Annika Büsing : Nordstadt

Nordstadt
Nordstadt Originalausgabe Steidl-Verlag, Göttingen 2022 ISBN 978-3-96999-064-3, 128 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Boris erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung, als seine Mutter ihn ungeimpft mit nach Indien nahm. Seine Beine sind kraftlos und verdreht. Deshalb wird er verspottet. Er ist arbeitslos, traut sich nichts zu und sieht keine Zukunftsperspektive für sich. Nene dagegen kämpft und gibt sich nicht auf. Sie zeigt Lebensmut. Obwohl sie in prekären Verhältnissen aufwuchs, eine schlimme Kindheit hatte und als 17-Jährige vergewaltigt wurde, absolvierte sie eine Ausbildung und arbeitet als Bademeisterin in einem Schwimmbad.
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Kritik

In ihrem Debütroman "Nordstadt" beschäftigt sich Annika Büsing mit zwei vor allem psychisch verletzten 25-Jährigen. Man kann "Nordstadt" als Gesellschaftsroman lesen, auch wenn es sich um eine konfliktreiche Liebesbeziehung dreht, deren Ausgang in der Schwebe bleibt. Das Besondere an "Nordstadt" ist die authentisch wirkende lakonische Stimme der Ich-Erzählerin mit einer Sprache zwischen Gosse und Poesie. Stilsicher porträtiert Annika Büsing damit die Romanfiguren und lässt uns die Konflikte intensiv miterleben.
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Nene

Im Alter von fünf Jahren wurde Nene von einer Betreuerin beim Jugendamt zu einem Ferienlager angemeldet und lernte schwimmen. Daraufhin wurde das Schwimmbad zu ihrem Zuhause. Sie trainierte, verbrachte ihre Freizeit dort und traf sich mit Freunden. In einer Umkleidekabine hatte sie mit 15 ihren ersten Orgasmus. Und sobald sie alt genug war, jobbte sie in den Ferien im Schwimmbad.

Als Nene in die Schule kam, erfuhr sie, dass sie eine 13 Jahre ältere Halbschwester hatte. Mit Almas Mutter war der Vater verheiratet gewesen. Alma war zehn Jahre alt, als sich ihr Vater bei der Arbeit als Monteur einer Möbelfirma das Handgelenk quetschte und am Empfang im Krankenhaus die Frau kennenlernte, die 1990 Nenes Mutter werden sollte.

Mein ganzes Elend beruht also auf einer Quetschung.

Während Alma mit ihrer Mutter weiter im Süden der Stadt wohnte, wuchs Nene in der Nordstadt auf.

Mein Vater durfte [Alma] nicht sehen und er musste trotzdem für sie bezahlen, wie meine Mutter schimpfte, also war Alma das Mädchen, das man nicht sehen durfte, für das man aber bezahlen musste. Ich fragte mich ohnehin, womit mein Vater sie denn bezahlen wollte […]. Wir waren aufreizend asozial und aufreizend arm.

Als Familie waren wir aufreizend asozial. Und als meine Mutter krank wurde, kam noch ein tragischer Zug dazu, der dem ganzen Elend die Krone aufsetzte.

Die Mutter starb, als Nene acht Jahre alt war. Zwei Jahre später schaltete die Schwimmtrainerin, der beim Duschen Nenes Hämatome aufgefallen waren, das Jugendamt ein. Beim dritten oder vierten Anruf reagierte das Amt und brachte Nene vorübergehend in einer Wohngruppe unter. Als sie zwölf war, wurde der Vater arbeitslos und verfiel noch stärker dem Alkohol. Während er einige Zeit im Krankenhaus lag, blieb die 13-jährige Tochter allein zu Hause. Noch einmal zwei Jahre später, als der Vater erneut ins Krankenhaus musste, suchte Nene Zuflucht bei ihrer damals 28 Jahre alten Halbschwester.

„Du verletzt Menschen mit deiner Sprache, Nene. Das ist dir gar nicht klar.“
Als sie das gesagt hat, habe ich nachgedacht. Und vielleicht hat Alma recht. Es tut weh, wenn mein Vater gesagt hat, ich sei ein dummes Stück Scheiße.“

Nene hasst ihren Vater, weil er für ihre „scheißbeschissene Kindheit“ verantwortlich ist.

Geschichten über meinen Vater zu erzählen, über sein Leben, seine Kindheit, seine Jugend, das alles würde sein Verhalten womöglich in ein anderes Licht setzen. Dann könnte man denken: Ah, er tut das, weil dieses oder jenes passiert ist. Und das ist Bullshit. Denn es gibt keine Kausalität, die rechtfertigt, dass man Kinder schlägt, tritt, einsperrt und hungern lässt. Keine.

Weil Alma kein Sorgerecht hatte, brachte das Jugendamt Nene einige Wochen später erneut in einer Wohngruppe unter.

Mit 17 wurde Nene vergewaltigt. Sie war mit einem anderen Mädchen und vier Jungs auf einem Spielplatz.

Das andere Mädchen, das mit mir da war, hatte sich verdrückt, vielleicht saß sie auf der Schaukel oder auf der Bank, ich weiß es nicht, aber der wurde es zu heikel, nehme ich an […]. Und die drei, die mich dann doch in Ruhe gelassen haben, die würden ja ihren Kumpel nicht verpfeifen. Ehrenmänner. Niemand von denen würde seinen Kumpel verpfeifen.

Nene verschwieg Alma die Vergewaltigung durch Lasse, weil die Halbschwester auf einer Anzeige bei der Polizei bestanden hätte. Sie vertraute es nur ihrer Freundin Genet an.

[…] ich erzählte ihr von der Vergewaltigung, und Genet sagte: „Willst du nichts machen?“, und ich sagte: „Doch. Ich will es vergessen.“

Sobald Nene 18 war, fing sie eine Ausbildung zur Fachangestellten für den Bäderbetrieb an und mietete eine eigene Wohnung. Nach der mit Bravour bestandenen Prüfung musste sie noch zwei Jahre im Schwimmbad einer Nachbarstadt arbeiten, bis der Bademeister Frank in der Nordstadt in Rente ging und sie die frei gewordene Anstellung übernehmen konnte.

Alma lebt nach wie vor im Süden der Stadt. Nene nimmt an, dass die inzwischen 38 Jahre alte erfolgreiche Goldschmiedin keine finanziellen Sorgen habe.

Sie hat das Feine von ihrer Mutter, nehme ich an, denn unser Vater ist nicht fein. Ich kenne keinen unfeineren Wichser als unseren Vater.

Auch Genet hat es besser als Nene. Sie arbeitet als Zahnarzthelferin und lässt sich zur Hygiene-Assistentin weiterbilden. Ihr Freund Daniel ist bei der Sparkasse angestellt und hat ein Bausparkonto.

Boris

2015 fällt Nene im Schwimmbad ein Gleichaltriger mit verdrehten Beinen auf. Ob er ein Schwimmbrett ausleihen könne, fragt Boris, und nachdem er zehn Bahnen gekrault ist, lehnt er sich aufs Brett und bewegt sich mit seinen kraftlosen Beinen durchs Wasser.

Als sich die beiden 25-Jährigen erstmals verabreden und ins Kino gehen, schimpfen Besucher in der Reihe hinter ihnen, weil sich Boris und Nene nicht rasch genug setzen.

Boris sagte: „Halt die Fresse!“
Und dann setzte er sich. Ich fand das gut, sagen: „Halt die Fresse“, das war klar und einfach und jeder kann es verstehen und es ist nicht unnötig aggressiv. Alma lachte, als ich das sagte.
„Nene, wie kannst du das sagen? ‚Halt die Fresse‘ ist total aggressiv!“

Während der Vorstellung schläft Boris ein. Und danach hat er mit Nene auch nichts weiter vor.

„Okay, weißt du, ich würde gerne nach Hause gehen jetzt“, sagte er.
„Okay“, sagte ich.
Das war unser erster Kinobesuch.

Alma würde sich in so einer Situation fragen, was sie falsch gemacht habe. Nene ist da anders.

[…] und wenn man den ganzen Tag rumrennt und immer denkt: Liegt an mir! Liegt an mir!, dann kann man ja schön verrückt werden.

Erst im Lauf der Zeit erfährt Nene, was mit Boris los ist.

Bei Boris wusste ich oft nicht, ob er log oder die Wahrheit sagte. Er erzählte mir, dass er als Hausmeister arbeitete. Das war gelogen. Er erzählte mir, dass er als Zweijähriger an Kinderlähmung erkrankt war. Das war die Wahrheit. Aber ich glaubte das mit dem Hausmeisterjob und glaubte das mit der Kinderlähmung nicht. Wer kriegt denn noch Kinderlähmung? Ist die Krankheit nicht längst ausgerottet?

Weil seine Mutter ihn nicht impfen ließ, infizierte er sich 1992 im Alter von zwei Jahren während eines Indien-Aufenthalts mit ihr – dem noch zahlreiche folgten – mit Polioviren und erkrankte an Kinderlähmung. Aber Boris wirft seiner Mutter nichts vor, sondern geht davon aus, dass sie dachte, es sei besser, ihn nicht impfen zu lassen.

Meine Mutter […] war ein Hippie, nur zwanzig Jahre zu spät.“

Sein Vater, ein Amerikaner aus Montana, von dem die Mutter nur den Vornamen Steve kennt, kann nicht wissen, dass er einen Sohn hat.

Seit der frühen Kindheit muss Boris damit leben, wegen seiner Behinderung von anderen verspottet zu werden.

Dann gibt es noch all die Erlebnisse, bei denen er festgestellt hat, dass er Dinge nicht kann, die andere können. Und das ist jetzt ein ständiger Schluckauf: Das kannst du nicht. Es kommt hoch und er kann nichts dagegen tun. Das kannst du nicht. Rammt sich mit aller Macht in sein Bewusstsein, in alles Schöne. Das kannst du nicht. Leute haben es gesagt oder er hat es festgestellt. Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Du kannst nicht über eine Wiese rennen. Du kannst nicht Skateboard fahren. Du kannst nicht Fahrrad fahren. […]

Schmerzen und Erschöpfung zermürben Boris. Von Post-Polio-Syndrom sprechen die Ärzte.

Nene, die sich „in sein Herz gezeckt“ hat, schreibt für ihn ein individuelles Trainingsprogramm und gibt es ihm zusammen mit dem Schwimmbrett. Während er sich abmüht, kann sie nicht auf ihn achten, weil sich ein Mädchen das Bein aufgeschrammt und eine ältere Besucherin einen Kreislaufkollaps erlitten hat.

Deshalb sah ich Boris erst wieder, als er zur Schwimmmeisterkabine kam und mir das Schwimmbrett vor die Füße warf. Er ging. Ohne ein weiteres Wort.

Ich hatte es verkackt. […] Er hatte sich darauf eingelassen, war gescheitert, fühlte sich wie ein Haufen Müll, und wollte das Gefühl der Niederlage nicht dadurch vergrößern, dass er mir ins Gesicht sehen musste.

Es dauert einige Zeit, bis sich Boris wieder ins Schwimmbad wagt, und diesmal schafft er die empfohlenen Bahnen.

Beim dritten gemeinsamen Kinobesuch würde Nene gern Händchen halten.

Und ich war emotional, weil es in dem Film darum geht, dass die Liebe den Tod überwindet, und ich bin eben kein Holzpflock. Und ich nahm nicht seine Hand, weil ich dachte: Wie kitschig ist das denn? […] Es war gut, wie es war, und ich hatte Angst, es zu übertreiben, wenn ich seine Hand nahm.
Er nahm meine.
Er hielt sie […] und dann küssten wir uns.
Wie kitschig ist das denn?

Sie nimmt ihn mit nach Hause.

Ich wusste, es sind Kondome da, ich wusste, ich hab eine hübsche Unterhose an […]. Es schien perfekt. […] Plötzlich hielt er mich an den Schultern, als wäre ihm etwas eingefallen, Kaffeemaschine angelassen, Tür nicht abgeschlossen, die Freundin, die zu Hause wartet, irgendetwas in dieser Richtung.
„Mir ist schlecht“, sagte er.

Boris hat schlichtweg Hunger, weil ihm das Geld ausgegangen ist. Am Tag vorher brachte der Arbeitslose schon Pfandflaschen weg, um sich ein Brötchen kaufen zu können. Und an diesem Morgen hatte er nur noch eine Scheibe Toast.

[…] Armut frisst Löcher. Sie frisst Löcher in die Seele und die Würde. Ich weiß, man bekommt Geld vom Geldamt, wenn man keines hat. Aber Würde bekommt man dort nicht. Sie lässt sich nicht auf Konten überweisen und nicht als Gutschein ausgeben.

Nachdem Boris einige Zeit nicht mehr aufgetaucht ist, beklagt Nene sich darüber. Er antwortet:

„Ich habe dich nicht abgeschrieben. Ich hab mich abgeschrieben.“

Genet zeigt Interesse an der Liebesbeziehung ihrer Freundin.

Genet fragte in regelmäßigen Abständen per WhatsApp nach, wie es mit Boris lief. So wie eine Krankenschwester morgens fragt: „Hatten Sie schon Stuhlgang?“

Bei einer Party, zu der Genet und Daniel ausdrücklich nicht nur Nene, sondern auch Boris eingeladen haben, kündigt er eine bevorstehende Ausbildung zum Mechatroniker an. Zwei Tage später ruft Genet ihre Freundin an und weist sie darauf hin, dass das nicht wahr sein könne, weil das genannte Unternehmen einen Einstellungsstopp verhängt habe.

Nene redet von da an nicht mehr mit Genet und beantwortet auch keine von Boris‘ WhatsApp-Nachrichten.

Ihr Vater lebt bereits seit einiger Zeit im Pflegeheim. Nene weigert sich, ihn zu besuchen. Bei der von Alma organisierten Beerdigung des Vaters entdeckt Nene unter den Trauergästen Boris. Das überrascht sie. Zum Abschied sagt er:

„Wenn du mit wem anders rummachst, stecke ich die Stadt in Brand.“
„Episch“, sage ich.

Wir haben das Frühjahr zusammen verbracht und den Sommer. Im Herbst habe ich ihn verloren. Oder er mich.

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In ihrem Roman „Nordstadt“ beschäftigt sich Annika Büsing mit zwei vor allem psychisch verletzten 25-Jährigen. Boris erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung, als seine Mutter ihn ungeimpft mit nach Indien nahm. Seine Beine sind kraftlos und verdreht. Deshalb wird er verspottet. Er ist arbeitslos, traut sich nichts zu und sieht keine Zukunftsperspektive für sich. Nene dagegen kämpft und gibt sich nicht auf. Sie zeigt Lebensmut. Obwohl sie in prekären Verhältnissen aufwuchs, eine schlimme Kindheit hatte und als 17-Jährige vergewaltigt wurde, absolvierte sie eine Ausbildung und arbeitet als Bademeisterin in einem Schwimmbad.

Armut, Alkoholkrankheit, Ehebruch, Kindesmisshandlung, Behördenversagen, sexuelle Gewalt, Traumatisierung, Ausgrenzung von Behinderten, Impfskepsis … Das sind einige der Themen. Man kann „Nordstadt“ als Gesellschaftsroman lesen, auch wenn er sich um eine konfliktreiche Liebesbeziehung dreht, deren Ausgang in der Schwebe bleibt.

Annika Büsing überlässt das Wort der Ich-Erzählerin Nene und hält diese Perspektive in „Nordstadt“ konsequent durch. Nene erzählt assoziativ, springt also in der Chronologie hin und her. Sie ist, was man heute „bildungsfern“ nennt, aber auch klug und sensibel. Die Ausleuchtung des Charakters erfolgt ausschließlich über Sprache und Gedanken. Und diese authentisch wirkende lakonische Stimme zwischen Gosse und Poesie ist das Besondere an „Nordstadt“. Stilsicher porträtiert Annika Büsing damit die Romanfiguren und lässt uns die Konflikte intensiv miterleben.

Annika Büsing studierte Germanistik und Theologie fürs Lehramt und unterrichtet an einem Gymnasium in Bochum. Bei „Nordstadt“ handelt es sich um ihren Debütroman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Steidl Verlag

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