Jürg Federspiel : Paratuga kehrt zurück

Paratuga kehrt zurück
Paratuga kehrt zurück Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1973 ISBN 3-472-86338-2 Paratuga kehrt zurück Das Suhrkamp-Taschenbuch Erzählungen und Gedichte aus 1001 Suhrkamp-Taschenbüchern Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1984 ISBN 978-3-518-37600-3, 1029 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dr. Huntington Paratuga schreibt als Filmkritiker für kanadische Blätter und beabsichtigt seit Jahren, selbst einen Film zu machen, etwa über einen 66-Jährigen, der in Albaquerque Wassermelonen pflanzt, nur damit Kinder sie stehlen können, denn das gehört seiner Meinung nach zu einer glücklichen Kindheit. Schließlich nimmt Paratuga den Ich-Erzähler mit in ein improvisiertes Filmstudio, sagt dort "Rosenknospe" – und zerbröselt.
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Kritik

Vielleicht handelt es sich bei Paratuga um ein Alter Ego des Schweizer Schriftstellers Jürg Federspiel, aber wir wissen es nicht. Überhaupt gelingt es wohl kaum, den Text zu enträtseln. Da ist wahrscheinlich auch gar nichts, was sich entschlüsseln ließe. Das sind wir nicht gewohnt, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einer vergnüglichen Lektüre belohnt. "Paratuga kehrt zurück" funkelt mit ausgefallenen Ideen, ist skurril und surreal, grotesk und urkomisch.
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Paratuga

Vor sieben Jahren, als der Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, in Manhattan wohnte, klingelte der über ihm wohnende Nachbar nach Mitternacht bei ihm.

„Würden Sie“, fragte er höflich, „die Freundlichkeit haben und Ihre Träume etwas drosseln, Bild und Ton, wenn ich bitten darf.“

Dr. Huntington Paratuga stand auf der Karte, die der Mann im Bademantel dem Erzähler reichte, um sich vorzustellen. Kaum war die Tür geschlossen, erklang das „Ding-Dong“ erneut.

„Ich hab meine Brille auf Ihrem Tisch vergessen“, flüstete die Stimme Mr. Paratugas.
„Ihre Brille? Sie waren ja überhaupt nicht hier drin“, rief ich entrüstet.
„Vielleicht irre ich in diesem Fall“, gab er zu. „Doch Ihre Armbanduhr liegt bei mir oben. Sie haben Sie wohl vergessen, als Sie im Badezimmer waren. Man tut das oft.“

„Scheren Sie sich zum Teufel. Ich will schlafen.“

Banknoten

Vor einigen Jahren besuchten Paratuga und der Ich-Erzähler ein Automaten-Restaurant. Es rieche nach verbrannten Banknoten, meinte Paratuga und drückte seinem Begleiter ein Bündel Dollarscheine in die Hand.

„Der Pöbel versteht einfach nicht, wieso das Verbrennen von Geldnoten eine neue Erfahrung mit sich bringt. Die Leute sehen schnöderweise nur, was sie sich damit kaufen können.“

Film-Ideen

Während der Ich-Erzähler gelegentlich Filmkritiken schreibt, arbeitet Paratuga für ein in Toronto, Quebec und Montreal erscheinendes Kopfblatt als Filmkritiker. Seit Jahren will er selbst einen Film machen.

Vor zwei Jahren nervte er den Ich-Erzähler mit einer Idee: Hauptfigur sollte Dr. Francis Plow in Albaquerque sein. Der 66-Jährige pflanzt Wassermelonen, damit Kinder sie stehlen können, denn Plow ist überzeugt, dass das zu einer glücklichen Kindheit gehöre. Sobald er Kinder beim Stehlen von Wassermelonen entdeckt, rennt er Stock schwingend aus dem Haus – denn anders würde es den kleinen Dieben keinen Spaß machen.

Diesen Film realisierte Paratuga ebenso wenig wie den über einen jungen Arzt, der einen Flugzeugabsturz überlebt und sich zunächst kannibalisch von den Leichen anderer Passagiere am Leben hält. Erst als nur noch der tote Körper seiner Lieblingskrankenschwester übrig ist, gerät er in einen Konflikt.

Filmstudio

Paratuga nimmt den Ich-Erzähler mit in ein improvisiertes Filmstudio in der Roßbergstraße 11, gesichert durch Hundegebell vom Tonband.

Dort lernt der Autor nicht nur das Hauptdarsteller-Paar Sonja und Marcel kennen, sondern auch den Kameramann Eric Lorre, einen Neffen des Schauspielers Peter Lorre, und den Drehbuchautor, der Heiner mit dem Schlapphut heißt.

Letzterer sperrt ihn in eine Kammer, wo er das Drehbuch lesen soll.

„Das Drehbuch“, erklärte er, „werden’s in fünf Minuten gelesen haben, in fünf Minuten, und dabei hab ich zwei Jahre lang daran gearbeitet. Nicht zu reden von der Erfahrung.“

Am nächsten Morgen holt Eric Lorre den Eingesperrten aus der Kammer. Paratuga sei von Heiner mit dem Schlapphut entlassen worden, nachdem dieser den Filmemacher zuvor hinausgeworfen habe, erklärt Eric Lorre. Er berichtet, dass Paratuga einmal von dem Filmemacher Erich von Stroheim zum Duell gefordert wurde, weil er über der orientalischen Zigarre Stroheims einen Hustenanfall bekommen hatte.

Rosenknospe

Paratuga, der nun doch wieder da ist, meint:

„Die Jugend hat dies endgültig erkannt. Die Literatur lügt. Die Bücher der Zukunft – falls solche überhaupt noch geschrieben werden, wohlverstanden – werden in Spiegelschrift gedruckt sein. Die daraus naturgemäß entstehende Müdigkeit während der Lektüre lässt das Wesentliche frei werden. Der Sinn eines Textes, Shakespeare zum Beispiel, wird auf einen minimalen soziologischen Kontext reduziert. Statt zu explodieren, stülpt sich die Essenz in die Implosion zurück. Die Implosion ihrerseits reproduziert das Drama als veränderbare Gegebenheit. Und eine veränderbare Gegebenheit ist kat’exochen Alltag. Der Alltag wird nicht akzeptiert und im Augenblick, da der Alltag als nicht unveränderbar hingenommen wird, beginnt der Zerfall jener, die ihn definieren. Sie verstehen.“

Während draußen ein Taxi auf ihn wartet, sagt Paratuga „Rosenknospe“ (wie Charles Foster Kane in „Citizen Kane“) und zerfällt. Der Ich-Erzähler zerknüllt den Rest, verbrennt fußballgroße Papierkugeln in der Badewanne und spült alles fort.

Eric Lorre weint.

Der Erzähler tappt im Dunkeln die Treppe hinunter, tritt fortwährend auf „Hände, Zehen, Arme, Weichteile, Schienbeine“. Die Menschen stöhnen und wimmern.

[…] schließlich wurde ich rücksichtsvoller, tastete mit dem Fuß zu Stellen auf den Stufen, wo keine menschlichen Gliedmaßen zu spüren waren, nur weil ich Mozart, Heine, Goya, Robinson Crusoe, Tom Sawyer, Nathanael West und Modigliani nicht verletzen wollte. Nur deshalb Von Stufe zu Stufe wurde ich vorsichtiger, mitleidiger, menschlicher.

Obwohl das Hundegebell beim Betreten des Filmstudios vom Tonband kam, bemerkt der Erzähler am Abend, als er sich auszieht, an der rechten Wade Hundebisse.

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Vielleicht handelt es sich bei Paratuga um ein Alter Ego des Schweizer Schriftstellers Jürg Federspiel (1931 – 2007), aber wir wissen es nicht. Überhaupt gelingt es wohl kaum, den Text zu enträtseln. Da ist wahrscheinlich auch gar nichts, was sich entschlüsseln ließe. Das sind wir nicht gewohnt, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einer vergnüglichen Lektüre belohnt. „Paratuga kehrt zurück“ funkelt mit ausgefallenen Ideen, ist skurril und surreal, grotesk und urkomisch.

Die kurze Erzählung von Jürg Federspiel erschien 1973 zusammen mit drei Kurzgeschichten und einem dramatischen Text von ihm bei Luchterhand unter dem Buchtitel „Paratuga kehrt zurück“: „Hitlers Tochter“, „Ein Erdbeben in meiner Familie“, „Der Türke“, „Paratuga kehrt zurück“ und „Paratuga GmbH“.

1984 wurde die Erzählung „Paratuga kehrt zurück“ in „Das Suhrkamp-Taschenbuch. Erzählungen und Gedichte aus 1001 Suhrkamp-Taschenbüchern“ aufgenommen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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