Julian Barnes : Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte
Originalausgabe: The sense of an ending Verlag Jonathan Cape, London 2011 Vom Ende einer Geschichte Übersetzung: Gertraude Krueger Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011 ISBN: 978-3-462-04433-1, 182 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Vom Ende einer Geschichte" beginnt wie ein Coming-of-Age-Roman, aber im zweiten Teil beschäftigt sich Julian Barnes v.a. mit der Frage nach der Zuverlässigkeit von Erinnerungen und dem Aufdecken von Lebenslügen. Eng verbunden mit der Einsicht in eigene Schuld ist der Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können ...
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Kritik

In seinem Roman "Das Ende einer Geschichte" reißt Julian Barnes nicht durch eine aktionsreiche Handlung mit, sondern fesselt den Leser durch Tiefgang und Nachdenklichkeit.
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Anthony („Tony“) Webster besucht eine Schule im Zentrum von London. Als Adrian Finn neu in die Klasse kommt, erweitert sich die aus Tony, Colin und Alex bestehende Clique um einen vierten Schüler. Adrian ist in seiner persönlichen Entwicklung schon weiter als die anderen, denn die Mutter hatte ihn, seinen Vater und seine Schwester vor Jahren verlassen. Der große schüchterne Junge beeindruckt durch seine Bildung und seine Intelligenz gleichermaßen. Beispielsweise zitiert er im Unterricht Patrick Lagrange:

Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.

Auch Tony liest viel, gesteht sich aber ein, dass Adrian ihm geistig klar überlegen ist.

Vorerst waren wir bücherhungrig, sexhungrig, leistungsorientiert und anarchistisch. Alle politischen und gesellschaftlichen Systeme erschienen uns korrupt, doch als Alternative ließen wir nichts als hedonistisches Chaos gelten. Adrian aber trieb uns dazu, an die Anwendung des Denkens auf das Leben zu glauben, an die Vorstellung, dass Handeln von Prinzipien geleitet sein sollte.

All das, worum es in der Literatur ging: Liebe, Sex, Moral, Freundschaft, Glück, Leid, Verrat, Ehebruch, Gut und Böse, Helden und Schurken, Schuld und Unschuld, Ehrgeiz, Macht, Gerechtigkeit, Revolution, Krieg, Väter und Söhne, Mütter und Töchter, der Einzelne gegen die Gesellschaft, Erfolg und Versagen, Mord, Selbstmord, Tod, Gott. Und Schleiereulen. Natürlich gab es auch Literatur anderer Art – theoretische, selbstreferenzielle, weinerlich autobiografische –, aber das war alles nur Trockenwichserei. Wahre Literatur handelte von psychologischen, emotionalen und gesellschaftlichen Wahrheiten und stellte sie in den Handlungen und Überlegungen der Protagonisten anschaulich dar; der Roman handelte von der Entwicklung eines Charakters im Laufe der Zeit.

Entwickelt sich ein Charakter im Laufe der Zeit? In Romanen natürlich schon: sonst würde die Geschichte ja nicht viel hergeben. Aber im richtigen Leben?

Der 15-jährige Mitschüler Robson erhängt sich, nachdem er seine Freundin geschwängert hat. Das schockiert auch Tony.

Nach dem Schulabschluss trennen sich die Wege der vier Freunde: Adrian erhält ein Stipendium für Cambridge, Tony studiert Geschichte in Bristol, Colin zieht nach Sussex und Alex tritt in die Firma seines Vaters ein.

Während des Studiums freundet Tony sich mit einer fünf Monate älteren Spanisch studierenden Kommilitonin an: Veronica Mary Elizabeth Ford. Obwohl sie seine feste Freundin wird, erlaubt sie ihm keine sexuellen Annäherungen. Nach einiger Zeit lädt sie ihn übers Wochenende ein, um ihn ihrer Familie vorzustellen. Sie wohnen in Chislehurst/Kent an der Eisenbahnstrecke nach Orpington. Während Tony sich mit Veronicas Mutter gut versteht, fühlt er sich von ihrem Vater und ihrem Bruder Jack herablassend behandelt.

Paradoxerweise schläft Veronica einmal mit Tony, nachdem sie ihre Beziehung beendet haben. Bald darauf erhält er einen Brief von ihrer Mutter Sarah Ford. Sie bedauert es, dass Tony und Veronica sich trennten.

Dann schreibt Adrian, er wolle mit Veronica eine Liebesbeziehung beginnen und bitte um Tonys Zustimmung.

Nach dem Studium treibt Tony sich ein halbes Jahr lang in den USA herum. Das benötigte Geld verdient er durch Gelegenheitsarbeiten. Mit einer jungen Amerikanerin namens Annie reist er drei Monate lang quer durch die Staaten. Ihre Beziehung ist unkompliziert; beide wissen, dass sie nicht dauerhaft ist. Sie rauchen Dope zusammen und genießen das Leben.

Als Tony wieder nach Hause kommt, findet er bei seinen Eltern einen Brief von Alex vor. Adrian sei tot, heißt es darin. Der 22-Jährige schnitt sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Augenscheinlich handelte es sich nicht um eine Kurzschlusshandlung, denn er hatte noch einen Abschiedsbrief geschrieben und einen Zettel an die Badezimmertür gehängt: „NICHT REINKOMMEN – POLIZEI RUFEN“.

In seinem an die Polizei gerichteten Abschiedsbrief erläutert er seine Beweggründe für den Suizid:

Das Leben sei ein Geschenk, um das niemand gebeten habe; der denkende Mensch habe eine philosophische Pflicht, das Wesen des Lebens wie auch die damit einhergehenden Bedingungen zu erforschen und wenn dieser Mensch sich entscheide, dieses Geschenk, um das niemand gebeten habe, zurückzuweisen, sei es seine moralische und menschliche Pflicht, den Konsequenzen dieser Entscheidung gemäß zu handeln.

Tonys Mutter fragt: „Glaubst du, das kommt daher, weil er zu intelligent war?“ Und später konstatiert sie:

Er war tatsächlich zu intelligent. Wer so intelligent ist, der kann sich in alles Mögliche hineinargumentieren. Der vergisst einfach den gesunden Menschenverstand. Seine Intelligenz hat ihn aus der Bahn geworfen, darum hat er das getan.

Tony verlässt das Elternhaus und wird Trainee bei der Kulturverwaltung.

Dann lernt er Margaret kennen. Sie heiraten, drei Jahre später wird Susan („Susie“) geboren, und sie kaufen ein Haus. Schließlich verlässt Margaret ihn wegen eines anderen Mannes. Aber sie bleiben Freunde und teilen sich das Sorgerecht. Margarets zweiter Ehemann lernt nach ein paar Jahren eine jüngere Frau kennen und reicht die Scheidung ein. Susan heiratet im Alter von 24 Jahren einen Arzt und bekommt zwei Kinder.

Im Ruhestand bleibt Tony Mitglied der Historischen Gesellschaft und betreut ehrenamtlich die Bücherei im Krankenhaus.

Eines Tages erhält Tony von der Anwaltskanzlei Coyle, Innes & Black einen Brief. Die Anwältin Eleanor Marriott teilt ihm in der „Nachlasssache Sarah Ford“ mit, er habe 500 Pfund und zwei Dokumente geerbt. Veronicas Mutter starb vor einigen Monaten. Das Testament ist fünf Jahre alt. Tony kann sich nicht vorstellen, warum sie ihm 500 Pfund hinterließ. Das erste der beiden Dokumente ist ein Brief Sarah Fords, indem sie ihr Bedauern darüber ausdrückt, wie Tony bei dem Wochenendbesuch von ihrer Familie behandelt wurde. Das war vor 40 Jahren. Das zweite Dokument befindet sich noch im Besitz von Sarah Fords Tochter. Es dauert einige Zeit, bis Tony herausfindet, dass es sich um Adrian Finns Tagebuch handelt. Warum wollte Sarah Ford, dass er es bekam? Tony beauftragt seinen Anwalt T. J. Gunnell, seine Ansprüche zu vertreten.

Im Zuge der Nachforschungen erfährt er, dass Veronicas Vater vor 35 Jahren an Speiseröhrenkrebs starb, ihre Mutter daraufhin das Haus in Chislehurst verkaufte und nach London zog.

Nachdem er Veronicas E-Mail-Adresse von ihrem Bruder bekam, fragt Tony sie, ob sie wisse, warum ihm ihre Mutter 500 Pfund vermachte. Die Antwort besteht aus einem einzigen Wort: „Blutgeld?“ Tony schreibt Veronica nun eine E-Mail nach der anderen. Manchmal antwortet sie barsch, meistens gar nicht. Einmal schickt sie ihm eine Kopie von ein paar Seiten aus Adrians Tagebuch. Der Text bricht mitten im Satz ab: „Zum Beispiel, wenn Tony“

Unwillkürlich verglich ich mein Leben mit dem Adrians. Die Fähigkeit, sich selbst zu sehen und prüfend zu betrachten; die Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln; der geistige und körperliche Mut seines Selbstmords. „Er hat sich das Leben genommen“, lautet die gängige Formel; aber Adrian hatte auch die Verantwortung für sein Leben, die Herrschaft über sein Leben übernommen, er hatte es selbst in die Hand genommen – und dann fallen lassen.

Bei einer Verabredung auf der Fußgängerbrücke über die Themse zwischen St. Paul’s Cathedral und Tate Gallery of Modern Art behauptet Veronica, sie könne ihm das Tagebuch nicht aushändigen, weil sie es verbrannt habe. Aber sie gibt ihm ein Kuvert mit. Es enthält eine Fotokopie des Briefes, mit dem Tony damals Adrians Frage beantwortete, ob er mit einer Beziehung seines Freundes mit Veronica zustimme. Der Brief, an den Tony sich kaum noch erinnerte, ist voller Gehässigkeiten.

Ich hoffe so halbwegs, ihr kriegt ein Kind, ich halte sehr viel von der Rache der Zeit, möge sie die Missetaten der Väter heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied.

Er entschuldigt sich in einer E-Mail an Veronica für den Brief. Sie reagiert darauf mit dem Satz: „Du kapierst wohl gar nichts, was? Hast du ja nie.“

Daraufhin bittet er sie um ein weiteres Treffen. Als er pünktlich in die Cafeteria eines Warenhauses kommt, wo sie sich verabredet haben, sitzt sie bereits da und liest in einem Buch von Stefan Zweig. Tony erzählt aus seinem Leben. Veronica hört eine Weile zu, steht dann unvermittelt auf und geht.

Als er noch einmal mit ihr reden möchte, bestellt sie ihn zu einer U-Bahn-Station im Norden Londons. Dort holt sie ihn mit dem Auto ab und fährt ein Stück weit. Auf dem Gehsteig sehen sie eine Gruppe von fünf geistig Behinderten mit ihrem Betreuer. Veronica steigt aus, fordert Tony jedoch auf, sitzen zu bleiben. Der Sozialarbeiter begrüßt sie freundlich, die Behinderten umringen sie, und einer von ihnen lehnt seinen Kopf an ihre Schulter. Nach einer Weile verabschiedet sie sich. „Tschüss, Mary“, ruft einer. Sie kehrt zum Wagen zurück. Als Tony während der Fahrt fragt, warum einer „dieser Stumpfsinnigen“ sie Mary nannte, bremst sie abrupt und wirft ihn hinaus.


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Tony möchte herausfinden, was es mit den Behinderten auf sich hat. Um die Gruppe wiederzusehen, hält er sich immer wieder in einem Laden oder in einer Kneipe in der Gegend im Norden Londons auf, wo er sie zum ersten Mal sah. Nach Wochen taucht die Gruppe mit einer Betreuerin auf. Aus der Nähe fällt Tony die Ähnlichkeit eines schlaksigen jungen Mannes mit Adrian Finn auf. Er ist nun überzeugt, dessen Sohn vor sich zu haben. Im Vorbeigehen raunt er ihm zu, er sei ein Freund von Mary. Das versetzt den jungen Mann in Panik.

Später denkt Tony über die Zusammenhänge nach, über seinen hasserfüllten Brief, den Fluch und den Behinderten, bei dem es sich wohl um den Sohn von Adrian und Veronica handelt. Vor diesem Hintergrund revidiert er seine Meinung über Adrian. Dessen Suizid war eben doch nicht die konsequente Umsetzung einer philosophischen Anschauung.

„Glaubst du, das kommt daher, weil er zu intelligent war?“, hatte meine Mutter zu meinem Ärger gefragt. Nein, mit Intelligenz hatte das nichts zu tun und mit moralischer Tapferkeit schon gar nicht. Er hatte nicht mit großer Geste ein existenzielles Geschenk zurückgewiesen; er hatte sich vor einem Kinderwagen im Flur gefürchtet.

Tony schickt Veronica eine weitere E-Mail, in der er sich entschuldigt und seinen Verzicht auf das Tagebuch erklärt. Die Antwort lautet erneut: „Du kapierst wohl gar nichts, was? Hast du ja nie.“

Als Tony in dem Lokal im Norden Londons isst, kommt die Gruppe der Behinderten herein. Diesmal ist wieder der Betreuer dabei, der Veronica herzlich begrüßte. Ängstlich von seinen Schützlingen beobachtet, kommt er zu Tony an den Tisch. Nachdem er sich vorgestellt hat – er heißt Terry – erklärt er Tony, dass Adrian sich durch seine Anwesenheit gestört fühle. Da verspricht Tony, nur noch aufzuessen und dann zu verschwinden. Er erzählt Terry, dass er sowohl mit dem Vater als auch mit der Mutter des jungen Mannes befreundet gewesen sei: Adrian Finn senior und Veronica Ford. Weil Terry ihn verwirrt anblickt, sagt Tony, er kenne Veronica offenbar unter ihrem zweiten Vornamen Mary. Aber das ist es nicht, was Terry zu denken gibt. Er weist Tony darauf hin, dass Mary die Schwester des jungen Adrian sei, nicht die Mutter, die sei vor einem halben Jahr gestorben.

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„Vom Ende einer Geschichte“ beginnt wie ein Coming-of-Age-Roman, aber im zweiten Teil beschäftigt sich Julian Barnes vor allem mit der Frage nach der Zuverlässigkeit von Erinnerungen.

Am Ende ist das, was man in Erinnerung behält, nicht immer dasselbe wie das, was man beobachtet hat.

Der Protagonist hat Erinnerungen an sein hässliches Verhalten verdrängt, wird jedoch im Alter noch einmal damit konfrontiert und erkennt zumindest einen Teil seiner Lebenslügen. Eng verbunden mit der Einsicht in eigene Schuld ist der Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können. Als Metapher dafür verwendet Julian Barnes ein seltenes Naturschauspiel: Der weltweit zweitstärkste Tidenhub führt an der Mündung des Severn dazu, dass eine Gezeitenwelle (Severn Bore) stromaufwärts fließt.

Die Zeit sollte das Maß der Geschichte sein, oder nicht? Doch wenn wir die Zeit nicht verstehen, die Mysterien ihres Fortgangs und Fortschritts nicht begreifen können, wie soll das erst bei der Geschichte sein – und sei es nur unserem eigenen kleinen, persönlichen, weitgehend undokumentierten Anteil daran?

Julian Barnes gliedert seinen leisen Roman in zwei Teile. Als der zweite Teil beginnt, hat der Protagonist längst Schuld auf sich geladen; er weiß es nur noch nicht. „Das Ende einer Geschichte“ reißt nicht durch eine aktionsreiche Handlung mit, sondern fesselt den Leser durch Tiefgang und Nachdenklichkeit.

Der Ich-Erzähler wendet sich wiederholt an ein Du, ohne dass wir erfahren, wer damit gemeint ist.

Im Oktober 2011 wurde Julian Barnes für „Vom Ende einer Geschichte“ mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.