Toni Morrison : Rezitativ

Rezitativ
Recitatif in: An Anthology of African American Women Hg.: Amiri und Amina Baraka Recitatif Nachwort: Zadie Smith Alfred A. Knopf, New York 2022 Rezitativ Übersetzung: Tanja Handels Nachwort: Zadie Smith Rowohlt Verlag, Berlin 2023 ISBN 978-3-498-00364-7, 92 Seiten ISBN 978-3-644-01719-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Twyla und Roberta lernen sich im Alter von acht Jahren kennen, als sie beide von der Fürsorge in ein Kinderheim eingewiesen werden. Als sie erwachsen sind, kreuzen sich ihre Wege zufällig noch einige Male. Eine der beiden Frauen ist weiß – welche, das verrät Toni Morrison nicht – die andere schwarz.
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Kritik

Warum wollen wir unbedingt wissen, wer welche Hautfarbe hat? Warum können wir uns von dieser Frage nicht frei machen?  Beim Lesen der Erzählung "Rezitativ" von Toni Morrison wird uns bewusst, wie wir in stereotypen Kategorien denken. Ein Meisterwerk!
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Im Heim

Zwei achtjährige Mädchen werden von der Fürsorge in das Kinderheim St. Bonaventure gebracht: die Ich-Erzählerin Twyla und Roberta. Sie teilen sich ein Vier-Bett-Zimmer. Eine der beiden ist weiß, die andere schwarz.

Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny’s gebracht.

Wir waren acht Jahre alt und bekamen nur schlechte Noten. Ich, weil ich mir nicht merken konnte, was ich gelesen hatte oder was die Lehrerin sagte. Und Roberta, weil sie überhaupt nicht lesen konnte und der Lehrerin nicht zuhörte.

Nach 28 Tagen besuchen die Mütter erstmals die Töchter. Roberta Fisk stellt ihrer Mutter die ihrer Mitbewohnerin vor, aber die Frau mit dem riesigen Brustkreuz und der Bibel in der Hand gibt Twylas eine grüne Hose tragender Mutter Mary nicht die Hand, und die zischt deshalb: „So ein Miststück!“

Erstes Wiedersehen

Inzwischen ist Twyla mit James Benson verheiratet, der „behaglich wie ein Paar Pantoffel“ ist. Sie haben einen kleinen Sohn: Joseph. Die Familie lebt in Newburgh, wo die Hälfte der Bevölkerung auf Fürsorge angewiesen ist.

Twyla arbeitet als Bedienung in einem Restaurant der Kette Howard Johnson. Am frühen Morgen, kurz vor dem Ende ihrer Nachtschicht, bringt ein Greyhound eine Busladung von Gästen. Twyla fällt Roberta auf, die mit zwei Kerlen hereinkommt. Sie spricht Roberta an, aber die interessiert sich nicht für sie, prahlt nur damit, dass einer der beiden Typen mit Jimi Hendrix verabredet sei und klärt Twyla spöttisch darüber auf, wer das ist.

Zweites Wiedersehen

Zwölf Jahre nach dem ersten Wiedersehen im Howard Johnson kreuzen sich Twylas und Robertas Wege erneut, diesmal in einer Shoppingmall am Rand von Newburgh/New York. Und anders als beim ersten Mal zeigt Roberta diesmal Interesse an Twyla.

Sie sei noch zweimal im Kinderheim gewesen, erzählt sie, mit zehn und mit 14. Seit einem Jahr wohnt sie in Annandale in einem Stadtviertel „voller Ärzte und IBM-Führungskräfte“. Ebenso lang ist sie mit dem Witwer Kenneth Norton verheiratet und Stiefmutter von vier Kindern. Als Twyla den Mann hinter dem Lenkrad der Limousine sieht, nimmt sie an, Roberta habe einen Chinesen geheiratet, aber die klärt sie darüber auf, dass es sich um den Chauffeur handelt.

Demonstrantinnen

Anfang der Siebzigerjahre soll Joseph wie viele andere Schülerinnen und Schüler auch, von seiner Junior High School in eine andere versetzt werden. Weil sie weiter entfernt ist, wird ein Schulbus zur Verfügung stehen. Das School Busing gehört zum Projekt der Desegregation, also der Zusammenführung von Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen sozialen Milieus und mit verschiedener Hautfarbe.

In den Zeitungen wird über „Unruhe zwischen Schwarz und Weiß“ geschrieben.

Während einer Autofahrt entdeckt Twyla unter gegen das Projekt demonstrierenden Müttern Roberta. Warum sie das mache, fragt Twyla sie:

„Die wollen meine Kinder aus dem Viertel wegbringen. Aber sie möchten gar nicht weg.“
„Was ist denn dabei, wenn sie auf eine andere Schule gehen? Mein Sohn soll jetzt auch mit dem Bus fahren, aber mich stört das nicht.“

Kurz darauf schließt Twyla sich den Gegendemonstrantinnen an.

Ausklang

Twylas Sohn Joseph studiert an der State University of New York in New Paltz, als sie einen Weihnachtsbaum kauft und in einem Diner einen Kaffee trinkt. Zufällig ist auch Roberta kurz mit einem Mann und einer Frau da, um einen Coffee to Go zu besorgen. Sie trägt ein silbernes Abendkleid und einen dunklen Pelzmantel.

Roberta gesteht Twyla, dass sie log, als sie behauptete, Twyla habe im Kinderheim St. Bonaventure die stumme schwarze Küchenhilfe Maggie getreten, die in der Hackordnung ganz unten stand. Inzwischen wisse sie nicht einmal mehr, welche Hautfarbe Mary gehabt habe.

„Wir haben sie nicht getreten. Das waren die Gar-Girls. Und nur die. Aber, weißt du, ich wollte es. Ich wollte unbedingt, dass sie ihr wehtun. Ich habe dir erzählt, wir hätten mitgemacht. Du und ich, aber das stimmt nicht. Und ich möchte nicht, dass du das mit dir rumträgst. Aber ich wollte es an dem Tag einfach so sehr – und Wollen ist wie Tun.“

Am Ende schluchzt Roberta.

„Ach, Mist, Twyla, Mist, Mist, Mist. Was zum Teufel war da bloß mit Maggie?“

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Im Alter von acht Jahren lernen sich Twyla und Roberta kennen. Als sie erwachsen sind, kreuzen sich noch mehrmals ihre Wege. Eine von ihnen ist weiß, die andere schwarz. Aber welche? Die Ich-Erzählerin Twyla? Das läge nahe, denn die Autorin Toni Morrison ist ebenfalls Afroamerikanerin. Robertas Mutter verweigert Twylas Mutter den Handschlag. Weil sie als Weiße keine Schwarze anfassen mag? Aber es könnte auch sein, dass die fromme Afroamerikanerin der unmoralisch lebenden Weißen nicht die Hand gibt. Liefert der Wohnort Newburgh einen Hinweis auf die Hautfarbe? Die im Zweiten Weltkrieg florierende Stadt knapp 100 Kilometer nördlich von Manhattan wies eine schwarze Mittelschicht auf, aber nach dem Krieg schlossen viele Fabriken, und die Bevölkerung verarmte – bis weiße Investoren die alten Häuser renovierten. Daraus lässt sich also auch nichts über die Hautfarbe der Ich-Erzählerin ableiten.

Toni Morrison löst das Rätsel in „Rezitativ“ nicht auf. Es ist ein Experiment. Warum wollen wir unbedingt wissen, wer welche Hautfarbe hat? Warum können wir uns von dieser Frage nicht frei machen?  Toni Morrison lässt die Lesenden spüren, wie sie in stereotypen Kategorien – wenn nicht sogar rassistischen Klischees – denken.

Die auf den ersten Blick einfache Erzählung „Rezitativ“ ist ein Meisterwerk der Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Das bezieht sich auf die geniale Grundidee ebenso wie auf das erzählerische Können der Autorin.

„Recitatif“ / „Rezitativ“ wurde 1983 in einer Anthologie veröffentlicht und erst 2023 – von Tanja Handels – ins Deutsche übersetzt. Der Rowohlt Verlag brachte die Buchausgabe mit einem ausführlichen Nachwort von Zadie Smith heraus.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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