James Baldwin : Beale Street Blues

Beale Street Blues
If Beale Street Could Talk Dial Press, New York 1974 Beale Street Blues Übersetzung: Nils Thomas Lindquist Rowohlt Verlag, Reinbek 1974 Beale Street Blues Neuübersetzung: Miriam Mandelkow Nachwort: Daniel Schreiber dtv, München 2018 ISBN 978-3-423-28987-0, 221 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die beiden miteinander in Harlem aufgewachsenen, inzwischen 19 bzw. 22 Jahre alten Afroamerikaner Tish und Fonny wollen heiraten. Aber die Polizei bringt eine vergewaltigte Puerto-Ricanerin dazu, Fonny als Täter zu identifizieren. Während er im Gefängnis auf den Prozess wartet, merkt Tish, dass sie schwanger ist …
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Kritik

Die Handlung des mitreißenden Romans "Beale Street Blues" spielt vor dem Hintergrund einer rassistischen Gesellschaft in den USA um 1970, aber es geht James Baldwin nicht nur um Gesellschaftskritik, sondern mehr noch um die Veranschaulichung seiner Überzeugung, dass Liebe, Solidarität und Zusammenhalt lebenswichtig sind.
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Tish und Fonny

Clementine („Tish“) Rivers und Alonzo („Fonny“) Hunt wohnen beide im New Yorker Stadtteil Harlem und sind seit den ersten Schuljahren befreundet.

Tishs Eltern, Sharon und Joseph („Joe“) Rivers, lernten sich am Busbahnhof in Albany kennen. Dort schleppte er Koffer, als er Sharon erblickte, die auf dem Weg nach New York war. Kurz entschlossen kaufte er sich ebenfalls eine Fahrkarte – und eine Woche nach der Ankunft in New York heirateten die beiden. Sharon war 24, als sie Tish gebar. Deren ältere Schwester Ernestine („Sis“) engagiert sich inzwischen in einem Jugendzentrum. Joe fuhr nach der Eheschließung erst einmal zur See, bis er dann als Hafenarbeiter anfing.

Fonnys Vater Frank Hunt betrieb früher einen Schneiderladen. Aber den musste er längst schließen, und inzwischen verdient er den Lebensunterhalt für die Familie als Arbeiter. Seine Frau Alice und die beiden 27 bzw. 24 Jahre alten unverheirateten Töchter Adrienne und Sheila fühlen sich als etwas Besseres als die Rivers, weil sie zwar ebenfalls Afroamerikaner sind, aber ihre Hautfarbe etwas heller ist.

Heiratspläne

Als Tish 19 Jahre alt ist und Fonny 22, werden sie sich bewusst, dass sie nicht länger wie Bruder und Schwester sind. Sie begehren sich, gestehen sich ihre Liebe und wollen heiraten. Fonny weist Tish allerdings darauf hin, dass er arm ist und keine Aussicht auf mehr Geld hat, weil er Bildhauer werden möchte und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Tish werde arbeiten müssen, warnt er sie. Die junge Frau lässt sich von der Vorstellung, weiter am Parfümstand eines Kaufhauses bedienen zu müssen, nicht schrecken.

Weil sie noch bei den Eltern wohnt und Fonnys Zimmer zu klein ist, suchen die beiden nach einem billig anzumietenden Speicher, der sich auch als Atelier eignet.

Zwischenfall

Lange Zeit erhalten sie nur Absagen, denn kaum jemand vermietet auch nur einen Speicher oder eine Kellerwohnung an Afroamerikaner. Ein Jude aus der Bronx stellt dem verliebten Paar schließlich einen leer stehenden Dachboden zur Verfügung. Erfreut gehen die beiden nach Hause.

In Little Italy will Tish noch ein paar Tomaten kaufen, und Fonny nutzt die Zeit, um Zigaretten zu besorgen. Ein weißer Junkie pöbelt Tish an. Beim Verlassen des Gemüseladens stellt er sich ihr in den Weg, bis sie ihn ohrfeigt. In diesem Augenblick kommt Fonny zurück – und schlägt den Jungen nieder. Der rothaarige Polizist Bell, der das von der anderen Straßenseite aus beobachtet, kommt angerannt. Vergeblich stellt Tish sich vor Fonny. Keiner der Umstehenden sagt etwas. Nur die italienische Gemüsehändlerin berichtet aufgebracht, dass ihre Kundin von dem weißen Jungen angegriffen wurde und verhindert Fonnys Festnahme.

Fonny ahnt, dass der Officer diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen wird.

Er hat nämlich sich selbst gefunden, so richtig, innen drin: Und das hat man gemerkt. Er ist niemandes Nigger. Und das ist ein Verbrechen in diesem beschissenen freien Land. Von irgendwem muss man der Nigger sein. Wenn man niemandes Nigger ist, dann ist man ein böser Nigger.

Verhaftung

Bald darauf wird Fonny verhaftet. Er soll die junge Puerto-Ricanerin Victoria Rogers vergewaltigt haben. Officer Bell behauptet, er habe ihn vom Tatort weglaufen sehen, und bei einer Gegenüberstellung identifiziert das Opfer Fonny als Täter. Allerdings steht er zwischen Weißen und Afroamerikanern, die alle eine hellere Hautfarbe haben als er.

Daniel Carty sagt aus, dass er zur Tatzeit ebenso wie Tish bei seinem Freund Fonny in der Wohnung gewesen sei. Weil der 23-Jährige jedoch erst vor drei Monaten aus dem Gefängnis kam, glaubt man ihm nicht. (Die Polizei hatte ihn mit etwas Haschisch in der Hosentasche erwischt und ihm dann auch gleich noch einen Autodiebstahl untergeschoben. Deshalb war er zu zwei Jahren Haft verurteilt worden.)

Tishs Schwester Ernestine besorgt Fonny einen weißen Rechtsanwalt namens Hayward. Weil die Gehälter von Joe und Frank, Tish und Ernestine nicht für das Honorar reichen, stehlen die beiden Väter an ihren Arbeitsplätzen und verhökern die Beute.

Hayward findet heraus, dass es sich bei Officer Bell um einen Rassisten handelt, der vor zwei Jahren einen 12-jährigen Afroamerikaner in Brooklyn erschossen hatte und deshalb nach Manhattan versetzt worden war.

Schwangerschaft

Drei Monate nach Fonnys Verhaftung stellt Tish fest, dass sie schwanger ist. Sie sagt es zuerst ihm, als sie ihn im Gefängnis besucht und mittels einer Art Telefon durch eine Glasscheibe mit ihm spricht. Noch am selben Tag teilt sie die Neuigkeit auch mit ihren Eltern und ihrer Schwester. Die freuen sich darüber und wollen alles tun, um den Vater vor der Geburt freizukriegen.

Joe ruft sofort Fonnys Vater an und fordert ihn auf, mit seiner Frau und den beiden Töchtern herüberzukommen. Während Frank sich darüber freut, Großvater zu werden, reagiert seine bigotte Frau entrüstet. „Wahrscheinlich nennst du eure Lüsternheit Liebe“, sagt sie zu Tish und verflucht das ungeborene Kind.

„Ich hoffe sehr“, sagte sie, „dass Sie zufrieden sind mit der Erziehung Ihrer Töchter, Mrs Rivers.“
[…] Und Mrs Hunt setzte noch eins drauf: „
Meine Mädchen bringen mir bestimmt keine Bastarde ins Haus, die ich durchfüttern muss, das kann ich Ihnen versichern.“

Victoria

Victoria Rogers verschwindet aus New York, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Vor sechs Jahren war sie mit dem US-amerikanischen Ingenieur Gary Rogers, der sie in Puerto Rico kennengelernt hatte, nach New York gekommen. Damals war sie 18. Inzwischen verließ Gary Rogers seine Frau und die drei Kinder, die jetzt bei Verwandten aufwachsen.

Ein Privatdetektiv bestätigt die Vermutung des Rechtsanwalts Hayward, dass Victoria an ihren Heimatort San Juan zurückgekehrt sei. Sie wohnt unter ihrem Mädchennamen Victoria Maria San Felipe Sanchez in einer Favela im Stadtteil Santurce, und ihr neuer Lebensgefährte heißt Pietro Tomasino Alvarez.

Sharon fliegt nach San Juan. Sie spürt zunächst Pietro Tomasino Alvarez in einem Nachtklub auf, aber der will vor allem seine neue Lebensgefährtin beschützen.

„Hören Sie. Ich war nicht dabei, aber Victoria schwört, dass er es war. Und sie hat echt Scheiße durchgemacht. Baby, totale Scheiße, und ich will ihr nicht noch mehr zumuten! Tut mir leid, Lady, […]. Ich hab mir hier was aufgebaut, und ich hab Victoria, und, Lady, ich will nicht, dass sie noch mehr Scheiße erlebt; tut mir leid, Lady, aber ich kann Ihnen echt nicht helfen.“

Am Tag darauf findet Sharon das Vergewaltigungsopfer. Victoria leugnet zunächst, die Gesuchte zu sein. Dann gibt sie es zu, ist jedoch nicht bereit, ihre Aussage zu überdenken oder gar nach New York zurückzukehren. Schließlich schreit sie die Nachbarn zusammen, und Sharon muss die Favela fluchtartig verlassen.

Vor ihrer Abreise erfährt sie noch, dass Victoria nach einer Fehlgeburt irgendwo in den Bergen versteckt wurde.

Ohne die Aussage der Hauptbelastungszeugin vor Gericht sieht die Staatsanwaltschaft keine Chance für eine Verurteilung des Angeklagten. Deshalb wird der Prozess verschoben. Immerhin darf Fonny das Gefängnis erst einmal gegen eine mühsam von Joe und Frank, Tish und Ernestine aufgebrachte Kaution verlassen.

Frank verliert wegen Diebstahls seinen Arbeitsplatz. Zwei Tage später nimmt er sich das Leben.

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Die Polizei in New York bringt eine vergewaltigte Puerto-Ricanerin dazu, einen unschuldigen Afroamerikaner als Täter zu identifizieren. Die Handlung des Romans „Beale Street Blues“ spielt vor dem Hintergrund einer rassistischen Gesellschaft in den USA um 1970, aber es geht James Baldwin nicht nur um Gesellschaftskritik, sondern mehr noch um die Veranschaulichung seiner Überzeugung, dass Liebe, Solidarität und Zusammenhalt lebenswichtig sind. Weil Fonny sich auf seine Braut und deren Familie verlassen kann, ist „Beale Street Blues“ sogar ein hoffnungsvoll endender Roman.

James Baldwin lässt Tish als Ich-Erzählerin zu Wort kommen. Entsprechend einfach ist die Sprache. Vor allem in den Dialogen glauben wir Slang zu hören. Zu Beginn sitzen sich Tish und Fonny durch eine Glasscheibe getrennt gegenüber, denn sie besucht ihn im Gefängnis und teilt ihm mit, dass sie schwanger ist. Die Handlung entwickelt sich also nicht chronologisch, sondern im ständigen Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wie bei einem lebhaften mündlichen Bericht erfahren wir nach und nach, wie es zu der derzeitigen Situation gekommen ist und was weiter geschieht. Dabei hält sich James Baldwin nicht konsequent an die Perspektive, sondern lässt Tish auch von Szenen erzählen, die sie nicht selbst erlebt hat.

Es heißt, James Baldwin sei durch ein persönliches Erlebnis angeregt worden, über einen zu Unrecht inhaftierten Afroamerikaner zu schreiben. Sein Freund William A. („Tony“) Maynard wurde beschuldigt, er sei am 3. April 1967 auf der Straße mit dem Unteroffizier Michael Kroll in Streit geraten und habe ihn erschossen. Erst nach sechseinhalb Jahren Haft kam er am 4. April 1974 frei, weil die Staatsanwaltschaft entlastendes Beweismaterial unterdrückt hatte.

Der Originaltitel des 1974 veröffentlichten Romans von James Baldwin lautet „If Beale Street Could Talk“. Das ist ein Zitat aus einem 1916 von W. C. Handy komponierten Song, der zum Jazz-Standard wurde. Die Beale Street befindet sich in New Orleans, aber die Romanhandlung spielt in New York.

Den Roman „Beale Street Blues“ von James Baldwin in der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Constanze Becker (ISBN 978-3-7424-0637-8).

Romane von James Baldwin wurden zwar in den Sechziger- und Siebzigerjahren ins Deutsche übertragen, aber dann mehr oder weniger vergessen. Die dtv Verlagsgesellschaft brachte 2018 zwei Baldwin-Romane in Neuübersetzungen von Miriam Mandelkow heraus: „Go Tell It on the Mountain“ (1953) / „Von dieser Welt“ und „If Beale Street Could Talk“ (1974) / „Beale Street Blues“. Weitere Neuausgaben von Werken des amerikanischen Autors plant dtv für 2019 und 2020. Lars Claßen, der Programmleiter Literatur, hat die deutschen Rechte für James Baldwins Gesamtwerk von der Nachlassverwalterin in New York erworben.

Raoul Peck drehte über James Baldwin den Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“ (2017), und Barry Jenkins verfilmte den Roman „Beale Street Blues“.

Originaltitel: Beale Street – Regie: Barry Jenkins – Drehbuch: Barry Jenkins  nach dem Roman „Beale Street Blues“ von James Baldwin – Kamera: James Laxton – Schnitt: Joi McMillon, Nat Sanders – Musik: Nicholas Britell – Darsteller: Stephan James, KiKi Layne, Regina King, Colman Domingo, Teyonah Parris, Aunjanue Ellis, Michael Beach, Brian Tyree Henry, Emily Rios, Ed Skrein, Finn Wittrock, Dave Franco, Diego Luna, Ebony Obsidian, Dominique Thorne, Ethan Barrett, Milanni Mines u.a. – 2018; 120 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © dtv Verlagsgesellschaft

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