Ursula Wiegele : Arigato

Arigato
Arigato Originalausgabe Otto Müller Verlag, Salzburg / Wien 2020 ISBN 978-3-7013-1280-1, 195 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Weil das Elternhaus der Gymnasiastin Vera im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien beim Erdbeben 1976 zerstört wurde, schicken Vater und Mutter sie zu Verwandten nach Villach. Großtante Rosa und Großonkel Hans Gitschthaler waren bereits 1940 vom Kanaltal nach Kärnten umgesiedelt.
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Kritik

Ursula Wiegele veranschaulicht in ihrem Roman "Arigato" politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Alpe-Adria-Raum. Dabei versetzt sie sich in die noch etwas kindliche Wahrnehmung, Sprache und Denkweise der Ich-Erzählerin.
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Veras Familie

Weil das Elternhaus der Gymnasiastin Vera beim Erdbeben am 6. Mai 1976 in der Region Friaul-Julisch Venetien zerstört wurde, schicken Vater und Mutter sie zu Verwandten nach Villach, während sie selbst in ein Zelt-Notlager ziehen. Großtante Rosa und Großonkel Hans Gitschthaler waren bereits 1940 vom Kanaltal nach Kärnten umgesiedelt.

Hans‘ Eltern hatten im Frühjahr 1915 das Kanaltal wegen des Kriegs zwischen Italien und Österreich-Ungarn verlassen müssen. Im Herbst 1917 waren sie nach Pontafel / Pontebba zurückgekehrt. Hans arbeitete dort vor der Option in den Jahren 1920/21 als Gepäckträger am Bahnhof. Damals hieß er Giovanni Gitschtaler; Hans durfte er sich erst wieder nennen, nachdem er sich gegen Italien entschieden hatte. Er avancierte dann zum Fahrdienstleiter der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Onkel Hans lässt kein gutes Haar an den „Itakern“ und nutzt jede Gelegenheit, um seine Vorurteile gegen die „Wallischen“ zu verkünden. Ihm missfiel denn auch, dass seine Nichte, Veras Mutter, einen Italiener heiratete. Die Schülerin versteht sich deshalb besser mit ihrer Tante Rosa, einer gutmütigen Damenschneiderin.

Hans Gitschthalers Zwillingsschwester Anna Fillafer ist in Pontebba geblieben. Ihr Haus überstand das Erdbeben mit vergleichsweise geringen Schäden. Veras italienischer Großvater hatte die deutsche Schule in Malborghetto im Kanaltal besucht und das Tischler-Handwerk erlernt. Aus dem Ersten Weltkrieg war er mit amputiertem Bein zurückgekehrt und hatte sich dann eine Werkstatt in Pontebba eingerichtet. Vor einigen Jahren starb er an Kehlkopfkrebs.

Die Großmutter väterlicherseits, die Nonna, lebt in Venzone. Mit 75 wurde sie Witwe. Bei dem Erdbeben kam Antonio Pascoli ums Leben, der jüngste ihrer fünf Söhne, den sie im Alter von 42 Jahren geboren hatte.

In einem Schulaufsatz mit dem Titel „Meine Muttersprache“ schreibt Vera:

Mit meiner Muttersprache ist es nicht ganz einfach, weil sie nicht die Muttersprache meiner Mutter und in Wirklichkeit nur meine Vatersprache ist. Und die Schulsprache von meiner Mama. Darum will ich von meiner Großmuttersprache erzählen.
Meine Großmuttersprache ist Deutsch. Zuerst habe ich von dieser Sprache nur eine Luftform kennen gelernt, aus den gesprochenen Worten von Oma, die in Pontebba wohnt. Und zwar auf der Seite, die früher Pontafel hieß und deutsch war, damals, unter dem Kaiser. […]

Tonsillektomie

Weil Vera immer wieder an Angina erkrankt, arrangiert Onkel Hans mit seinem Funkerfreund, einem Tierarzt, eine Tonsillektomie für sie:

Der Tierarzt hat einen Freund, der Chirurg ist im Krankenhaus. Der Chirurg hat einen Dackel mit einem Tumor in der Maulhöhle und will nicht selbst herumdoktern an seinem Hund. Die Männer haben eine Lösung gefunden, bei der niemand was zahlen muss: Der Tierarzt wird die Geschwulst im Maul des Hundes entfernen und der Chirurg die Mandeln in meinem Rachen. Dafür macht der Onkel die Gartenarbeit für den Tierarzt.

Familiengeheimnis

Vera kramt in alten Postkarten und Briefen. Darunter sind eine Feldpostkarte von Enzo d’Amato an die Großmutter Anna Gitschthaler vom Dezember 1942 und eine Zeitungsmeldung über den im Dezember 1942 am Don gefallenen Italiener. Der Großvater war in einem Brief vom 3. Januar 1943 noch per Sie mit „Fräulein Gitschthaler“. Vera weiß, dass ihre Mutter am 30. April 1943 geboren wurde. Plötzlich begreift sie die Zusammenhänge: Nicht der Mann, den sie bisher für ihren Nonno gehalten hatte, war der Vater ihrer Mutter, sondern Enzo d’Amato.

Tante Rosa bestätigt, dass die Großmutter schwanger war, als der Mann, der sie ebenso wie Enzo d’Amato umworben hatte, aus dem Krieg heimkehrte. Er akzeptierte das Kind des Anderen, und Anna das fehlende Bein des acht Jahre Älteren. Daraus wurde ein wohl gehütetes Familiengeheimnis.

Veras Mutter darf erst einmal nichts davon erfahren, denn sie ist wieder schwanger und soll sich nicht aufregen.

Hannes

Vera bleibt noch ein weiteres Jahr bei Tante Rosa und Onkel Hans in Villach. Sie hat sich in einen älteren Mitschüler verliebt, der ihre Gefühle erwidert. Hannes ist der in Villach geborene Sohn eines Optanten aus Malborghetto. Seine Großeltern wanderten 1942 von Žabnice / Saifnitz / Camporosso im Kanaltal ins Deutsche Reich aus, aber 1945 mussten sie den dort übernommenen Bauernhof den 1942 deportierten und enteigneten Vorbesitzern zurückgeben, und ihr früherer Hof in Žabnice war inzwischen ebenfalls in anderem Besitz.

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Ursula Wiegele veranschaulicht in ihrem Roman „Arigato“ politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Alpe-Adria-Raum.

Im Zentrum des Romans steht das Kanaltal im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien. Obwohl dort damals noch keine Italiener lebten, sondern Slowenen und Österreicher, wurde das Kanaltal nach dem Ersten Weltkrieg“ im Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochen. 1939 votierten 98 Prozent der deutsch- und 91 Prozent der slowenisch-sprachigen Kanaltaler für das Deutsche Reich, und etwa 5700 von ihnen – fast ausschließlich deutschsprachige – wanderten dann auch ab, die meisten nach Kärnten.

Die Handlung von „Arigato“ beginnt nach dem Erdbeben am 6. Mai 1976 in der Region Friaul-Julisch Venetien, als die Gymnasiastin Vera zu ihrer Großtante und ihrem Großonkel nach Villach geschickt wird. Ursula Wiegele versetzt sich in die noch etwas kindliche Wahrnehmung, Sprache und Denkweise der Ich-Erzählerin.

Die 15 Kapitel des Romans „Arigato“ sind verschieden. Amüsante Szenen stehen neben ernsten, treffsicher wiedergegebene Beobachtungen neben banalen Episoden. Gelungen sind vor allem die Abschnitte, in denen die Ich-Erzählerin Vera über fremdsprachige Wörter und Redewendungen nachdenkt. Zwischendurch hat Ursula Wiegele poetische Formulierungen eingestreut. Beispielsweise beginnt sie „Arigato“ folgendermaßen:

Ich träume von weißen Papierhäusern hoch in der Luft, von Häusern auf biegsamen Stäben, die sich bei Wind bewegen wie Blumenstängel, Wände klappen auf und zu, Dächer heben sich ab und flattern im Wind, aber nichts bricht, nichts fällt herunter.

Beim Titel „Arigato“ greift Ursula Wiegele auf das japanische Wort für „danke“ zurück.

Die Widmung lautet:

Meinen Verwandten dies- und jenseits der Grenze. Im Gedenken an meine Großtante Fanny Artuso, die sich 1919 in Pontafel/Pontebba in einen süditalienischen Soldaten verliebt hat und mit ihm nach Reggio di Calabria durchgebrannt ist.

Ursula Wiegele wurde 1963 in Klagenfurt geboren. Nach dem 1988 in Innsbruck mit einer Arbeit über die Ästhetik Theodor W. Adornos abgeschlossenen Philosophie-Studium arbeitete sie als freiberufliche Lektorin und Schreibpädagogin. 2011 debütierte Ursula Wiegele mit dem Roman „Cello, stromabwärts“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Otto Müller Verlag

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