Sara Mesa : Quasi

Quasi
Cara de pan Editorial Anagrama, Barcelona 2018 Quasi Übersetzung: Peter Kultzen Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019 ISBN 978-3-8031-3321-2, 141 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein pubertierendes Mädchen wird durch die körperlichen Veränderungen und die noch unbekannte Sexualität verstört. Ebenso wie die "quasi" 14-Jährige ihrer Schulklasse entflieht, meidet ein 40 Jahre älterer alleinstehender Mann die Gesellschaft. Menschliche Nähe finden die beiden Außenseiter, in dem sie sich monatelang fast jeden Tag in einem Versteck im Park treffen und miteinander reden.
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Kritik

Beunruhigt fragen wir uns bei der Lektüre des märchenhaften Romans "Quasi" von Sara Mesa immer wieder, wohin die heimlichen Treffen der beiden Außenseiter führen könnten. Diese Wirkung erzielt die spanische Schriftstellerin sowohl durch die subjektive Perspektive der Darstellung als auch die markante Reduktion und den tastenden Duktus des Textes.
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Quasi

Die Lehrer verlangen zur Benotung jetzt dauernd Gruppenarbeiten, aber Quasi fühlt sich dabei nicht wohl, egal mit wem sie sich zusammentun soll. Wenn sich die Gruppen bilden, wird sie regelmäßig übergangen, und der Lehrer muss eingreifen, damit sie am Ende nicht ganz allein dasteht. Aber gezwungenermaßen zu einer Gruppe zu gehören ist für sie schlimmer, als die Aufgabe allein zu machen.

Die fast 14-Jährige schwänzt seit einem Monat die Schule. Damit kein Lehrer auf die Idee kommt, bei ihren Eltern nachzufragen, täuschte sie gleich zu Beginn einen Schulwechsel vor. In der Klasse wurde sie als Verliererin und Außenseiterin gehänselt. „Brotgesicht“ (cara de pan) riefen ihr die anderen nach. Sie findet sich hässlich, ist zu dick und verbirgt ihren unförmigen Körper unter zwei Nummern zu großen Klamotten. Sie wäre lieber ein Junge, denn dann bräuchte sie sich keine Sorgen um ihren Körperbau zu machen. Die Mitschülerinnen haben alle einen Freund, aber sie findet Jungen ekelhaft. Vor einiger Zeit hatte sie sich in den Freund ihres neun Jahre älteren Bruders verknallt und dann gehört, wie dieser sich darüber lustig machte.

Von Montag bis Freitag verlässt sie morgens das Einfamilienhaus, in dem sie seit zwei Jahren mit den Eltern wohnt und tut so, als mache sie sich auf den Weg in die Schule. Tatsächlich verbringt sie die Vormittage in einem Park und versteckt sich in einem Gebüsch.

Der Alte

Dort taucht eines Tages ein Mann auf. Er redet ein wenig mit ihr, und am nächsten Tag kommt er wieder. Von da an treffen sie sich an jedem Schultag in dem Versteck im Park. Weil die Schulschwänzerin fast („quasi“) 14 ist, nennt er sie Quasi, und sie sagt einfach „Alter“ zu dem 54-Jährigen.

Er wohnt in der achten Etage eines zehnstöckigen Hochhauses und hat keine Arbeit. Auf Bewerbungen habe er nur Ablehnungen erhalten, sagt er. Eine Weile war er als unbezahlte Hilfskraft in einem Vogelschutzgebiet tätig. Das war eine schöne Zeit, denn er beobachtet gern Vögel und weiß auch eine Menge darüber. Sein zweites Interessen- und Wissensgebiet ist die afroamerikanische Sängerin Nina Simone (1933 – 2003), die unter der Rassendiskriminierung zu leiden hatte.

Quasi fragt sich, was der Mann vorhat. Sie hat von pädophilen Triebtätern und von sexuellem Missbrauch gehört. Aber der schrullige Alte ist schüchtern und unbeholfen. Er besorgt Quasi eine Flasche Wasser und bringt Chips mit, die er mit ihr teilt. Offenbar kümmert es ihn nicht, dass sie die Schule schwänzt. Er forscht sie nicht aus, und sie erzählt ihm anfangs Lügengeschichten zum Beispiel über ein riesiges Haus ihrer Eltern am Meer.

Erst im Verlauf von Wochen erfährt Quasi nach und nach ein paar Dinge über den Alten.

Sein Vater Adrián, ein Schlosser, war auch sein Großvater. Er hielt das für „normal“; erst mit etwa 16 Jahren begriff er, warum die Leute Adrián, Adriana und ihn so seltsam anschauten und tuschelten.

Als er sich einmal durch einen Zaun hindurch mit sechs oder sieben Jahre alten Schulkindern unterhielt, rief eine Nachbarin, der er schon des Öfteren Einkaufstaschen nach Hause getragen hatte, die Polizei. Die beiden Beamten wiesen ihn darauf hin, dass man als erwachsener Mann keine fremden Kinder ansprechen dürfe, und einer der beiden meinte, er sei ein „armer Spinner“.

Der Park

Unvorbereitet bekommt Quasi im Park ihre Menarche. Der Alte sieht ihr an, dass sie sich unwohl fühlt, aber als sie sagt, es handele sich um eine „Frauensache“, läuft er rot an und behauptet, darüber nichts zu wissen.

Einige Zeit danach streift Quasi im Versteck ihre Jogginghose und ihren Slip über die Oberschenkel hinunter. Der Alte hebt entsetzt die Hände vors Gesicht, und sie befürchtet deshalb, dass er sie hässlich findet. Er bleibt ein paar Tage weg.

Weil es im Oktober regnet, verbringt Quasi einige Vormittage ohne den Alten in einer öffentlichen Bibliothek.

Sie erzählt ihm eines Tages, dass sie ein Einschreiben abfangen konnte, in dem die Kopie der Aufnahmebescheinigung ihrer neuen Schule angefordert wird. Der Alte rät ihr, einfach nichts zu tun und meint, es werde noch viel Zeit vergehen, bis jemand nachfasst und das fehlende Dokument noch einmal anmahnt.

Aber dann, als Quasi bereits seit knapp drei Monaten die Schule schwänzt, überbringt ein Polizist ihren Eltern die schriftliche Aufforderung zu einer Unterredung mit der Schulbehörde oder dem Jugendamt.

Das Café

Quasis 14. Geburtstag liegt schon einige Zeit zurück, als sie den Alten zufällig in der Nähe des Parks wieder sieht und überredet, sich mit ihr in ein nahes Café zu setzen, obwohl er die gerichtliche Auflage erhielt, sich nach der Verbüßung seiner Haftstrafe von ihr fernzuhalten.

Spätestens nachdem der Polizei das Schreiben überbracht hatte, schöpften ihre Eltern Verdacht und lasen heimlich in ihrem Tagebuch. Dann folgten sie ihr unbemerkt am Morgen, überraschten sie im Gebüsch und nahmen sie mit nach Hause. Der Alte wurde in dem Versteck von Polizisten erwartet und in Handschellen abgeführt.

Ihre Eltern, die Polizei und das Gericht gingen davon aus, dass Quasi von dem Alten zum Schwänzen der Schule gebracht und missbraucht worden sei.

Hat er dich berührt? Hat er dich fotografiert? Hat er gesagt, du sollst dich ausziehen, ganz oder teilweise? Hat er sich ausgezogen? Hat er dir Videos oder Fotos von anderen Kindern gezeigt? Oder von Erwachsenen, die obszöne Dinge tun?“

Man erzählte ihr, dass der angebliche Täter die Ehefrau des Wächters im Vogelschutzgebiet missbraucht habe und deshalb ein Jahr lang in der Psychiatrie gewesen sei. Quasi beteuerte zwar, er habe sie nicht angefasst, aber die Polizei meinte, sie wolle ihn schützen und unterstellte ihr ein Stockholm-Syndrom. Das Gericht hielt sich an ihr Tagebuch, in dem sie sich Szenen mit dem Alten im Park ausgemalt hatte: Da schnupften sie Kokain, tranken Champagner und hatten Sex.

Das monatelange Schuleschwänzen rückte darüber in den Hintergrund.

Im Café berichten Quasi und der Alte einander drei Stunden lang von ihren Erlebnissen seit dem Tag, an dem ihr Versteck aufflog. Dann fordert die Bedienung die beiden auf, entweder noch etwas zu bestellen, oder den Tisch frei zu machen.

Sie sieht, wie sie zur Tür gehen, ohne sie anzublicken, ohne sich wenigstens zu verabschieden und sich für die Zeit zu bedanken, die sie ihnen gnädigerweise zugestanden hat; nur mit sich selbst beschäftigt, treten sie vor die Tür, das sind vielleicht zwei Vögel, du glaubst es nicht, draußen, auf dem schmalen, schmutzigen Bürgersteig, bleiben sie noch ein Weilchen stehen, sehen sich wortlos an, berühren sich nicht, und dann die Kehrtwende, jeder geht für sich davon, der Alte nach rechts, leicht schief, mit hängendem Kopf und seinem Irrengang, in Richtung Vergangenheit; die Kleine nach links, leicht schief, mit hängendem Kopf und ihrem Irrengang, in Richtung Zukunft.

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Ein pubertierendes Mädchen wird durch die körperlichen Veränderungen und die noch unbekannte Sexualität verstört. Ebenso wie die „quasi“ 14-Jährige ihrer Schulklasse entflieht, meidet ein 40 Jahre älterer alleinstehender Mann die Gesellschaft. Menschliche Nähe finden die beiden Außenseiter, in dem sie sich monatelang fast jeden Tag in einem Versteck im Park treffen und miteinander reden. Der lebensfremde, ein wenig geistesgestörte Alte weiß eine Menge über Vögel und die afroamerikanische Sängerin Nina Simone.

Die spanische Schriftstellerin Sara Mesa erzählt die berührende und märchenhafte Geschichte weitgehend aus der Sicht des Mädchens Quasi, das gern mit dem Alten plaudert und zugleich argwöhnt, es könne sich um einen Pädophilen handeln.

Auf der letzten Seite wechselt Sara Mesa die Perspektive und beobachtet die beiden Protagonisten aus dem Blickwinkel einer misstrauischen Kellnerin. Ähnlich wie der Bedienung geht es uns beim Lesen: Beunruhigt fragen wir uns immer wieder, wohin die heimlichen Treffen der beiden Außenseiter führen könnten. Diese Wirkung erzielt Sara Mesa in ihrem ungewöhnlichen Roman „Quasi“ sowohl durch die subjektive Perspektive der Darstellung als auch die markante Reduktion und den tastenden Duktus des Textes.

Im Nachwort weist Sara Mesa daraufhin, dass der Roman „Quasi“ auf ihre 2017 in der Anthologie „Riesgo“ (Risiko) veröffentlichte Erzählung „A contrapelo“ (Gegen den Strich) zurückgeht.

Die Sequenz über eine beinlose, ihr gesamtes Leben im Flug verbringende Vogelart hat sie aus dem Theaterstück „Orpheus steigt herab“ von Tennessee Williams übernommen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Sara Mesa: Eine Liebe

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