Wytske Versteeg : Boy
Inhaltsangabe
Kritik
Boys Tod
Mark und seine Ehefrau, deren Namen wir nicht erfahren, sind als Entwicklungshelfer bzw. Psychiaterin beschäftigt. Mark wünscht sich ein Kind, aber jeden Monat wartet er vergeblich darauf, dass bei seiner Frau die Monatsblutung ausbleibt. Bei einer medizinischen Untersuchung stellt sich heraus, dass ihr Zervixschleim und seine Spermien unverträglich sind: seine Samenzellen werden in ihrer Gebärmutter abgetötet.
Sie ist Anfang 30, als die beiden beschließen, in Afrika das Kind einer bei der Geburt gestorbenen Mutter zu adoptieren. Boy nennen sie den kleinen schwarzen Jungen.
Es gab so viele Orte, die wir ihm zeigen wollten, den Zoo, den Strand, den Vergnügungspark, obwohl uns die Adoptionsvermittlung gewarnt hatte: Der Kulturschock sei erheblich, deshalb werde er anfangs vermutlich vor allem Ruhe brauchen. Schon kleinste Alltagsdinge könnten ihm zu viel werden.
Die Familie wohnt in einer Villa in den niederländischen Dünen.
In der Schule gilt Boy als Außenseiter. Nur auf Verlangen seiner Adoptivmutter lädt er Mitschüler zu einer Geburtstagsfeier ein – aber keiner folgt der Einladung. Wegen Mobbings wechselt er während des Schuljahrs das Gymnasium. Seine Adoptivmutter ertappt ihn einmal dabei, wie er eines ihrer Kleider trägt, sich geschminkt hat und vor dem Spiegel posiert.
Zum Abschluss eines Schuljahrs findet der Theaterunterricht seiner Klasse am Strand statt. Danach kommt Boy nicht nach Hause. Seine Adoptivmutter meldet den 14-Jährigen als vermisst. Ihr Mann hat in Nairobi zu tun, als ihr eine Polizistin und deren Kollege die Nachricht überbringen, dass Boys Leiche angespült wurde.
Die Adoptivmutter möchte mit der Lehrerin sprechen, die mit der Klasse am Strand war, bevor Boy verschwand, aber im Sekretariat des Gymnasiums erklärt man ihr, dass der Vertrag der Lehrerin ausgelaufen sei und man keine Privatadressen herausgeben dürfe. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen am Telefon erhält die Frau dann doch noch die Adresse. Die Wohnung ist jedoch leer und wird zur Neuvermietung angeboten.
Vier Jahre später
Boys Tod, den Mark für einen Suizid hält, zerstört die Ehe. Mark und seine Frau leben wie zwei Fremde in ihrem Haus. Die Freunde ziehen sich zurück, denn ihr Topthema Kinder ist im Beisein von Boys Adoptiveltern nun tabu.
Vier Jahre nach Boys Tod erfährt seine Adoptivmutter, dass die damals für die Theaterpädagogik zuständige Lehrerin Hannah inzwischen als Aussteigerin in Bulgarien lebt. Nachdem sie per Mail Kontakt mit ihr aufgenommen und sich als freiwillige Helferin angeboten hat, fliegt sie hin.
Dass sie Boys Adoptivmutter ist, verschweigt sie. Sie will herausfinden, was vor vier Jahren Boys Tod verursacht haben könnte und dann Hannah töten, die sie für schuldig hält.
Hannah hat in einer abgelegenen Gegend in Bulgarien ein primitives Haus ohne fließendes Wasser und ohne WC gekauft. Was sie zum Essen benötigt, baut sie selbst an. Ihre Gehbehinderung erschwert die Arbeit, aber dabei hilft ihr nun die Frau, die altersmäßig ihre Mutter sein könnte.
Hannahs Bericht
Ohne zu ahnen, wer ihre Helferin ist, berichtet Hannah, dass sie die letzte Vertretungsstelle am Gymnasium nur auf Empfehlung ihrer Freundin Maureen bekam. Theaterpädagogik galt bei der Schulleitung ebenso wie unter Kollegen als überflüssig, und die Schülerinnen und Schüler nahmen den Unterricht auch nicht ernst. Hannah wurde denn auch von der Klasse nicht respektiert. Timothy, der in der Hackordnung ganz oben stand, verbeugte sich spöttisch vor ihr, ließ aber keinen Zweifel an den tatsächlichen Machtverhältnissen.
Nur Boy, der in der Hackordnung ganz unten stehende Schüler, vertraute ihr. Als sie herausfand, dass er zeichnete, fragte sie ihn, ob er bereit sei, ihr etwas davon zu zeigen. Weil Boy das nicht in der Schule tun wollte, trafen sie sich in den Dünen. In seinem Skizzenbuch waren nur Frauen – und schließlich begriff Hannah, dass er immer nur sie gezeichnet hatte. Plötzlich wurde sie sich der Situation bewusst: eine Lehrerin und ein Schüler allein in den Dünen! Erschrocken wandte sie sich ab und ging zurück in den Ort.
Zum Abschluss des Schuljahrs ging sie mit der Klasse an den Strand. Nachdem alle Schülerinnen und Schüler etwas aus dem Shakespeare-Drama „Richard III.“ vorgeführt hatten, kam der Ruf „Skinny dip!“ auf. Alle zogen sich aus und rannten nackt ins Meer, ohne dass die Lehrerin etwas dagegen unternommen hätte. Nur sie und Boy blieben am Strand zurück. Hannah forderte Boy auf, sich den anderen anzuschließen. Endlich ließ er sich dazu bewegen, ins Wasser zu gehen. Die anderen verlachten ihn jedoch, weil er eine Badehose trug. Wieder einmal wurde ihm unterstellt, er sei schwul. Timothy drückte Boy den Kopf ins Wasser, ließ ihn nur hin und wieder kurz nach Luft ringen. Als die Klasse genug hatte, brach Boy würgend am Strand zusammen, aber Timothy beteuerte, es sei alles nur Spaß gewesen.
Die Schülerinnen und Schüler zogen sich an und gingen nach Hause.
Wieder blieben Boy und Hannah zurück. Weil Boy unzugänglich blieb und Hannah den Eindruck hatte, dass ihm ihre Anwesenheit unangenehm sei, ließ sie ihn allein.
Das war das letzte Mal, dass sie ihn sah.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Wytske Versteeg geht in ihrem Roman „Boy“ der Frage nach, was in einer Frau vorgeht, deren Adoptivsohn in der Schule nicht nur ausgegrenzt, sondern auch gemobbt wird. Boy wird gerade einmal 14 Jahre alt. Die traumatisierte Adoptivmutter will sich an der ihrer Meinung nach schuldigen Lehrerin rächen, aber vorher von ihr noch mehr über die Abläufe und Zusammenhänge erfahren, die mit Boys Tod zu tun haben.
Der Roman „Boy“ ist dreigeteilt. In „Eins“ und „Zwei“ lässt Wytske Versteeg die Adoptivmutter, deren Namen wir nicht erfahren, als Ich-Erzählerin auftreten. Beim Wechsel der beiden Teile springen wir zeitlich um vier Jahre nach vorn. In „Drei“ ist alles anders. Da spricht ein undefinierter Erzähler die Protagonistin in der zweiten Person Singular an:
„Er hat Heimweh“, hast du damals zu Mark gesagt.
Und es ist die junge ehemalige Lehrerin Hannah, die in diesem Kapitel sehr ausführlich berichtet, wie sie vor vier Jahren die Schulklasse erlebte, in der Boy saß. Während Wytske Versteeg also auf den ersten 150 Seiten versucht, sich in die Lage der Adoptivmutter hineinzudenken, nimmt sie im letzten Drittel Hannahs Perspektive ein.
Es sei dahingestellt, wie realistisch es ist, dass die Aussteigerin Hannah eine Frau als „freiwillige Helferin“ bei sich aufnimmt, nicht ahnt, dass es sich um die (Adoptiv-)Mutter eines ihrer Schüler handelt, den sie als Letzte lebend gesehen hat, und fast ausufernd von den Ereignissen vor dessen Tod berichtet.
In ihrem neun Jahre nach „Boy“ veröffentlichten Roman „Die goldene Stunde“ ist es Wytske Versteeg sehr viel überzeugender gelungen, sich in die Gedankenwelt ihrer Charaktere zu versetzen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach
Wytske Versteeg: Die goldene Stunde