Ralf Rothmann : Die Nacht unterm Schnee

Die Nacht unterm Schnee
Die Nacht unterm Schnee Originalausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2022 ISBN 978-3-518-43085-9, 304 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Alter von 16 Jahren wurde Elisabeth auf der Flucht aus Ostpreußen von einer Gruppe russischer Soldaten brutal vergewaltigt. Nach dem Krieg kellnert sie in Kiel, heiratet dann notgedrungen den Melker Walter, zieht zu ihm aufs Gut und teilt sich die Arbeit mit ihm. Später siedeln sie mit den beiden Kindern ins Ruhrgebiet um, wo Walter sich als Kohlenhauer kaputt schuftet, während Elisabeth nicht nur raucht und trinkt, sondern auch jede Gelegenheit nutzt, um tanzen zu gehen.
mehr erfahren

Kritik

Mit "Die Nacht unterm Schnee" schließt Ralf Rothmann seine die eigene Familiengeschichte aufgreifende Romantrilogie ab, in der er die Traumatisierung und psychische Verwüstung veranschaulicht, die der Krieg auch bei den Überlebenden hinterlässt. Als Ich-Erzählerin lässt Ralf Rothmann in dem realistischen und erschütternden Roman "Die Nacht unterm Schnee" nicht die Hauptfigur Elisabeth, sondern deren Freundin Luisa retrospektiv auftreten.
mehr erfahren

Norddeutschland

Luisa Norffs Vater stellte kurz vor seinem Tod Elisabeth („Liesel“) Isbahner als Büfettkraft in dem von ihm betriebenen Marinekasino am Kieler Hafen ein. Das Lokal wird inzwischen von seiner Witwe weitergeführt, und Elisabeth hat sich zur Geschäftsführerin hochgearbeitet. Obwohl sie mit dem auf dem Alten Rittergut Lindstedt bei Missunde arbeitenden Melker Walter Urban verlobt ist, nimmt sie wechselnde Männer mit ins Bett.

Eines Tages findet eine Bedienung Elisabeth mit aufgeschnittenen Pulsadern bewusstlos am Boden liegend vor. Sie wird rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht und gerettet. Dort stellt sich heraus, dass sie schwanger ist.

Weil auf dem Gut nur noch ein kostengünstigeres Melker-Ehepaar beschäftigt werden soll, heiraten Walter und Elisabeth.

Während Elisabeth nun als Melkerin mit ihrem Mann und dem Sohn Wolf auf dem Land lebt, studiert die ein paar Jahre jüngere Luisa nach dem Abitur Bibliothekswissenschaft in Kiel – und fängt eine Liebesbeziehung mit dem Literaturprofessor Richard Block an.

Als Elisabeth erneut schwanger ist und aufgrund von Komplikationen nicht mehr arbeiten kann, verzichtet Luisa auf den geplanten Paris-Urlaub und lässt sich auf dem Gut an der Schlei als Melkerin anlernen.

Bei Licht betrachtet war schließlich alles, diese scheinbare Idylle in Ruhe und gesunder Luft, nur Unfreiheit und Gewalt, Schmerz und Dreck. Jeder Tropfen Milch, den man den eingepferchten, nach ihren Müttern brüllenden Kälbern vorenthielt, jedes der kotigen Eier, die man den Hühnern und ihrer Hoffnung auf Küken raubte, und sowieso jedes Stück Fleisch aus den stinkenden Schweineställen – alles war mit einem Leid erkauft, das umso mehr zum Himmel schrie, als weder die Landwirte noch ihre Kunden es überhaupt wahrnahmen.

In einer Entbindungsklinik in Schleswig bringt Elisabeth eine Tochter zur Welt. Dass Sandra Missbildungen aufweist, führt die Stationsschwester darauf zurück, dass Elisabeth in der Schwangerschaft nicht aufhörte, zu rauchen und Schnaps zu trinken. (Später wird Sonja auch epileptische Anfälle haben.)

Weil das Melker-Ehepaar kein Geld hat, um Luisa für ihre Hilfe zu bezahlen, schenkt Elisabeth ihr eine Schatulle mit Perlen-Ohrringen. Die könne sie hier auf dem Land ohnehin nicht tragen, erklärt sie. Luisa legt sie vor der Abreise an – und fällt der Gutsbesitzerin auf, die sofort ihren Mann Henner Pauly herbeiruft. Der bestätigt, dass es sich um Schmuck seiner Frau handelt, und Elisabeth wird beschuldigt, die Ohrringe im Gutshaus gestohlen zu haben. Deshalb muss sich das Melkerehepaar einen neuen Arbeitsplatz suchen.

Zwei Jahre lang bleiben Walter und Elisabeth in Ovelgönne in der Wesermarsch, dann ziehen sie ins Ruhrgebiet, wo Walter Arbeit als Kohlenhauer in der Zeche Haniel in Oberhausen findet.

Ruhrgebiet

Als Luisa Ende 20 ist, verkauft ihre Mutter die Gaststätte am Kieler Hafen und setzt sich in einer Seniorensiedlung in Felm zur Ruhe. Luisa beginnt nach ihrem Studienabschluss in der Stadtbücherei zu arbeiten und lebt weiter mit Richard Block zusammen. Sie beschließt, allein nach Italien zu reisen und besucht unterwegs Walter und Elisabeth, Wolf und die inzwischen siebenjährige Sonja in Oberhausen.

Sie erschrickt, als sie Walter sieht. Er ist ausgemergelt, kaputt und erschöpft. Während er sich hinlegt, geht Elisabeth mit Luisa tanzen.

An diesem Abend erfährt Luisa die Wahrheit über die Perlen-Ohrringe: Elisabeth fand sie beim Putzen unter einer Kommode. Der Gutsbesitzer Henner Pauly kam dazu, schenkte sie ihr und versicherte, dass seine Frau den Schmuck nicht vermissen werde. Aber er erwartete dann auch, dass sie ihm sexuell zur Verfügung stand, wenn ihm danach war, und Elisabeth wagte es nicht, sich zu widersetzen, weil sie nicht wollte, dass Walter aus einem „Paradies“ vertrieben würde. Sonja wurde wahrscheinlich von Pauly gezeugt, denn Walter benutzte Kondome und passte auf.

Luisa erleidet eine Fehlgeburt und bringt dann eine Tochter zur Welt: Antonia.

Ihr Kontakt zu Walter und Elisabeth ebbt im Lauf der Zeit ab. Aber 1986 telefoniert sie mit Wolf Urban, der Schriftsteller geworden ist. Sie erfährt, dass sein Vater Frührentner wurde und soeben im Alter von 60 Jahren an Magenkrebs starb. Elisabeth wird nicht älter als 59 werden, denn in ihrem Körper wuchern Metastasen eines Lungentumors. Ein halbes Jahr später folgt sie ihrem Mann ins Grab.

Als Luisa im Jahr 2000 pensioniert wird, bittet Wolf sie um Material für ein Buch über seine Mutter.

Ostpreußen

Elisabeths Mutter zog in der Nähe von Danzig sieben von vier verschiedenen Männern gezeugte Kinder auf. Elisabeth ist 16 Jahre alt, da flieht die Familie ebenso wie die Nachbarn vor der Roten Armee. Aber der Treck wird von russischen Soldaten überfallen. Nur Elisabeth entkommt zunächst.

Zuflucht sucht sie in einer Kate, die bis vor kurzem von Deutschen bewohnt wurde, von denen aber jetzt niemand mehr da ist. Nur die beiden Schäferhunde liegen tot vor der Tür. Ein russischer Offizier überrascht Elisabeth dort, vergewaltigt sie und sperrt sie ein. Später kommen fünf oder sechs andere Russen und vergewaltigen sie einer nach dem anderen.

Als sie fort sind, zerschlägt Elisabeth mit einem Stuhl ein Fenster und klettert ins Freie.

Ein russischer Deserteur, der sich als Dimitrij Iwanowitsch Brugg vorstellt, nimmt sich ihrer an und trägt sie in seine Behausung. Er zieht er ihr vorsichtig die blutigen Sachen aus, untersucht, säubert ihre Verletzungen und desinfiziert sie mit Schnaps. Nachdem er ihr eine Speckschwarte zwischen die Zähne geschoben hat, näht er einen größeren Riss. Dann lässt er sie schlafen.

Vier Tage lang kommt er nicht zurück. Schließlich verlässt Elisabeth die Hütte – und findet unweit davon seine Leiche.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Ralf Rothmann wurde 1953 in Schleswig geboren und lebte bis zu seinem fünften Lebensjahr auf dem Gut Fahrenstedt bei Böklund, wo seine Eltern als Melker-Ehepaar arbeiteten. Die Mutter Elisabeth, geborene Isbahner, war in Konitz bei Danzig aufgewachsen. Der Vater Walter Rothmann (im Roman: Walter Urban) stammte aus Essen und zog mit der Familie nach der Geburt des zweiten Kindes zurück ins Ruhrgebiet, um als Kohlenhauer in der Zeche Haniel in Oberhausen mehr Geld zu verdienen. Elisabeth erhöhte das Familieneinkommen als Kellnerin in der Bahnhofsgaststätte.

In einer aus „Im Frühling sterben“ (2015), „Der Gott jenes Sommers“ (2018) und „Die Nacht unterm Schnee“ (2022) bestehenden Romantrilogie greift Ralf Rothmann die eigene Familiengeschichte auf.

„Im Frühling sterben“ dreht sich um die beiden 17-jährigen Melker Walter Urban und Friedrich Caroli, die im Februar 1945 von der Waffen-SS zwangsrekrutiert werden.

Protagonistin des Romans „Der Gott jenes Sommers“ ist die 12-jährige Luisa Norff, die im Winter 1944/45 mit ihrer Mutter und der sieben Jahre älteren Schwester Sibylle („Billie“) vor den Luftangriffen von Kiel auf das nahe Gut flüchtet, das dem SS-Offizier Vinzent gehört, dem Ehemann von Luisas und Sibylles Halbschwester Gudrun. Der Vater bleibt in Kiel und betreibt dort weiter ein Militärkasino – bis er sich erhängt. Während Vinzent seinen 40. Geburtstag feiert, verschwindet Sibylle für immer, und Luisa wird von ihrem Schwager vergewaltigt.

Hauptfigur des dritten Bandes ‒ „Die Nacht unterm Schnee“ ‒ ist Elisabeth im Winter 1944/45 und in der Zeit von 1949 bis zu ihrem Tod in den Siebzigerjahren. Wolf Urban, der Sohn von Walter und Elisabeth, könnte Züge des Autors Ralf Rothmann aufweisen.

In allen drei Bänden der Trilogie geht es um die Traumatisierung und psychische Verwüstung, die der Krieg auch bei den Überlebenden hinterlässt. Weder Walter noch Elisabeth reden über die erlebten Kriegsgräuel. Als die 1945 von einer Gruppe Soldaten brutal vergewaltigte Elisabeth später gefragt wird, was ihr auf der Flucht widerfahren sei, antwortet sie lapidar: „In Pommern hat mich mal einer geschnappt.“

Ralf Rothmann lässt in „Die Nacht unterm Schnee“ allerdings nicht Elisabeth zu Wort kommen, sondern deren Freundin Luisa Norff. Die Ich-Erzählerin erinnert sich Jahrzehnte später an ihre Erlebnisse mit Elisabeth und deren Ehemann Walter, als deren Sohn Wolf Urban die pensionierte Bibliothekarin, die er seit der Kindheit kennt, um Material für ein Buch über seine Mutter bittet.

Am Ende jedes Kapitels des realistischen und erschütternden Romans „Die Nacht unterm Schnee“ hat Ralf Rothmann einen kurzen Abschnitt eingefügt, in dem wir nicht Luisa Norff, sondern einen auktorialen Erzähler hören, der uns die grauenvollen Erlebnissen der 16-jährigen Elisabeth Anfang 1945 auf der Flucht vor den Russen veranschaulicht.

Den Roman „Die Nacht unterm Schnee“ von Ralf Rothmann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Nina Petri und Markus Hoffmann.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Ralf Rothmann: Hitze
Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Susanne Röckel - Der Vogelgott
Susanne Röckel lässt in "Der Vogelgott" vier Ich-Erzähler zu Wort kommen: einen Vater und seine drei erwachsenen Kinder. Zwischen Realität und Wahn können wir dabei kaum unterscheiden. Rätsel und Irritationen, Unklarheiten und Leerstellen gehören zum Programm dieses ungewöhnlichen, an Kafka und das Genre der Schauerromantik erinnernden, bildhaften Romans.
Der Vogelgott

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.