Dörthe Binkert : Vergiss kein einziges Wort

Vergiss kein einziges Wort
Vergiss kein einziges Wort dtv Verlagsgesellschaft, München 2018 ISBN: 978-3-423-28964-1, 671 Seiten ISBN: 978-3-423-43469-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Generationen übergreifende, 1921 beginnende und 2004 endende Geschichte spielt fast ausschließlich in Oberschlesien. Dort überschneiden sich mehrere Konfliktlinien: Deutsche gegen Polen, Protestanten gegen Katholiken, Nichtjuden gegen Juden, Nationalsozialisten gegen Andersdenkende. Zugleich ändern sich mehrmals die politischen Verhältnisse, z.B. wenn der 1922 von Polen übernommene Teil Oberschlesiens 1939 von den Deutschen erobert wird und 1945 erneut an Polen fällt.
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Kritik

"Vergiss kein einziges Wort" ist eine grandiose Mischung aus Familienepos und zeitgeschichtlichem Roman. Dörthe Binkert versteht es, gesellschaftspolitische Konflikte und Entwicklungen mit lebendigen Figuren zu veranschaulichen. So entsteht ein breites, facettenreiches gesellschaftliches Spektrum. "Vergiss kein einziges Wort" ist nicht nur ein lehr- und aufschlussreicher, sondern auch ein packender und bewegender Roman.
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Zeitgeschichtlicher Hintergrund

In Oberschlesien, wo polnisch, tschechisch und deutsch gesprochen wurde, fand im März 1921 eine Volksabstimmung statt, bei der eine klare Mehrheit (59,4 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 98 Prozent) für einen Verbleib beim Deutschen Reich votierten. Aber 1922 sprachen die alliierten Siegermächte nur 70 Prozent des Abstimmungsgebiets dem Deutschen Reich zu. Der Osten Oberschlesiens fiel an Polen. Während auf deutscher Seite die polnische Bevölkerung drangsaliert wurde, war es jenseits der Grenze umgekehrt.

1939 überfiel das Deutsche Reich Polen – und damit auch den polnischen Teil Oberschlesiens, der nun wieder von den Deutschen beherrscht wurde.

Anfang 1945 flohen viele Schlesier vor der Roten Armee nach Westen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die Alliierten das östlich der Oder-Neiße-Linie liegende Gebiet Schlesiens unter polnische Verwaltung. Die deutschen Ortsnamen wichen polnischen, und die bereits vor dem Kriegsende begonnene Vertreibung der deutschen Bevölkerung wurde fortgesetzt. Das Eigentum der Vertriebenen ging in den Besitz des polnischen Staates über (Bierut-Dekrete). Im Zusammenhang mit der Vertreibung kamen vermutlich mehr als 600 000 Schlesier ums Leben oder wurden vermisst.

Parallel dazu wurden Polen aus dem Osten des Landes vertrieben und in Schlesien angesiedelt.

Martha und Carl Strebel

Martha Wieczorek wird 1881 in Oppeln geboren. Die protestantische Oberschlesierin kommt im Alter von 15 Jahren nach Breslau und wird Dienstmädchen bei einer Anwaltsfamilie.

In Breslau lernt Martha Carl Strebel kennen, einen 1869 in der niederschlesischen Metropole geborenen, ebenfalls protestantischen Beamten der Deutschen Reichsbahn. Die beiden heiraten. 1918 wird Carl Strebel im Zuge einer Beförderung nach Oberschlesien versetzt. Daraufhin zieht er mit Martha und den Kindern Konrad, Heinrich, Ida, Hedwig („Hedel“) und Klara nach Gleiwitz. Der 1915 geborene Sohn Anton starb noch im ersten Lebensjahr.

In Gleiwitz bringt Martha Strebel 1921 das letzte Kind zur Welt: Luise.

Martha Strebel stirbt 1938.

Im Frühjahr 1945 dringen die Russen nach Gleiwitz vor. Dass Carl Strebel seine Reichsbahn-Uniform anzieht, obwohl er seit 1934 pensioniert ist, wird ihm zum Verhängnis: Die russischen Soldaten, die das Mietshaus in der Paulstraße durchsuchen, erschießen ihn auf der Stelle. Die anderen Bewohner, die sich im Keller zusammendrängen, kommen mit dem Schrecken davon.

Konrad und Paulina Strebel

Konrad Strebel wird 1900 in Breslau geboren. 1918 kommt er mit seinen Eltern und Geschwistern nach Gleiwitz., Während der Vater deutschnational eingestellt ist und sich der zwei Jahre jüngere Bruder Heinrich zum überzeugten Nationalsozialisten entwickelt, denkt Konrad an die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und meint 1921:

Aber warum will niemand in diesem Land von den sozialen Konflikten sprechen? Nationale, patriotische Gefühle sind das eine, aber Korfanty hat es geschafft, die polnisch-nationale mit der sozialen Frage zu verbinden. Eine Ewigkeit waren die Menschen hier einen Dreck wert, Leibeigene der adligen Großgrundbesitzer, sie waren Gegenstände wie die Hütten, in denen sie hausten, Besitz der Gutsherren wie die Äcker, die sie umgruben. Kauften die Herren ein Grundstück, ein Dorf, kauften sie die Menschen, die da lebten, mit. Als man die Bodenschätze entdeckte, schufteten die Bauern auf dem Acker und noch dazu in den Gruben, denn auch die gehörten den Adligen, weil ihnen der Boden gehörte, in dem die Kohle und die Erze lagen. Und als die Leute nach der Landreform endlich Land erwerben durften, hatten sie das Geld nicht. Unsere Schwerindustrie wächst und gedeiht. Möglich machen’s die Bergleute aus Polen. Aber die sollen gefälligst Arbeiter bleiben. Schulen, Bildung, Aufstiegsmöglichkeiten für polnische Bauern und Grubenarbeiter? Nein, bei Gott, das ist nicht vorgesehen.

Konrad Strebel absolviert eine Ausbildung zum Industriekaufmann. 1921 überwirft er sich mit seinem Vater und seinem Bruder Heinrich, weil er gegen deren Willen beabsichtigt, die Polin Paulina Kuczynski aus Laband zu heiraten, in deren katholischer Familie alle Männer Bergleute sind. Paulina besuchte eine deutsche Schule und arbeitet in der Kohlenhandlung von Jacob Luschowsky in Gleiwitz. Bei der Hochzeit im Jahr 1922 ist Paulina bereits schwanger. Das Paar bekommt zwei Kinder: Erwin und Gerda.

Konrad arbeitet bei der Heimbela Baugenossenschaft, aber 1938 stuft man ihn beruflich zurück, weil er mit einer Polin verheiratet ist. Weil die Polen im deutschen Teil Oberschlesiens schikaniert werden, ziehen Paulinas Eltern 1938 nach Katowice (Kattowitz), also in den Teil Oberschlesiens, der 1922 Polen zugesprochen wurde.

Die Gestapo holt Konrad 1939 zu einer Vernehmung ab. Man wirft ihm vor, dass Paulinas  in Kattowitz lebender Onkel an den beiden ersten polnischen Aufständen in Oberschlesien teilgenommen und bei der Abstimmung im Jahr 1921 für Polen – also gegen Deutschland – agitiert habe. Konrad wird aufgefordert, zu zeigen, dass er die antideutsche Gesinnung des polnischen Verwandten nicht teilt. Zur Bewährung muss er in den Krieg.

Ende August 1943 erhält Paulina Strebel die Nachricht, dass ihr Mann in einem russischen Gefangenenlager in Morschansk gestorben sei.

Ihr Sohn Erwin gerät 1945 in britische Kriegsgefangenschaft.

Nach dem Krieg lebt Paulina mit ihrer Tochter Gerda in Katowice. 1956 ziehen die beiden nach Hamburg, wo Erwin inzwischen lebt.

Heinrich und Helga Strebel

Heinrich Strebel wird 1902 in Breslau geboren. 1918 ziehen die Eltern mit ihm und seinen Geschwistern nach Gleiwitz. Er studiert Ingenieur-Wissenschaften, fängt in der Draht- und Nagelwerk-Fabrik in Gleiwitz zu arbeiten an und tritt in die NSDAP ein.

Als die Nationalsozialisten im Juni 1935 den Reichsarbeitsdienst einführen, avanciert Heinrich Strebel zum Leiter des Reichsarbeitsdienstes im Kreis Gleiwitz.

Zur gleichen Zeit, am 29. Juni 1935, heiratet er Helga Mahlkorn, die ebenso wie ihr Vater seine nationalsozialistische Gesinnung teilt. Bei der Hochzeitsfeier wird Heinrichs Bruder Konrad von ein paar Raufbolden zusammengeschlagen, weil er mit einer Polin verheiratet ist.

Das Paar bekommt zwei Kinder: Gudrun und Hermann.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen meint Heinrich Strebel:

Mit Polen im Sack haben wir endlich ein billiges Arbeitskräfte-Reservoir! So ist der Ostfeldzug ja auch rassepolitisch gedacht: die Polen als Arbeitsvolk nutzbar zu machen für das deutsche Herrenvolk. Nur muss das auch administrativ bewältigt werden. Wir richten deshalb deutsche Arbeitsämter in den eroberten Gebieten ein. An der Organisation bin ich maßgeblich beteiligt.

Als sich Anfang 1945 die Rote Armee nähert, täuscht Heinrich Strebel mit gefälschten Papieren vor, er müsse dienstlich nach Ratibor. Auf diese Weise verschafft er sich ein Auto und flieht mit seiner Familie nach Westen.

1947 erfahren Verwandte von ihm, dass er als Bergbau-Ingenieur im Ruhrgebiet sehr gut verdient. Offenbar konnte er sich bei der Entnazifizierung einen „Persilschein“ besorgen.

Ida Strebel

Ida wird 1904 in Breslau als drittes Kind und älteste Tochter der Familie Strebel geboren. Zu Beginn der Zwanzigerjahre wird sie von dem Textilhändler Erwin Weichmann in Gleiwitz eingestellt. 1930 zieht sie nach Breslau, richtet ein eigenes Schneideratalier ein und holt ihre zwölf Jahre jüngere Schwester Klara nach, damit diese ihr helfen kann.

Bei dem jüdischen Kürschner und Pelzhändler Tuchmann lernt sie dessen Tochter Ruth kennen, die 1930 in Berlin ihren Abschluss als Modezeichnerin machte und zwei Jahre älter ist als sie. Die beiden Frauen verlieben sich und werden heimlich ein Paar.

Alice Cohn, die Tochter eines Arztes in Breslau, der wegen seiner jüdischen Herkunft nicht mehr praktizieren darf, ist mit Ruth und Ida befreundet. Aus Furcht vor den Nationalsozialisten setzt sie sich in die Niederlande ab. Ida besucht sie 1938 und bringt ihr Wertsachen von Ruth zur Aufbewahrung, um deren Emigration vorzubereiten, aber die Niederlande haben am 12. Mai 1938 ihre Grenze für Flüchtlinge geschlossen.

In der Nacht vom 9./10. November 1938 werden auch die Fensterscheiben der Kürschnerei Tuchmann eingeschlagen. Der jüdische Besitzer muss die Schlüssel abgeben, und sein Laden wird geplündert. Als die Niederlande nach dem Pogrom noch einmal die Grenzen für jüdische Flüchtlinge öffnen, reist Ruth ab. Ihre Eltern bleiben in Breslau zurück, denn sie können sich nicht vorstellen, den Ort zu verlassen, an dem schon ihre Vorfahren lebten. (Sie werden später deportiert.)

Ida wird von der Gestapo abgeholt und wegen Rassenschande mit einer Jüdin in ein Konzentrationslager gesperrt. Jemand muss sie denunziert haben. Einige Monate später kommt sie zurück, und Klara – die in der Zwischenzeit das Schneideratelier weitergeführt hat – erschrickt über das Aussehen ihrer Schwester.

Nach der erzwungenen Schließung des Schneiderateliers im Jahr 1939 arbeitet Ida in einer Uniform-Fabrik, während Klara zum Vater nach Gleiwitz zurückkehrt.

Am 23. Dezember 1944 kommt auch Ida nach Gleiwitz, und nach Weihnachten fängt sie in der Gleiwitzer Hütte zu arbeiten an, zuerst in der Munitionsfertigung, dann im Büro.

1945 flüchtet Ida nach Berlin. Sie lebt im amerikanischen Sektor und wird später Modeeinkäuferin eines Berliner Warenhauses.

Hedwig Strebel

Hedwig („Hedel“) Strebel kommt 1907 in Breslau zur Welt.

Nachdem sie Mitte der Zwanzigerjahre in Gleiwitz Krankenschwester geworden ist, beginnt sie 1930 eine Affäre mit einem Arzt namens Joachim, der allerdings verheiratet ist und seine Familie nicht aufgeben will. Erst als das Krankenhaus Joachim 1938 wegen seines Eintretens für jüdische Kollegen entlässt, endet das unglückliche Liebesverhältnis.

Kurz darauf lässt Hedwig sich mit dem ein Jahr jüngeren Luftwaffenoffizier Erich Wotruba aus Brieg ein, und 1940 verliebt sie sich erneut in einen verheirateten Krankenhausarzt, in Dr. Theo Urbanke. Um von ihm wegzukommen, wechselt Hedwig 1942 zu einem Lazarett in Bad Altheide. Dort sieht sie im letzten Kriegsjahr Joachim wieder, allerdings nicht als Arzt, sondern als Schwerverletzten.

Anfang 1945 gibt die Wehrmacht Gleiwitz auf, und das Lazarett-Personal wird nach Westen abgezogen. Hedwig bringt ihrer jüngeren Schwester Luise eine Schwesterntracht und nimmt sie und ihre Nichte Traudel mit. Zuflucht finden sie in Bayern.

Als Hedwig 1952 erfährt, dass Joachim in Frankfurt wohnt, fährt sie hin – und kehrt noch am selben Tag zurück, ohne bei ihm geklingelt zu haben.

Klara Strebel

Klara Strebel, Jahrgang 1916, heiratet Ende Juli 1939 Anton Knabei, der mit seinem Vater zusammen einen Malerbetrieb in Breslau geführt hat und sich bald nach der Hochzeit freiwillig  zur Wehrmacht meldet, weil er das für seine Pflicht hält. Klara kehrt daraufhin zu ihrem verwitweten Vater zurück und übernimmt die Aufgaben im Haushalt, um die sich bis dahin Agnes Liedka kümmerte, die mit ihrem Mann, dem Fuhrunternehmer Josef Liedka, und den beiden Töchtern Bärbel und Rita im selben Haus wohnt.

Im September 1940 erhält Klara die Nachricht, dass ihr Mann in der Luftschlacht um England gefallen sei.

1943 fordern Helga und Heinrich Klara und Carl auf, eine befreundete nationalsozialistische Familie aufzunehmen. Kurt und Gunhild Klarhans sind wegen der alliierten Luftangriffe mit ihren beiden Kindern aus Berlin geflohen. Helga und Heinrich behaupten, sie hätten in ihrem Haus zu wenig Platz für eine andere Familie, denn bei ihnen wohne bereits eine Ostarbeiterin namens Halina, die im Haushalt helfe.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die deutschen Bewohner von Gleiwitz Platz für polnische Flüchtlinge aus dem Osten machen müssen, wird auch Klara von den Behörden aus ihrer Wohnung geworfen. Antoni und Apolonia Wiczerek, die mit ihren drei Kindern dort einziehen, bieten ihr einen Schlafplatz in der Speisekammer an. Allerdings können sie nicht verhindern, dass Klara Strebel 1946 abgeholt und ausgewiesen wird.

Luise Strebel

Emma Luise Strebel, das jüngste Kind von Martha und Carl Strebel, kommt erst am 4. Juni 1921, nach dem Umzug der Familie von Breslau nach Gleiwitz, zur Welt.

Im Alter von 14 Jahren freundet sich die Gymnasiastin mit der ein Jahr älteren Magda Kuznik an.

Als Pawel, ein Cousin ihrer Schwägerin Paulina Strebel, Ende August 1938 in Katowice heiratet, verbietet ihr zwar der Vater, in den polnischen Teil Oberschlesiens zu fahren, aber Luise lügt bei Konrad und Paulina und behauptet, sie habe die Erlaubnis erhalten. Ihre Eltern lässt sie glauben, sie besuche ihre Freundin, als sie mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin nach Katowice fährt. Bei der Hochzeitsfeier von Beata und Pawel verliebt sie sich in einen ein Jahr älteren Gast, in Eduard Onderka aus Teschen.

Einige Wochen später stellt sie fest, dass sie bei der Defloration in Katowice geschwängert wurde. Aber zwischen ihr und Eduard befindet sich die Grenze. Sie können nicht zusammenkommen. Der Vater wirft sie aus dem Haus, und sie wird von Anna Kuznik aufgenommen, der Mutter ihrer Freundin Magda. Ihre Schwester Hedwig unterstützt sie und sorgt dafür, dass Luise ihre Tochter Traudel im Krankenhaus zur Welt bringt.

Hedwig ist es auch, die ihr und Traudel im Januar 1945 zur Flucht von Gleiwitz in den Westen verhilft.

In München absolviert Luise eine Ausbildung zur Buchhalterin.

Ende der Sechzigerjahre zieht sie mit Traudel und deren Ehemann nach Darmstadt.

Luises Enkelin Julia spürt 2004 ihren inzwischen 84-jährigen Großvater Eduard Onderka in Krakau auf. Sie schreibt ihm und fährt schließlich mit Luise zu einem Treffen mit ihm nach Gliwice. Eduard berichtet, dass er sich nach der Niederlage Polens den Partisanen angeschlossen und in diesem Kreis seine spätere Ehefrau Kaschka kennengelernt habe.

Anna und Magda Kuznik

Weil Anna Kuznik nach der Teilung Oberschlesiens auf polnischer Seite angefeindet wird, zieht sie 1927 mit ihrer siebenjährigen Tochter Magda von Ruda nach Gleiwitz. Dort übernimmt sie den Laden für Lebensmittel und Haushaltsbedarf, den der polnische Vorbesitzer Kubitzki aufgab, nachdem er von Deutschen zusammengeschlagen worden war.

Als es nach dem Krieg wieder möglich ist, fährt Anna Kuznik nach Ruda. Das Haus ihres Bruders Paul und ihrer Schwägerin Sophie steht noch, aber eine Fremde öffnet die Tür. Sie gehört zu einer aus Galizien geflohenen und hier einquartierten polnischen Familie. Paul und Sophie müssen sich mit der Mansarde begnügen.

Paul und Sophie besitzen deutsche Geburtsurkunden wie Anna Kuznik, aber nach der Teilung Oberschlesiens gab es keine deutschsprachigen Schulen mehr in Ruda, und die 1921 bzw. 1923 geborenen Söhne Karl (Karol) und Andreas (Andrzej) sprachen deshalb im Unterricht polnisch. Nach dem Überfall auf Polen im September 1939 durchsuchten die Deutschen das Haus, entdeckten die polnischen Schulbücher und verbrannten sie im Garten. Paul und Sophie blieb nichts anderes übrig, als die Aufnahme in die deutsche Volksliste zu beantragen. Im Krieg mussten Karl und Andreas in der Wehrmacht kämpfen. Der Jüngere fiel, der Ältere geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Weil die Familie auf der deutschen Volksliste stand, werden sie seit dem Krieg von den Polen angefeindet.

1946 verjagen die Behörden Anna und Magda aus ihrer Wohnung. In einem feuchten Keller finden sie Unterschlupf.

Bei ihren Versuchen, eine Wohnung für sich und ihre Mutter zu finden, lernt Magda 1946 einen 14 Jahre älteren Mann namens Aron Sperber kennen – und verliebt sich in ihn. Anfang Februar 1947 heiraten die beiden, aber sie muss sich damit abfinden, dass sie nicht die einzige Frau im Haushalt ist. Das hängt mit Arons Vorgeschichte zusammen.

Aron Sperber wurde 1906 in Lemberg geboren, das damals zur k. u. k. Monarchie gehörte. Der Österreicher studierte in Paris Ingenieurwissenschaften und Architektur. 1936 kehrte er mit dem Diplom zurück. Seine Schwester Alina und seine langjährige Freundin Florentyna („Florka“) Semkowicz erwarteten ihn am Bahnhof in Lemberg. Weil er keine Anstellung fand, handelte er zunächst mit Antiquitäten und später mit Immobilien. 1939 besetzten die Russen Lemberg und deportierten Bewohner, die sie für Polen hielten. Arons Eltern Hania und Raphael, sein Bruder, zwei seiner drei Schwestern und sein Schwager wurden ermordet. Um weniger aufzufallen, stellte Aron den Immobilienhandel ein, und Florka beendete ihre Tätigkeit als Mathematik-Lehrerin. Stattdessen arbeitete sie in einer Brauerei. Als die Wehrmacht 1941 Lemberg von den Russen eroberte, war Aron als Jude noch mehr gefährdet. Alina wurde deportiert, Aron jedoch von Florka versteckt und jahrelang verpflegt, obwohl sie nur Lebensmittelmarken für eine Person bekam. Aron heiratete Florka und zog mit ihr nach Gleiwitz. Inzwischen sind sie zwar geschieden, aber Aron wird weiter für Florka, ihre Schwester Leokadia und ihre Mutter sorgen.

Magda gibt den Laden ihrer Mutter im Sommer 1947 auf und arbeitet stattdessen im Ingenieurbüro ihres Mannes.

1952 wird Magda schwanger. Die Tochter erhält den Namen Ewa.

Bei Aron diagnostizieren die Ärzte Anfang 1961 Krebs. Nachdem er im Oktober 1966 gestorben ist, bringt Magda Florka in einem Altersheim unter.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien im Juni 1967 werden Juden auch in Polen stärker als zuvor angefeindet und zur Auswanderung gedrängt. Die Klassenlehrerin beschimpft Ewa als „Kind eines Juden“. Um emigrieren zu können, verkauft Magda das Haus in Gliwice im Winter 1968/69 und stellt einen entsprechenden Antrag. Anfang 1970 fährt sie mit Ewa im Zug nach Szczecin, und von dort nehmen sie ein Schiff nach Schweden.

Maria Fabisch

Maria Krause wird 1909 in Gleiwitz geboren. Die jüdische Familie Schlesinger, für die sie als Dienstmädchen arbeitet, finanziert ihr die Ausbildung zur Säuglingsschwester. Im Krankenhaus freundet sie sich mit ihrer zwei Jahre älteren Kollegin Hedwig Strebel an, aber als sie wegen der Geburt ihrer Tochter Erika 1935 zu arbeiten aufhört, verlieren sich die beiden aus den Augen.

Marias Ehemann Wolfgang Fabisch wird 1939 zur Feldpost eingezogen.

Das Paar bekommt noch zwei Kinder: im Februar 1941 Peter („Peterle“) und im Januar 1944 Wolfgang („Wölfchen“).

Im Juni 1944 kommt Wolfgang Fabisch durch einen Unfall auf vermintem Gelände ums Leben.

Marias Eltern werden in Schönwald von Russen erschossen.

Als die Rote Armee am 19. Januar 1945 die Reichsgrenze bei Guttentag und Kreuzburg überschritten hat, sucht Adelheid Sossna mit ihrer sechzehn Jahre alten Tochter Rosel Zuflucht bei Maria, die mit ihren drei Kindern im Obergeschoss des Nachbarhauses wohnt, das Fritz und Hildegard Schomberra gehört, die mit ihrem kleinen Sohn Josef und den beiden Töchtern Isolde und Lotte im Parterre wohnen. Weil den Russen, die Ende Januar Gleiwitz erobern, der Ruf vorauseilt, dass sie es vor allem auf junge Frauen abgesehen haben, sorgt Adelheid Sossna sich um Rosel. Die muss sich verstecken, sobald Russen im Haus sind.

1956 stellen Maria und die Familie Schomberra Ausreiseanträge. Am Bahnhof in Gleiwitz treffen sie Paulina Strebel, die mit ihrer Tochter Gerda ebenfalls auf dem Weg in die Bundesrepublik Deutschland ist. Sie wollen zu Paulinas Sohn und Gerdas Bruder, der in Hamburg lebt.

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„Vergiss kein einziges Wort“ ist eine grandiose Mischung aus Familienepos und zeitgeschichtlichem Roman. Dörthe Binkert versteht es, gesellschaftspolitische Entwicklungen an konkreten Beispielen zu veranschaulichen und lebendig werden zu lassen. Ihre Generationen übergreifende Geschichte beginnt 1921 und endet 2004. Sie spielt fast ausschließlich in Oberschlesien. Dort überschneiden sich mehrere Konfliktlinien: Deutsche gegen Polen, Protestanten gegen Katholiken, Nichtjuden gegen Juden, Nationalsozialisten gegen Andersdenkende, Mehrheit gegen Minderheit. Zugleich ändern sich mehrmals die politischen Verhältnisse, zum Beispiel wenn der 1922 von Polen übernommene Teil Oberschlesiens 1939 von den Deutschen zurückerobert wird und 1945 erneut an Polen fällt. Ein profundes Wissen ermöglicht es Dörthe Binkert, diese Konflikte und Entwicklungen an ihren Romanfiguren in „Vergiss kein einziges Wort“ festzumachen. So entsteht ein breites, facettenreiches gesellschaftliches Spektrum.

Dörthe Binkert erzählt chronologisch entlang der verflochtenen Handlungsfäden. Ihr ist mit „Vergiss kein einziges Wort“ nicht nur ein lehr- und aufschlussreicher, sondern auch ein packender und bewegender Roman mit starken Frauenfiguren gelungen.

Ein Personenverzeichnis und zwei Karten von Polen bzw. Schlesien helfen bei der Orientierung. Über die historischen Hintergründe informiert Dörthe Binkert in einer 29 Seiten langen Zeittafel.

Dörthe Binkert wurde am 1. Januar 1949 in Hagen/Westfalen geboren, wuchs jedoch in Frankfurt am Main auf. Das Studium der Germanistik, Politologie und Kunstgeschichte in Frankfurt, Münster und Zürich schloss sie 1975 mit der Promotion ab. Jahrzehntelang arbeitete Dörthe Binkert als Lektorin, Cheflektorin, Programmleiterin bzw. -beraterin für große Verlage. 2005 erhielt sie ein Autorenstipendium im Ledig House (Art Omi) in New York. Seit 2007 lebt Dörthe Binkert als freie Autorin, Ghostwriter, Publizistin und Literaturagentin in Zürich.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © dtv Verlagsgesellschaft

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