Paul Auster : Die Musik des Zufalls

Die Musik des Zufalls
Originalausgabe: The Music of Chance Viking / Penguin, New York 1990 Die Musik des Zufalls Übersetzung: Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek 1992
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die unerwartete Erbschaft eines großen Betrages verändert des Leben des Feuerwehrmannes Jim Nashe radikal. Er fährt über ein Jahr ziellos durchs Land. Dann lässt er sich mit dem "Schmalspurganoven" Jack Pozzi auf einen riskanten Deal ein. Sie setzen alles auf eine Karte.
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Kritik

Die Geschichte von zwei aus dem geregelten Leben gefallenen Männern, die nichts mehr zu verlieren haben, liest sich flüssig und spannend. Die nicht alltägliche Handlung sorgt für eine unterhaltsame Lektüre: "Die Musik des Zufalls".
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Der zweiunddreißig Jahre alte Feuerwehrmann Jim Nashe aus Boston hatte in seinem Leben bisher noch nicht viel Erfolg. Seine Frau ist ihm weggelaufen, und die kleine Tochter musste er zu seiner Schwester geben. Da erbt er unvermutet 200 000 Dollar von seinem Vater, mit dem er keinen Kontakt mehr hatte, seit er zwei war.

Trauer zu empfinden war nicht möglich, aber Nashe nahm an, dass er auf irgendeine Weise berührt sein würde – von etwas mit Trauer Verwandtem, vielleicht von einem Anfall später Wut und Reue. Immerhin war dieser Mann sein Vater gewesen, und das allein hätte ein paar tiefschürfende Gedanken über die Geheimnisse des Lebens auslösen sollen. Aber es stellte sich heraus, dass Nashe kaum etwas anderes als Freude empfand. (Seite 10)

Kurzentschlossen kündigt Nashe seinen Job und seine Wohnung, entledigt sich seiner Habseligkeiten, kauft sich ein neues Auto und fährt damit wie unter Zwang kreuz und quer durchs Land.

Nashe hatte keinen bestimmten Plan. Allenfalls schwebte ihm vor, sich eine Weile treiben zu lassen, von einem Ort zum anderen zu fahren und abzuwarten, was sich ergeben würde. Er nahm an, nach ein paar Monaten würde er genug davon haben, und dann würde er sich hinsetzen und sich Gedanken machen, was er als nächstes tun sollte […] Geschwindigkeit war das Wesentliche; das Vergnügen, im Auto zu sitzen und immer vorwärts durch den Raum zu jagen. Das wurde ihm wichtiger als alles andere, wurde zu einem Hunger, der um jeden Preis gestillt werden musste. (Seite 19)

Er hat nun die Genugtuung, sein Leben in die eigenen Hände genommen zu haben. In Motels übernachtet er; nach dem Essen liest er auf dem Zimmer Bücher und plant die Route für den nächsten Tag.

Nicht dass er verschwenderisch wäre, aber das Geld schmilzt allmählich dahin.

[…] wurde Nashe endlich klar, dass er das Problem nicht länger ignorieren durfte. Seine Zukunft war in Gefahr, und wenn er nicht irgendeinen Entschluss fasste, wann er aufhören sollte, würde er praktisch überhaupt keine Zukunft mehr haben. (Seite 26)

Er nimmt sich vor, so lange herumzufahren, bis noch 20 000 Dollar übrig sind. (Für seine kleine Tochter hat er immerhin eine größere Summe aus der Erbschaft auf einem Treuhandkonto hinterlegt.) Dann will er seiner früheren Bekannten, die er zufällig wieder getroffen und mit der er ein sporadisches Liebesverhältnis angefangen hat, einen Heiratsantrag machen. Die hat sich inzwischen aber unter anderem wegen seiner häufigen Abwesenheit für einen anderen Mann entschieden.

Nach dieser Abfuhr setzt er sein Wanderleben im Auto fort.

Er war jetzt genau ein Jahr und zwei Tage unterwegs, und ihm blieben noch knapp über 14 000 Dollar. Nashe empfand keine große Verzweiflung, spürte aber, dass er sich darauf zubewegte, dass ein oder zwei weitere Monate ihn in eine ausgewachsene Panik stürzen würden. […] Das eigentliche Problem war es jetzt, die Nerven zu behalten, sagte er sich, und er wollte sehen, ob diese langsame Art des Reisens ihm nicht helfen könnte, sich zu entspannen. (Seite 29)

Er beschließt, statt auf der Schnellstraße auf einer Nebenstrecke zu fahren. Und dabei fällt ihm frühmorgens ein taumelnder, verdreckter Mann am Straßenrand auf. Zuerst hält er ihn für einen Betrunkenen, bis er sieht, dass die Person verletzt ist. Nashe bietet dem etwa zweiundzwanzigjähren, blutüberströmten Fremden an, in sein Auto zu steigen.

Und so war Jack Pozzi in Nashes Leben getreten. Zu welchem Ende auch immer, damit hatte eines schönen Spätsommermorgens die Sache angefangen. (Seite 30)

Wie Nashe dann erfährt, war Jack („Jackpot“) Pozzi verprügelt worden, und zwar bei einem Überfall nach einer Pokerpartie. Jack verdient sich seinen Lebensunterhalt nämlich mit Glücksspiel. In neun von zehn Fällen gehe er als Sieger hervor, behauptet er. Im Augenblick ist er allerdings finanziell ziemlich klamm. Da kommt ihm der Vorschlag von Jim Nashe gerade recht, der ihm seine letzten 10 000 Dollar anbietet, die Jack als Einsatz für eine in Aussicht stehende Pokerrunde benötigt. Bei Erfolg hätte Jim ja auch etwas von dem Gewinn.

Pozzi wird von zwei durch Lottogewinne zu Millionen gekommenen Männern zur Revanche für ein Pokerspiel eingeladen. Er ist überzeugt, dass die beiden schrulligen alten Männer seinen Spielkünsten unterlegen sind. Nashe und Pozzi fahren also zu der schlossähnlichen Villa von Mr Stone und Mr Flower, die seit der letzten Pokerrunde mit Pozzi allerdings Nachhilfeunterricht von einem Berufskartenspieler aus Las Vegas erhalten haben.

Ausführlich wird der Verlauf des stundenlangen Kartenspiels geschildert (wenn man Poker kann, ist die Spannung wahrscheinlich noch größer): In den frühen Morgenstunden hat Pozzi alles verspielt. Nashe legt noch einmal nach und bietet sein Auto als allerletzten Einsatz an. Auch das geht verloren. Nicht einmal wegfahren können Pozzi und Nashe.

Flower und Stone bieten einen Handel an. Wie sie vorher erzählten, waren Steine aus der Ruine eines schottischen Schlosses auf ihr Grundstück gebracht worden. Diese 10 000 Steine wollen sie zu einer Mauer auf ihrem Anwesen aufrichten lassen – quasi als Denkmal. Sie schlagen vor, den Aufbau dieser Mauer mit den 10 000 Dollar Spielverlust plus Extraarbeit zum Auslösen des Autos zu verrechnen. Fünfzig Tage Arbeit sind dafür veranschlagt. Wohnen können Nashe und Pozzi in einem auf dem Grundstück stehenden Wohnwagen. Es wird alles vertraglich festgeschrieben. Der Hausmeister Murks soll die Arbeiten überwachen.

Der Aufbau der Mauer nimmt Formen an; Nashe und Pozzi arrangieren sich mit den Gegebenheiten. Lebensmittel, Zeitungen etc. können sie sich von Murks besorgen lassen. An die anstrengende körperliche Arbeit gewöhnen sie sich allmählich. Als Pozzi einmal mit einer Frau schlafen möchte, wird ihm nach Rücksprache mit Stone und Flower eine Prostituierte in einem Auto gebracht.

Die vereinbarte Frist von fünfzig Tagen ist abgelaufen; Nashe und Pozzi feiern das Ende ihrer Abgeschiedenheit und die Ablösung ihrer Schulden. Doch bevor sie gehen wollen, erhalten sie eine „Spesenabrechnung“ über 3 000 Dollar. Wohnen konnten sie zwar umsonst, aber sie haben in dem Vertrag übersehen, dass die Lebensmittel und alle sonst bestellten Waren nicht darin nicht enthalten waren (die Dirne mit Chauffeur und Wagen hat allein 900 Dollar gekostet). Abtragen der Schulden durch weiteres Steineschichten!

Nashe findet sich damit ab. Pozzi dagegen will fliehen. Nashe hilft ihm, unter einem Drahtzaun ein Loch zu graben, durch das er entkommen kann. Nashe hat sich wegen des Fehlens von Pozzi auch schon eine Ausrede für den Aufseher Murks ausgedacht. Da findet er am anderen Morgen vor der Tür …

[…] einen schemenhaften Haufen, ein Bündel blutbespritzter Kleidung auf dem Boden, und selbst nachdem er gemerkt hatte, dass ein Mann in diesen Kleidern steckte, sah er darin nicht Pozzi, sondern eine Halluzination […] Ihm fiel auf, dass die Kleider denen, die Pozzi am Abend zuvor getragen hatten, bemerkenswert ähnlich waren […], aber noch immer konnte Nashe die Fakten nicht zusammensetzen und sich sagen: Ich sehe Pozzi. Denn die Glieder des Mannes waren seltsam verdreht und schlaff, sein Kopf war (in einem fast unmöglichen Winkel, als wolle er sich vom Körper trennen) zur Seite abgeknickt, sodass Nashe zu der Überzeugung gelangte, der Mann müsse tot sein. (Seite 202)

Nashe kann endlich Murks verständigen, der Pozzi in ein Krankenhaus fahren soll. Nashe darf nicht mitkommen und er erfährt auch nie, ob Pozzi dort überhaupt abgeliefert wurde und wenn ja, ob man ihm noch helfen konnte.

Er arbeitet weiter an der Mauer, gerät aber mehr und mehr in Verzweiflung. Er lässt sich von Murks ein einfaches Keyboard besorgen und beginnt, darauf zu spielen. (Früher besaß er ein Piano.)

[…] und als er am dritten Abend endlich richtige Stücke zu spielen begann, bemerkte er, dass ältere Werke – Stücke, die vor der Erfindung des Klaviers geschrieben worden waren – sich darauf meist besser anhörten als neuere. Also konzentrierte er sich auf Werke, die vor dem neunzehnten Jahrhundert entstanden waren. Das Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach, Das Wohltemperierte Klavier, „Die geheimnisvollen Barrikaden“. Wenn er dieses letztere spielte, musste er unweigerlich an die Mauer denken, und er spielte es immer wieder, viel öfter als irgendeines der anderen. (Seite 213)

Wenn er nicht selbst spielt, hört er sich Opernarien an.

Irgendwann in der dritten Novemberwoche merkte Nashe, dass es ihm möglich war, zu seinem Geburtstag am dreizehnten Dezember wieder auf Null zu kommen. […] Wenn alles gutginge, würde er an seinem vierunddreißigsten Geburtstag die Freiheit zurückgewinnen. Es war ein ganz willkürliches Ziel, aber nachdem er sich einmal darauf verlegt hatte, merkte er, dass es ihm half, seine Gedanken zu ordnen und sich auf das zu konzentrieren, was zu tun war. (Seite  239)

Eines Tages bringt Murks seinen kleinen Enkel mit in den Wald. Das ansonsten scheue Kind sucht entgegen seiner sonstigen Gewohnheit Anschluss an den Fremden und läuft Nashe dauernd hinterher. Dem ist das unangenehm; der verstört wirkende Junge macht ihn nervös. Außerdem ist er davon überzeugt, dass der verschlagene Bengel Pozzi bei der Flucht gesehen und das zu Hause verraten hat.

Seit Nashe allein im Wohnwagen lebt, ist das Verhältnis mit Murks trotz allen Misstrauens nicht mehr so gespannt wie es vorher war. So kommt es, dass Murks ihn einlädt, auf einen Drink mit in eine Bar zu kommen. Nach anfänglichem Zögern willigt er ein. Fahren werden sie dem im Spiel verlorenem Auto, das Murks von den Millionären erhielt. Während der Fahrt genießt Nashe das vertraute Motorengeräusch „seines“ Autos, das früher sozusagen sein Zuhause war.

In der Bar spielt er mit Murks‘ Schwiegersohn Floyd Billard. Nashe gewinnt, will das Geld von Floyd aber nicht annehmen. Als dieser ihm stattdessen anbietet, ihm „mal einen Gefallen zu tun“, kommt Nashe auf eine Idee: Er bittet darum, das Auto von Murks, das ja eigentlich seines ist, zurückfahren zu dürfen. Murks hat nichts dagegen.

Er hätte nicht gedacht, dass es ihm so viel bedeuten würde, aber als er dann hinterm Steuer saß, merkte er, dass seine Hände zitterten. […] So lange war das doch gar nicht her, dachte er. Nur dreieinhalb Monate, aber trotzdem brauchte er eine Weile, bis er wieder ein wenig von dem alten Vergnügen empfand. […] er wollte dieses Geschenk genießen, die Erinnerung an den, der er einmal gewesen war, soweit wie möglich auskosten.(Seite 251ff)

Im Radio hat er einen Klassiksender eingestellt und versucht sich zu erinnern, ob das gespielte Streichquartett von Wolfgang Amadeus Mozart oder Joseph Haydn ist, als er im Schneetreiben ein Scheinwerferlicht auf sich zukommen sieht …

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Die Geschichte von zwei aus dem geregelten Leben gefallenen Männern, die sich durch einen riskanten Deal aneinander binden, liest sich flüssig und spannend. Bei der Pokerrunde zittert man förmlich mit. Auch die Atmosphäre in der gefangenschaftsähnlichen Abgeschiedenheit im Wald, wo sie die im Grunde sinnlose Mauer errichten, ist gut geschildert. Die beiden Protagonisten in „Die Musik des Zufalls“ sind wohl eher symbolhaft zu verstehen. (Nicht nachvollziehbar ist, warum ein Feuerwehrmann, der früher Buchverkäufer, Möbelpacker, Barkeeper, Taxifahrer war, Jean-Jacques Rousseau und William Faulkner liest und Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Sebastian Bach und Giuseppe Verdi als seine Lieblingskomponisten betrachtet.)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2004
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
Die Seitenausgaben beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe vom Januar 2003

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