Leopold Tyrmand : Filip

Filip
Filip Warschau, 1961 Filip Übersetzung: Peter Oliver Loew Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 2021 ISBN 978-3-627-00284-8, 633 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit gefälschten Papieren auf den Namen Filip Vincel arbeitet der Sohn einer jüdischen Familie 1943 als Kellner in einem exklusiven Hotel in Frankfurt/M und gibt sich als in Warschau geborener staatenloser Franzose aus. Den Holocaust überlebt er gewissermaßen im Auge des Orkans. Filip meistert die existenzielle Bedrohung durch seine Chuzpe und Intelligenz.
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Kritik

In dem autofiktionalen Hotel- und Schelmenroman "Filip" verarbeitet Leopold Tyrmand seine Erlebnisse als Fremdarbeiter 1942/43 im Rhein-Main-Gebiet. Er  fügt retardierende Reflexionen ein, fesselt aber v. a. mit lebendigen Szenen, einer Fülle origineller Einfälle und einer genauen Beobachtung des widersprüchlichen Handelns der Menschen nicht nur in schweren Zeiten.
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Arbeitslager

Der 1920 als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie in Warschau geborene Ich-Erzähler, dessen richtigen Namen wir nicht erfahren, erhält 1942 vom Vorsteher der Gemeinde Pilany im Gebiet von Wilna eine deutsche Kennkarte. Demzufolge handelt es sich bei ihm um Filip Vincel, einen staatenlosen Franzosen aus Warschau, von Beruf Architekt, wohnhaft in Cudzieniszki bei Oszmiana. Damit meldet er sich beim deutschen Arbeitsamt in Wilna als Freiwilliger für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich.

Im Frühjahr 1942 trifft er mit anderen zusammen in Mainz ein und wird in das Arbeitslager der Reichsbahndirektion bei Gustavsburg aufgenommen.

Freiheit, Recht, Wahrheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit blühten in meiner Überzeugung in gepflegten Rabatten rings um London, während ich bis zu den Nasenlöchern genau in der Mitte eines monströsen, den Kontinent überspannenden Bottichs saß, der angefüllt war mit einer widerlichen Masse von Lüge, Gemeinheit, Gewaltherrschaft und Versuchen, mich auf Schritt und tritt zu vernichten.

Das Gute war damals gut bewaffnet: Gerechtigkeit und Humanismus, Schönheit, Recht und Wahrheit standen Flugzeuge und Panzer zur Verfügung, an deren Sieg über die Flugzeuge und Panzer der Tyrannei, der Dummheit und der Lüge ich unerschütterlich glaubte.

Auch der traditionelle Begriff von der Waffe schwand, also eines Werkzeugs, das der direkten Vernichtung des Feindes dient, ohne Rücksicht darauf, ob dieses Instrument ein Haken, ein Wurfspieß, ein Geschütz oder eine moderne Fliegerbombe ist. […] Wie nie zuvor kämpfte man mit Produktionspotenzialen, Rundfunknachrichten, Lebensmittelmangel, psychologischer Widerstandsfähigkeit und Gerüchten. Es entstanden viele neue Arten der Kriegführung, in den Hauptrollen das Explosivmaterial der Propaganda, der Bazillus des Zweifels, die Keule der Razzien und der Konzentrationslager.

Weil Filip Vincel deutsch, französisch und polnisch spricht, beschäftigt man ihn als Dolmetscher. Die Männer, die Verladearbeiten durchführen, zweigen immer wieder für Frontsoldaten bestimmte Geschenkpakete ab und plündern sie, obwohl darauf die Todesstrafe steht.

Filip lernt einen gleichaltrigen jüdischen Polen aus dem Kriegsgefangenenlager bei Rüsselsheim kennen, der auf einem Bauernhof in Kostheim arbeitet. Tadeusz hat sich in Franziska Brandt verliebt, die Tochter eines deutschen Eisenbahners. Als jemand die beiden denunziert, wird Tadeusz wegen „Rassenschande“ hingerichtet und der jungen Frau der Kopf geschoren.

Parkhotel

Ende 1942 meldet sich Filip beim Arbeitsamt in Frankfurt am Main und wird dem Büro eines Architekten zugeteilt, der vor Hitlers Machtübernahme Sozialdemokrat gewesen war und deshalb keine Häuser mehr bauen darf, sondern den Auftrag erhalten hat, ein Netz von Bedürfnisanstalten zu planen. Nach kurzer Zeit sorgt die Gestapo allerdings dafür, dass Filip entlassen wird, denn aus Sorge vor Sabotageakten soll kein Fremdarbeiter in die Pläne eingeweiht werden.

Filip fängt nun als Kellner im Parkhotel in Frankfurt an. In der Nobelherberge freundet er sich mit dem holländischen Fremdarbeiter Piet an, den er Piotr nennt. Die von Herrn Brütsch, dem Maître d’Hôtel, geführte Gruppe der aus verschiedenen west-, süd- und osteuropäischen Ländern stammenden Kellner bessert ihre ohnehin verhältnismäßig gute Ernährung durch Unterschlagungen und Betrügereien auf. Wie die anderen auch, verlangt Filip von einigen Gästen zu viele Lebensmittelmarken, und wenn eine Gruppe Wein bestellt, zweigt er die eine oder andere Flasche für sich und die Kollegen ab. Einmal stiehlt er drei gefüllte Tomaten, die ein anderer Kellner auf die Seite gestellt hat. Der Preis einer Tomate entspricht einem Viertel seines Monatsgehalts. Material für selbst gedrehte Zigaretten gewinnen die Kellner, indem sie aus den Kippen in den Aschenbechern den Tabak herausbröseln.

Kann man leben ohne Unrecht zu tun?

Dagegen möchte ich deutlich hervorheben, dass ich niemandem Unrecht getan habe, unter Umständen, unter denen es sehr schwer war, dies zu vermeiden. Aber es ist mir gelungen.

Als eine Nichte des Reichswirtschaftsministers Walther Funk ihre Hochzeit im der NS-Prominenz vorbehaltenen Hotel Kurfürstenhof feiert, stellt das Parkhotel sechs der 24 Kellner. Diese tragen wie alle Männer Frack, unterscheiden sich jedoch durch schwarze Fliegen von den Herrschaften, die weiße umgebunden haben. Im Übermut wechselt Filip in der Toilette die schwarze gegen eine weiße Fliege, kehrt dann in der Rolle eines Gastes in den Festsaal zurück und lässt sich von Piotr einen Hummer mit Spargel und Champagner servieren. Nachdem er aufgegessen und ausgetrunken hat, will er gerade nach einem vollen Aschenbecher greifen, um sich den Tabak aus den Kippen anzueignen, als er merkt, dass er beobachtet wird. Der ältere Herr kommt auf ihn zu, amüsiert sich augenscheinlich über die Chuzpe des Kellners, den er aus dem Parkhotel kennt und gibt ihm seine Visitenkarte: Dr. Hans Jacob Hagendorf, Rechtsanwalt.

Bibliothek

Filip findet heraus, dass der Jurist päderastische Neigungen hat. Er sucht ihn in seiner großen Kanzlei in Frankfurt auf, behauptet, er habe romanische Philologie studiert und erreicht mit einer angedeuteten Drohung, den angesehenen Rechtsanwalt in Verruf zu bringen, dass Hagendorf ihm ein Empfehlungsschreiben für die Baronin von Wrangel mitgibt.

Die Aristokratin vermittelt ihm daraufhin eine Anstellung in der Hermann-Göring-Bibliothek für Moderne Sprachen, die einen Gesamtkatalog des deutschen Sprachraums von Gutenberg bis zur Gegenwart mit Millionen von Karteikarten pflegt. Weil Fremdarbeiter nicht kündigen können, sorgt Filip im Parkhotel dafür, dass ihn der Hoteldirektor Eißler hinauswirft, indem er mehrmals Geschirr fallen lässt und behauptet, eine frühere Handverletzung mache ihm plötzlich wieder zu schaffen.

Piotr wundert sich über seinen polnischen Freund:

„Und anstatt ruhig dazusitzen, so leise wie möglich, und den wie durch ein Wunder ergatterten Knochen abzunagen, treibt es dich zum Teufel wer weiß wohin …“

Aufgrund einer Denunziation wird Filip allerdings nach kurzer Zeit von der Bibliothek entlassen und arbeitslos.

Liebe

An warmen Tagen verbrachten Filip und seine Kellner-Kollegen die Freizeit gern in der Mosler’schen Badeanstalt am Main. Dort verliebte er sich in die 18-jährige Hella von Veidth, die seit dem Abitur im letzten Jahr im Experimentalinstitut für Fototechnik an der Hauptwache beschäftigt ist.

Hella, die 19-jährige Tochter eines deutschen Offiziers aus dem Ersten Weltkrieg, der vor 1933 als Prokurist in einem Rothschild-Unternehmen tätig war, erwidert Filips Gefühle stürmisch, obwohl sie seit drei Jahren mit einem Oberleutnant der Luftwaffe namens Günther verlobt ist. Sie beteuert Filip, Günther nicht zu lieben und verspricht, die Verlobung zu lösen.

Nach langem Zögern gibt Hella Filips Drängen nach, der sich nicht länger mit Küssen begnügen möchte. Er soll ihr Erster werden.

Damit sie zu ihm kommen kann, zieht Filip im Sommer 1943 eigens um und mietet ein Zimmer bei einer Frau Kagerer, die nichts gegen Damenbesuche einzuwenden hat – anders als der vorherige Vermieter Prof. Helmuth Janowsky, der sich als Nachfahre eines uralten westfälischen Bauerngeschlechts ausgab, aber in Wirklichkeit aus Polen stammt.

Hella kann allerdings die Verabredung nicht einhalten, weil ihr als Jagdflieger in Nordfrankreich stationierter Verlobter unerwartet zu Besuch kommt und sie ihm noch nichts gesagt hat. Sie verspricht, sich von Günther zu trennen und bittet Filip, sich zu gedulden.

Filip erhält eine Vorladung zur Gestapo. Ein Sturmbannführer fragt ihn nach Franziska Brandt. Wahrheitsgemäß erklärt Filip, er habe sie seit der Hinrichtung seines Bekannten Tadeusz nicht mehr gesehen. Wer dann die Frau gewesen sei, die der Hoteldirektor Eißler in Filips Zimmer ertappt habe, fragt der SS-Offizier, der offenbar aufgrund einer Denunziation davon ausgeht, dass es Franziska Brandt gewesen sei. Filip versichert, es habe sich nicht um eine Deutsche, sondern eine Polin gehandelt. Tatsächlich verbrachte er eine Nacht mit Euphrosina, der polnischen Ehefrau eines volksdeutschen Akrobaten aus Thorn, aber statt einen Namen zu verraten, behauptet er, die Frau auf dem Bahnhof angesprochen zu haben.

Hella beichtet ihm schließlich, dass ihr Verlobter sie auslachte, als sie ihm von ihrer neuen Liebe erzählte. Daraufhin ließ sie sich willenlos von ihm deflorieren. Das bereut sie nun, aber Filip beendet die Liebesbeziehung mit ihr.

Kurz darauf erfährt er, dass es sich beim Schwiegersohn seiner Vermieterin, dem holländischen Ehemann ihrer Tochter Gerda, um einen Anhänger des Nationalsozialisten Anton Adriaan Mussert handelt, um einen Angehörigen der Waffen-SS, der aufgrund einer Lungenerkrankung von der Ostfront zurückgeschickt wurde. Es wäre fatal gewesen, wenn der im Nebenzimmer liegende Nazi ihn mit einer Deutschen im Bett gehört und wegen „Rassenschande“ angezeigt hätte.

Restaurant

Pjotr rät Filip, sich als Kellner im Restaurant Salzhaus in Frankfurt zu bewerben.

Um sich von seinem Liebeskummer abzulenken, fährt Filip jedoch erst einmal nach Mainz. Dort bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich mit einem Deutschen das letzte freie Zimmer und Bett in einem Hotel zu teilen. Günther, der sich lieber mit seinem zweiten Vornamen Max ansprechen lässt, behauptet, auf Fronturlaub zu sein, aber Filip hält ihn für einen Deserteur.

Max versucht. ihn zu einem Raub zu überreden. Filip hält den Kleinganoven hin und macht gute Miene zum bösen Spiel, als dieser ihn auf ein Bier und zu einem Restaurant-Essen einlädt, aber stets dafür sorgt, dass Filip dafür mit Marken und Geld aufkommt, zum Beispiel, indem Max einen 100-Reichsmark-Schein aus der Tasche zieht, den der Kellner nicht wechseln kann. Am Ende verschwindet Max mit Filips englischem Offiziers-Burberry. Filip zeigt den Diebstahl an, und bald darauf bringt ihm ein Polizist den wertvollen Mantel. Aus der Zeitung erfährt er, dass ein Deserteur von der Polizei über Hausdächer hinweg verfolgt wurde, dabei abstürzte und starb.

Zurück in Frankfurt, folgt Filip dem Rat seines Freundes und bewirbt sich im Restaurant Salzhaus als Kellner.

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In dem autofiktionalen Schelmenroman „Filip“ verarbeitet Leopold Tyrmand seine Erlebnisse als Fremdarbeiter 1942/43 im Rhein-Main-Gebiet. Mit gefälschten Papieren reist sein Alter Ego Filip Vincel, der Sohn einer jüdischen Familie, aus Polen an und gibt sich als in Warschau geborener staatenloser Franzose aus. Den Holocaust überlebt er gewissermaßen im Auge des Orkans. Filip meistert die existenzielle Bedrohung durch seine Chuzpe und Intelligenz.

„Filip“ ist eine aberwitzige Mischung aus Hotel- und Schelmenroman mit dem gewieften Protagonisten als Ich-Erzähler. Leopold Tyrmand veranschaulicht zugleich das Alltagsleben in einer deutschen Metropole während des Zweiten Weltkriegs. Stichwörter sind Versorgungsmängel, Selbstinitiative und Schwarzmarkt, Luftangriffe und Wohnungsnot, Denunziation und Gestapo, Ethik, Solidarität und Überlebenskampf.

Leopold Tyrmand scheut nicht vor langen Absätzen zurück und  fügt auch retardierende Reflexionen ein, aber er fesselt die Leserinnen und Leser mit lebendigen Szenen, einer Fülle origineller Einfälle und einer genauen Beobachtung des widersprüchlichen Handelns der Menschen nicht nur in schweren Zeiten. Die Geschichte entwickelt er weitgehend chronologisch, beginnt jedoch mit Filips Zeit 1943 im Parkhotel in Frankfurt/M und holt das Vorangegangene dann nach.

Einige Schauplätze wie die auf dem Titel abgebildete Mosler’sche Badeanstalt am Main gab es tatsächlich. Andere sind fiktiv. Beispielsweise gab es keine Hermann-Göring-Bibliothek für Moderne Sprachen. Jedoch ist dokumentiert, dass Leopold Tyrmand 1943 vorübergehend in der Städtischen Bibliothek für Neuere Sprachen und Musik im Rothschild-Palais am Hermann-Göring-Ufer (heute: Untermainkai) tätig war.

Leopold Tyrmand stellte das Manuskript am 10. September 1959 fertig. Der Roman wurde 1961 in Warschau mit dem Titel „Filip“ veröffentlicht. 2021 publizierte die Frankfurter Verlagsanstalt die von Peter Oliver Loew stammende Übertragung ins Deutsche, und Andrzej Kaluza verfasste dazu ein Nachwort.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Frankfurter Verlagsanstalt

Leopold Tyrmand (kurze Biografie)

Johannes Mario Simmel - Es muss nicht immer Kaviar sein
"Es muss nicht immer Kaviar sein", das ist eine Mischung aus Abenteuer-, Schelmen- und Politroman, zugleich auch eine Parodie auf diese Genres. Die Handlung besteht aus einer Abfolge zahlreicher origineller, spannender, amüsanter Episoden.
Es muss nicht immer Kaviar sein