Zadie Smith : Betrug

Betrug
The Fraud Hamish Hamilton, London 2023 Der Betrug Übersetzung: Tanja Handels Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023 ISBN 978-3-462-00544-8, 524 Seiten ISBN 978-3-462-31183-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Witwe Eliza Touchet, die dem Schriftsteller William Ainsworth den Haushalt führt, verfolgt mit seiner zweiten Ehefrau Sarah gemeinsam den Tichborne-Fall. Während sich die frühere Magd Sarah wie viele andere einfache Leute mit dem (1874 verurteilten) Hochstapler "Sir Robert" und gegen die Elite solidarisiert, interessiert sich Eliza für die Lebensgeschichte des Zeugen Arthur Bogle, eines früheren Sklaven.
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Kritik

Kolonialismus, Sklaverei und Abolitionismus, Rassismus, Freiheit und Frauenrechte sind Themen, die Zadie Smith in ihrem historischen Roman "Betrug" angeht. Zentral ist der historische Tichborne-Fall, mit dem Zadie Smith aktuelle Phänomene wie Populismus und Desinformation, Fake News und Verschwörungstheorien, Sensationsgier und Medienhypes spiegelt.
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Eliza Touchet

Der englische Schriftsteller William Ainsworth heiratet 1826 im Alter von 21 Jahren Anne Frances Ebers. Das Ehepaar bekommt drei Töchter: Fanny (*1827), Emily (*1829) und Anne-Blanche (*1830). Im Frühjahr 1836 verlässt Anne Frances ihren Mann und zieht zu ihren Eltern, die ihm vorwerfen, seine Frau nicht nur während eines monatelangen Auslandsaufenthalts vernachlässigt zu haben. Als Anne Frances Ainsworth zwei Jahre später im Alter von 31 Jahren stirbt, wird der Witwer nicht zum Begräbnis eingeladen.

Eliza Stuart Touchet, eine sechs Jahre jüngere Schottin aus Edinburgh, zieht zu ihm, um ihm den Haushalt zu führen. Sie hatte im Alter von 21 Jahren seinen Cousin James Touchet geheiratet, aber der verließ sie nach drei Ehejahren mit dem Sohn Toby und der Amme Jenny. Bald darauf starben alle drei an Scharlach. Eliza Touchet liebte Anne Frances, hatte aber auch ein Verhältnis mit deren Ehemann, der sie bei jeder Gelegenheit in Chesterfield besuchte.

Der Fall Roger Tichborne bzw. Arthur Orton

Die frühere Magd Sarah Wells, die inzwischen mit William Ainsworth verheiratet ist, verfolgt mit Eliza gemeinsam den Fall Roger Tichborne bzw. Arthur Orton.

Dabei fiebert Sarah, wie viele andere Menschen aus den unteren Schichten, mit »Sir Roger«, obwohl ihm vorgeworfen wird, ein Hochstapler zu sein. Es wird sogar Geld für ihn gesammelt. Während der verschollene Roger Tichborne ein College absolviert hatte, erweist sich der Ansprüche auf das reiche Erbe geltend machende Mann als völlig ungebildet.

Er wusste nicht, wer Vergil war, nicht einmal, ob es sich um einen Schriftsteller oder einen König handelte. Latein hielt er für Griechisch und konnte weder das eine noch das andere vom Französischen, seiner angeblichen Muttersprache, unterscheiden. Er brachte Shakespeare mit Galileo und Physik mit Biologie durcheinander.

Dazu meint Sarah unbeirrt:

„Ist es nicht großartig, wie er die ganzen Wichtigtuer durcheinanderbringt! Je mehr die Rechtsverdreher reden, desto besser beweist er sich! Wär er ein Hochstapler, dann hätte er doch über jedes Thema Bescheid gewusst, wie Hochstapler das halt machen, aber er ist eben ein Lord, er hat das gar nicht nötig. Er weiß, wer er ist, das ist alles, was zählt. Vergil! Wer soll das denn überhaupt sein, dieser Vergil?“

„Ich geh mit allen anderen zur Regent Street! Sir Roger braucht jetzt seine Leute an seiner Seite. Er ist nicht allein! Wir lassen ihn nicht versauern!“

Andrew Bogle

Eliza dagegen interessiert sich mehr für den Zeugen Andrew Bogle, spricht ihn und seinen Sohn Henry an und lässt sich seine Geschichte erzählen.

Sein afrikanischer Vater Anoso wurde im Alter von neun Jahren nach Jamaika verschleppt und versklavt. Mr Ballard, der schottische Verwalter der dem Herzog von Buckingham und Chandos gehörenden Zuckerrohrplantage „Hope“ im Verwaltungsbezirk Saint Andrew, bemerkte seine Intelligenz und nannte ihn deshalb „Nonesuch“. Seit der Kindheit war Anoso mit einem Mädchen namens Myra befreundet. 1801 brachte sie Andrew zur Welt. Nach ihm bekam sie noch zwei Kinder. Von 1808 an war sie Witwe. Als die Kinder Leda mit acht und Jasper mit neun Jahren starben, versank Myra in Schwermut und lebe selbst nicht mehr lang.

Andrew Bogle gelangte als Diener von Edward Tichborne nach London und heiratete die Krankenschwester Elizabeth. Die beiden Söhne John und Andrew waren acht bzw. sieben Jahre alt, als die Mutter starb. Mit seiner neuen Lebensgefährtin Jane Fisher und den Söhnen wanderte Andrew Bogle nach New South Wales aus, wo Jane zwei Kinder bekam – Henry und Edward –, aber kurz nach der Geburt Edwards im Alter von 43 Jahren starb. Der Säugling überlebte sie nur um ein paar Tage.

Als Andrew Bogle senior als Zeuge in den Tichborne-Fall verwickelt wurde, begleiteten er und sein Sohn Henry den angeblichen Sir Roger nach England.

Das Urteil im Fall Tichborne

Eliza und Sarah verfolgen den Fall Tichborne auch im Dezember 1873 im Gerichtssaal, als der Rechtsanwalt Edward Kenealy das Schlussplädoyer hält. Anfang 1874 wird der angebliche Sir Roger, den das Gericht für den 1834 in England geborenen Metzgersohn Arthur Orton hält, zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Um die Rehabilitierung und Freilassung zu betreiben, wird der Kenealy National Testimonial Fund gegründet, der sich allerdings auch politische und gesellschaftliche Forderungen auf die Fahnens schreibt:

Abschaffung aller Steuern […], die Wiedereinsetzung der Bill of Rights, ein ehrliches Pressewesen, eine gerechte Volksvertretung, […] keine Pockenimpfung für Kinder […]

Das Erbe

Samuel Touchet war der Großvater von James Touchet und Großonkel von William Ainsworth. Bei seinem Tod eröffnete der mit der Testamentsvollstreckung beauftragte Notar R. L. Atkinson der Witwe des Enkels dass sie von da an eine jährliche Zuwendung bekomme und riet Eliza Touchet zugleich, sich nicht weiter um die Einzelheiten des Testaments zu kümmern.

Aber 1874 wird Eliza damit konfrontiert: Zwei Waisen schreiben ihr. Lizzie ist 13 alt, ihre Schwester Grace zwei Jahre jünger. Die beiden außerehelichen Töchter von James Touchet beanspruchen nun das Erbe, das ihnen ihr Großvater Samuel Touchet vermacht hat. Atkinson rät Eliza, unverzüglich das Bankguthaben abzuheben, bevor die Mädchen Zugriff darauf bekommen, aber Eliza erklärt ihm kurzerhand, dass die beiden das restliche von Samuel Touchet hinterlassene Vermögen bekommen sollen.

Drei Jahre später, 1877, findet Eliza ihren angeheirateten Cousin William Ainsworth tot auf dem Boden liegend vor.

Inzwischen hat sie ein Buch-Manuskript mit dem Titel „Betrug“ fertiggestellt.

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Unter dem Titel „Betrug“ hat Zadie Smith einen viktorianischen Roman geschrieben und dabei die historischen Gegebenheiten detailliert rekonstruiert.

Kolonialismus, Sklaverei und Abolitionismus, Rassismus, Freiheit und Frauenrechte sind Themen, die Zadie Smith in „Betrug“ angeht.

Zentral ist der historische Tichborne-Fall in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Obwohl der Erster Klasse aus Australien angereiste unglaubwürdige (und am Ende als Hochstapler verurteilte) „Anwärter“ auf ein enormes Vermögen spekuliert, wird er vor allem vom einfachen Volk unterstützt. Menschen, die selbst nichts haben, lassen sich gegen die Elite aufwiegeln und spenden Geld für die Prozesskosten des Mannes. Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten sich. Populismus und Desinformation, Sensationsgier und Medienhypes prangert Zadie Smith in „Betrug“ am Beispiel des Tichborne-Falls an. Und da sind Parallelen zur Gegenwart nicht zu übersehen. Sogar Impfgegner bringt Zadie Smith in ihrem breit angelegten Roman unter.

Überhaupt packt sie eine Unmenge von Themen und Einzelheiten in „Betrug“. In zahlreichen kurzen Kapiteln springt sie zwischen 1826 und 1877 hin und her, aber auch zwischen verschiedenen Handlungssträngen: Elizas Touchets Leben, ein Porträt des Schriftstellers William Ainsworth (1805 – 1882), die Familiengeschichte der Bogles, der Tichborne-Fall …: Da verliert man beim Lesen leicht den Überblick, nicht zuletzt wenn es um die verästelten Beziehungen in den Familien der Doughtys, Tichbornes, Chandons und der Dukes of Buckingham geht.

Zadie Smith stellt alles konsequent aus der Perspektive der kritischen und freiheitsliebenden Ich-Erzählerin Eliza Touchet dar. Bei dieser Figur gibt es zwar eine historische Entsprechung, aber – wie Zadie Smith im Nachwort erläutert – handelt es sich zumindest in Teilen um „das Fantasiebild einer Frau“. Tatsächlich starb Eliza Touchet am 3. Februar 1869, also lange vor ihrem angeheirateten Cousin William Ainsworth (den sie in „Betrug“ tot auffindet).

William Ainsworth (1805 – 1882) war Jurist, führte vorübergehend einen Verlag und wurde dann Schriftsteller. Die Frau, die er am 11. Oktober 1826 heiratete, hieß nicht Anne Frances Ebers wie in „Betrug“, sondern Fanny Ebers. In den Dreißigerjahren war er mit Charles Dickens befreundet, der ebenfalls zu den Figuren in Zadie Smiths Roman „Betrug“ gehört.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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Andreas Maier - Wäldchestag
Ein Haufen zum Teil betrunkener Kleinstädter reden übereinander und darüber, was sie von anderen über wieder andere gehört haben wollen. Gerade die Banalität, die Gewöhnlichkeit der Gespräche ist erschreckend, weil sich dahinter der Wahnsinn des Alltäglichen zeigt. "Wäldchestag" ist Milieustudie und Provinzposse zugleich.
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