Julian Barnes : Die einzige Geschichte

Die einzige Geschichte
The only story, 2018 Die einzige Geschichte Übersetzung: Gertraude Krueger Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019 ISBN: 978-3-462-05154-4, 304 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Roman „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes dreht sich um die große unkonventionelle Liebe eines Paares. Als Paul und Susan sich erstmals begegnen, ist er 19, sie 48. Zwei Jahre später verlässt Susan ihren Ehemann und zieht mit Paul nach London. Dort zerstört sie sich im Lauf der Jahre durch Alkohol ...
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Kritik

Julian Barnes überlässt in "Die einzige Geschichte" dem Protagonisten Paul das Wort. Der blickt als 70-Jähriger zurück auf die Beziehung mit Susan, die ein halbes Jahrhundert zuvor begann. Im ersten Teil verwendet er die Ich-Form, in der Mitte des Buches wechselt er zum Du, und im dritten Teil spricht er von sich in der dritten Person Singular, also noch distanzierter.
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Eins

Die Ferien nach dem ersten Studienjahr an der University of Sussex verbringt der 19-jährige Paul Roberts bei seinen Eltern Andy und Bets in einer Village genannten Siedlung 50 Meilen südlich von London, im „Börsenmaklergürtel“. Die Mutter drängt ihn zum Beitritt in den örtlichen Tennisklub und hofft, dass er dort eine passende Freundin findet.

Paul verliebt sich tatsächlich in eine Tennispartnerin, aber zum Entsetzen seiner Eltern ist Susan Macleod 48 Jahre alt.

Nach etwa drei Wochen meiner Mitgliedschaft auf Zeit wurde ein Turnier im Gemischten Doppel ausgetragen, bei dem die Paarungen durch das Los bestimmt wurden. Ich erinnere mich, dass ich später dachte: Los ist doch ein anderer Name für Schicksal, nicht wahr? Das Los teilte mir Susan Macleod als Partnerin zu.

Susan ist seit einem Vierteljahrhundert mit dem gut fünf Jahre älteren Gordon Macleod verheiratet und hat zwei Töchter – Martha und Clara –, die bereits studieren und nicht mehr zu Hause wohnen. Mit ihrem Ehemann hat sie seit zwei Jahrzehnten keinen Sex mehr, und vor der Ehe war da auch nicht viel gewesen. Gerald, ihre erste Liebe, war jung an Leukämie gestorben. Mit dessen unverheirateter Schwester Joan ist Susan noch immer eng befreundet. Joan ist in Gordons Alter und wohnt in einem drei Meilen entfernten Ort.

Sie denken womöglich: Französische Romane, eine ältere Frau, die den jüngeren Mann in ‚die Kunst der Liebe‘ einführt, ooh là là. Aber unsere Beziehung war keine Spur französisch und wir auch nicht. Wir waren englisch, und deshalb standen uns nur die moralisch aufgeladenen englischen Wörter zur Verfügung: Wörter wie sündiges Weib und Ehebrecherin. Dabei war nie ein Mensch so frei von Sünde wie Susan.

Es ist auch nicht so, dass sie mich in „die Kunst der Liebe einführt“, wie es in Büchern so schön heißt. Wir sind, wie gesagt, beide unerfahren. Und sie stammt aus einer Generation, in der man unterstellt, in der Hochzeitsnacht werde der Mann „schon wissen, was er zu tun hat“.

Gordon – den Paul bei seiner ersten Begegnung für den Gärtner hält – arrangiert sich mit der häufigen Anwesenheit des Studenten, obwohl er selbstverständlich durchschaut, dass er der Liebhaber seiner Frau ist. Der Tennisklub wirft Paul und Susan allerdings hinaus, nachdem Gerüchte aufgekommen sind. Zu einem Skandal kommt es jedoch nicht; das unkonventionelle Liebesverhältnis wird nicht von gesellschaftlichen Sanktionen bedroht.

Hin und wieder führt Gordons Frustration zu Gewaltausbrüchen: Einmal schlägt er Susan mehrere Zähne aus. Bei einer anderen Gelegenheit versucht er, den Nebenbuhler die Treppe hinunterzustoßen. Deshalb kann Paul seine Lebensgefährtin zwei Jahre nach der Begegnung im Tennisklub überreden, ihren Ehemann zu verlassen. Sie ziehen nach London. Seinen Eltern teilt Paul es nur kurz in einem Brief ohne Absender mit.

Zwei

Er will Rechtsanwalt werden und studiert weiter in London. Im letzten Jahr seiner juristischen Ausbildung stellt er fest, dass Susan immer stärker dem Alkohol verfällt.

Du kommst eines Abends nach Hause und findest sie stockbesoffen im Sessel vor, in dem Wasserglas neben ihr steht noch ein daumenhoher Rest von etwas, das kein Wasser ist. Du beschließt, so zu tun, als sei das alles völlig normal – ja, so sehe ein wahres Zuhause aus. Du gehst in die Küche und schaust dich nach etwas um, aus dem sich etwas machen lässt. Du findest ein paar Eier; du fragst, ob sie ein Omelett möchte.

Jetzt lässt sie sich wieder verschwinden. Ihr Körper ist noch da, aber das Innere – der Verstand, das Gedächtnis, das Herz – verflüchtigt sich allmählich. Ihr Gedächtnis ist von Dunkelheit und Unwahrheit vernebelt und bringt nur im Fabulieren eine gewisse Kohärenz zustande. Ihr Verstand oszilliert zwischen betäubter Unbeweglichkeit und hysterischer Flatterhaftigkeit.

Schließlich bringt er Susan ins Krankenhaus, aber als das Bett gebraucht wird, entlässt man sie unverändert.

Wir waren zehn oder zwölf Jahre zusammen – und damit meine ich „zusammen“ – je nachdem, wo man zu zählen anfängt und aufhört. Und diese Jahre fielen zufällig mit dem zusammen, was die Zeitungen gern die „sexuelle Revolution“ nannten: eine Zeit, in der alle durcheinander bumsten – so stellte man es zumindest dar –, eine Zeit der Instant-Freuden und der flüchtigen Affären ohne Schuldgefühle, eine Zeit, in der starke Lust und emotionale Leichtigkeit angesagt waren. Man könnte also sagen, dass meine Beziehung zu Susan ebenso gegen die neuen Normen verstieß wie gegen die alten.

Paul, der inzwischen in einer Kanzlei in Südlondon arbeitet, mietet für sich eine billige Einzimmer-Wohnung.

Zwar willst du sie immer noch verzweifelt retten, aber auf irgendeiner Ebene von Instinkt, Stolz oder Selbstschutz trifft dich ihre Hingabe an den Alkohol jetzt härter und persönlicher als Zurückweisung deiner Person, deiner Hilfe, deiner Liebe.

Als er die doppelte Belastung durch privaten und beruflichen Stress nicht länger erträgt, übernimmt er statt Mandaten die Büroleitung.

Drei

Mit Anfang 30 beschließt Paul, sich von Susan zu trennen. Er wendet sich an ihre Töchter und kündigt an, er werde in drei Monaten das Land verlassen, angeblich aus beruflichen Gründen. Clara weigert sich, aber Martha übernimmt es, sich um Susan zu kümmern, die inzwischen fast alles vergessen hat und sich allenfalls an weit zurückliegende Erlebnisse erinnert.

Ruhelos wechselt Paul von einem Land ins nächste, von einem Job zum anderen. Alle seine neuen Liebesbeziehungen scheitern nach kurzer Zeit.

Als Siebzigjähriger, einige Jahre nach Susans Tod, blickt Paul zurück.

Seiner Ansicht nach gehörte es zu seinen letzten Aufgaben im Leben, Susan richtig in Erinnerung zu behalten. Damit meinte er nicht: korrekt, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Nein, er meinte es so: Es war seine letzte Pflicht ihnen beiden gegenüber, sie so in Erinnerung zu behalten und zu bewahren, wie sie in der ersten Zeit ihres Zusammenseins gewesen war. Sie so in Erinnerung zu behalten, dass sie wieder das hatte, was er ihre Unschuld nannte: eine seelische Unschuld. Bevor die Unschuld verunstaltet wurde. Ja, das war das richtige Wort dafür: vollgekrakelt mit den wilden Graffiti des Alkohol.

Die meisten von uns haben nur eine einzige Geschichte zu erzählen. Damit meine ich nicht, dass uns im Leben nur einmal etwas geschieht: Es gibt unzählige Ereignisse, aus denen wir unzählige Geschichten machen. Aber nur ein Ereignis ist von Bedeutung, nur eins ist letzten Ende erzählenswert. Hier ist meins.

Zuletzt ist es Paul gelungen, seine Schuldgefühle hinter sich zu lassen. Als er Susan kurz vor ihrem Tod ein letztes Mal besuchte, fiel ihm auf, dass seine Gedanken nicht mehr um sie kreisten.

Ich konnte nicht weiter an Liebe und Verlust, an Spaß und Trauer denken. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie viel Benzin ich noch im Tank hatte und wie bald ich eine Tankstelle finden müsste […] Darum stand ich auf und betrachtete Susan ein letztes Mal, keine Träne trat in mein Auge. Auf dem Weg nach draußen ging ich zum Empfang und erkundigte mich nach der nächstgelegenen Tankstelle. Der Mann war mir sehr behilflich.

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Der Roman „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes dreht sich um die große unkonventionelle Liebe eines Paares. Als Paul und Susan sich erstmals begegnen, hat der 19-Jährige gerade das erste Studienjahr absolviert. Sie ist Mutter von zwei Töchtern in seinem Alter, seit etwa 25 Jahren verheiratet und mit 48 Jahren mehr als doppelt so alt wie er. Zwei Jahre später verlässt Susan ihren Ehemann und zieht mit ihrem neuen Lebensgefährten nach London. Während Paul seine juristische Ausbildung abschließt und in einer Kanzlei zu arbeiten beginnt, verfällt Susan immer stärker dem Alkohol und verliert sich darüber. Jahrelang versucht Paul, ihr zu helfen. Dann gibt er auf, überlässt die Sorge um Susan einer ihrer Töchter und geht ins Ausland.

„Die einzige Geschichte“ ist in drei Teile gegliedert. „Eins“ handelt vom Liebesglück, „Zwei“ vom Zerbrechen der Liebesbeziehung und „Drei“ von Pauls Leben nach der Trennung.

Als 70-Jähriger blickt Paul zurück. Julian Barnes überlässt ihm das Wort. Aus der subjektiver Sicht des Protagonisten erfahren wir, was ein halbes Jahrhundert zuvor geschah.

Mit einer Frage an die Leserin bzw. den Leser beginnt das Buch:

Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden? […]
Sie könnten – zu Recht – einwenden, das sei keine wahre Frage. Weil wir uns das nicht aussuchen können. Wenn wir es uns aussuchen könnten, gäbe es die Frage. Können wir aber nicht, darum gibt es keine.

Auch danach wendet sich der Erzähler in „Die einzige Geschichte“ noch mehrmals an die Leser.

Aber ich folge meinen Erinnerungen an die Vergangenheit, ich rekonstruiere sie nicht. Die Szenerie wird also zu wünschen übrig lassen. Vielleicht hätten Sie es gern üppiger. Vielleicht sind Sie es üppiger gewohnt. Aber da kann ich nichts machen. Ich versuche hier nicht, Ihnen eine Geschichte auszumalen; ich versuche, Ihnen die Wahrheit zu erzählen.

Ebenso häufig fügt er eine Metaebene mit Gedanken über die Ereignisse ein.

Auffallend ist der Wechsel des Pronomens in „Die einzige Geschichte“: Im ersten Teil verwendet der Erzähler die Ich-Form. In der Mitte des Buches wechselt er zum Du, und im dritten Teil spricht er von sich in der dritten Person Singular, also noch distanzierter.

Es war, als betrachte – und lebe – er ein Leben in der dritten Person.

Diese Konstruktion ist überzeugend. Psychologisch hätte Julian Barnes in „Die einzige Geschichte“ tiefer gehen können. Was machte ausgerechnet Paul für Susan anziehend? Warum kam sie nicht von Gordon los? Und warum zerstörte sie sich selbst durch Alkoholismus? Parallel dazu hätte Julian Barnes ausleuchten können, wie weit die unkonventionelle Liebesbeziehung für den 19-Jährigen auch eine Form des Aufbegehrens gegen die Erwartungen seiner Eltern war.

Den Roman „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Frank Arnold (ISBN 978-3-8398-1700-1).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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