Schaufenster des Salons prangt nun ein Schild mit dem Satz „Hier spricht man niederländisch“.

Carlos

Zwölf Jahre später, 1989, zieht Manuel sich aus Altersgründen zurück – und der 36-jährige Carlos Weiman übernimmt den Salon. Aus der barbería wird eine peluquería, das heißt, es wird auch Damen das Haar geschnitten und frisiert.

Vier Jahrzehnte nach der Flugzeugkatastrophe lässt sich eine niederländische Touristin von Javi, einem der Angestellten im Friseursalon, die Haare schneiden und erzählt, dass sie vor einigen Monaten mit einem Freund nach Teneriffa kam. Zur Zeit wohnen die beiden in einem Engländern gehörenden Ferienhaus, das der Freund für die Besitzer umbaut.

Sie fragt „Carlos“, ob er Cornelis Weiman sei, und er erkennt Henny, die Freundin seiner Ehefrau Anja. Von ihr erfährt er nun, dass sein Vater Jan noch lebt, Anja nie wieder geheiratet hat und sein Sohn Simon den Friseursalon in Amsterdam betreibt. „Was soll denn nun werden?“, fragt Henny, und Cornelis antwortet: „Ich weiß auch nicht, was nun werden soll.“

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In seinem Roman „Der Sohn des Friseurs“ erzählt Gerbrand Bakker von einem Friseur, dessen Vater vermeintlich ein halbes Jahr vor seiner Geburt bei der Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa am 27. März 1977 starb. Die Mutter, die kein zweites Mal geheiratet hat, mag nicht über ihren längst für tot erklärten Ehemann reden, aber mehr als 40 Jahre nach dem Flugzeug-Zusammenstoß beginnt der Sohn im Internet Informationen darüber zu suchen. Das hat nicht zuletzt ein Schriftsteller bewirkt, der über einen vaterlos aufgewachsenen Friseur schreiben möchte. Über die Vorgänge am 27. März 1977 auf Teneriffa wird in „Der Sohn des Friseurs“ ausführlich berichtet, und dabei hebt Gerbrand Bakker auch eine Reihe von damit zusammenhängenden Zufällen hervor.

In einem zweiten Handlungsstrang erzählt Gerbrand Bakker die Geschichte aus der Perspektive des Vaters, der die Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa überlebt, sich aber nie zurückmeldet und ein neues Leben als Friseur auf der kanarischen Insel führt.

Gerbrand Bakker hat „Der Sohn des Friseurs“ also aus zwei Teilen zusammengefügt, einer in der Gegenwart spielenden Geschichte über den Sohn, und einem gut 40 Jahre zuvor beginnenden und in der Gegenwart endenden Handlungsstrang mit seinem Vater im Zentrum. Dabei gibt es eine Reihe von Parallelen und Spiegelungen: Vater und Sohn sind Friseure. Während der Vater letztlich die Flugzeugkatastrophe auf Teneriffa überlebt, weil er sich auf Teneriffa besinnt und der Verführung durch den schwulen Praktikanten seines Vaters im Friseursalon widersteht, gerät der Sohn durch einen hübschen behinderten 18-Jährigen in ein Gefühlschaos.

Und dann ist da noch ein namenloser Schriftsteller, der vorhat, einen Roman wie den vorliegenden zu schreiben. Dieser Schriftsteller – Gerbrand Bakkers Alter Ego – vertritt die Meinung, dass man eine Story nicht komplett auserzählen sollte. Daran hält sich der Autor in „Der Sohn des Friseurs“: die Geschichte entwickelt sich im Kopf der Leserin bzw. des Lesers, und das Ende bleibt völlig offen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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