Iris Wolff : So tun, als ob es regnet

So tun, als ob es regnet
So tun, als ob es regnet Originalausgabe: Otto Müller Verlag, Salzburg / Wien 2017 ISBN: 978-3-7013-1250-4, 166 Seiten ISBN: 978-3-7013-6250-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Soldat Jacob wird im Ersten Weltkrieg nach Siebenbürgen abkommandiert und ahnt nicht, dass er eine Tochter gezeugt hat. Henriette lässt ihren Sohn Vicco bei einer ihrer Schwestern in Hermannstadt zurück, als sie nach Bukarest und später Berlin zieht. Sie heiratet nie, will lieber frei und unabhängig sein. Das gilt auch für ihre Enkelin Edda – eine der beiden Töchter ihres Sohnes Vicco und seiner mutigen Ehefrau Liane –, die sich nach La Gomera absetzt ...
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Kritik

Die vier Kapitel des Romans "So tun, als ob es regnet" – die auch einzeln lesbar wären – sind in einer Familien­geschichte über vier Generationen eng miteinander verknüpft. Iris Wolff besticht mit sensiblen Be­trach­tun­gen, einer feinen Sprache und einer überzeugenden Komposition.
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Budapest?

1916, im Ersten Weltkrieg, wird der 25-jährige Soldat Jacob aus dem Burgenland mit seiner k. u. k. Einheit nach Osten verlegt. Die Männer glauben zunächst, Budapest sei das Ziel, aber das erweist sich als Wunschdenken. Der Zug fährt nach Siebenbürgen. Jacob und seine Kameraden sollen dort gegen die Rumänen kämpfen.

Jacobs Truppe sollte dem Feind durch einen Umgehungsmarsch über das Zibinsgebirge in den Rücken fallen. Sobald der Rote-Turm-Pass für den Rückzug der Rumänen versperrt war, würde der Angriff der deutsch-ungarisch-österreichischen Kräfte beginnen.

Auf einem von den Rumänen zurückeroberten Feld stößt Jacob auf Bücher von Diderot, Schiller, Goethe und Balzac.

Bei einem Erkundungsgang entdeckt er einen versprengten rumänischen Soldaten. Er richtet das Gewehr auf ihn und weiß, dass er schießen müsste. Stattdessen lässt er den Mann laufen.

Bald darauf schickt der Kommandant Jacob mit einem Adjutanten ins Tal hinunter. Im Talmesch wird Jacob bei einer Bauernfamilie der Siebenbürger Sachsen einquartiert. Alma und ihr Mann haben drei Töchter – Anna, Lilli und Luise –, die einander nicht ähnlich sehen. Auch die Haarfarben sind verschieden.

Aus einem Brief seiner Mutter erfährt Jacob, dass sein jüngerer Bruder Henri tot ist. Er fuhr mit dem Rad zu einem nicht mehr genutzten Steinbruch, zwängte sich durch ein Loch im Zaun, zog die Schuhe aus und stürzte sich in die Tiefe.

Jacob trauert um Henri und denkt auch über sich selbst nach.

Dass er willkürlich und ohne Ehrgeiz durch jene Türen ging, die für ihn aufgehalten wurden oder rein zufällig offen waren. Die Matura, weil es seine Eltern erwarteten, Studien der Philologie, einige Semester halbherzig betrieben, weil ihm nichts anderes einfiel.

Er füllt sich zu Alma hingezogen, wagt jedoch nicht, sich ihr zu nähern. Umso überraschter ist er, als sie sich am letzten Abend vor dem Abmarsch in sein Zimmer schleicht und zu ihm legt.

Die Kämpfe gegen die Rumänen gehen weiter, aber Jacob ist mit seinen Gedanken bei Alma, selbst als er durstig aus einer Quelle trinkt. Ein Kopfschuss tötet ihn auf der Stelle.

Elemérs Garten

1933 taucht Almas 16-jährige Tochter Henriette nachts in einem Garten auf, in dem ihr verwitweter Großvater Elemér mit drei anderen schlaflosen alten Männern plaudert. Henriette kann auch nicht schlafen.

Elemér war überrascht und im ersten Moment auch zornig, als er Henriette sah. […]. Er wollte Henriette sofort wieder nach Hause schicken, andererseits: ihre Entschlossenheit imponierte ihm. Henriette war seine jüngste und mutigste Enkeltochter. Luise war ihm zugetan, doch über die Maßen ängstlich. Zu Lilli hatte er keine rechte Beziehung, er hielt sie für leichtfertig und schamlos, und er hoffte, dass sich dies, da sie verheiratet war, bessern würde. Anna, die älteste, ähnelte ihrem verstorbenen Vater, sie war einsilbig, hart zu sich selbst und gegenüber anderen. Nur Henriette hatte dieses offene Wesen, interessierte sich für alles und legte ihm gegenüber eine unerklärliche Anhänglichkeit an den Tag.

Es kommt häufig vor, dass Henriette sich in Gedanken davonstiehlt und geistig abwesend ist.

Se face c plou, so tun, als ob es regnet, nannte ihre Mutter diese Abwesenheit, die sich immer einstellte, wenn Henriette etwas langweilte oder sehr beschäftigte.

Lilli, die zweitälteste der vier Schwestern, heiratete im Jahr zuvor und wohnt nun in Hermannstadt, wo ihr Mann Simon als Lehrer für Geschichte unterrichtet. Das Paar hat Zwillinge: Lissy und Elfe. Henriette will dagegen weder einen Ehemann noch Kinder.

Sie öffnet die Tür, als eine elegant gekleidete Dame davorsteht und ihr einen Ring für Lebensmittel anbietet. Henriette verabredet sich mit ihr auf einer Brücke und bringt ihr dann Brot, Speck, Butter, Käse, eingelegtes Fleisch und Marmelade. Den Ring muss Henriette erst einmal verstecken, denn sie hat den Handel der Familie verheimlicht.

Eine Zitrone im All

Als Vicco am 20. Juli 1969 bei Hermannstadt mit seinem Motorrad fährt, einer himmelblauen MZ, Baujahr 63, folgt das Scheinwerferlicht nicht den Lenk­bewegungen, sondern strahlt auch in Kurven geradeaus ins Dunkel. Deshalb sieht er das Hindernis erst, als es zu spät ist. Vor einem Monat kam ein Nachbar ums Leben, als er in einen am Straßenrand abgestellten Heuwagen prallte. Vicco bedauert nur, dass er die Mondlandung von Neil Armstrong und Buzz Aldrin nicht mehr im Fernsehen würde sehen können.

Er hielt unbeirrt auf das Hindernis zu und fuhr mit Vollgas durchs Heu. Vorher schloss er die Augen, hoffte auf ein kurzes, schmerzloses Ende, und als er sie wieder öffnete, wunderte er sich, dass seine Maschine immer noch fuhr, dass Licht und Räder und Motorengeräusch noch immer da waren.

Zum Glück lagen nur heruntergefallene Heuballen auf der Straße. Er fuhr mitten hindurch und blieb unverletzt.

Als Vicco 14 Jahre alt war, zog seine in Talmesch aufgewachsene Mutter Henriette nach Budapest, aber er weigerte sich, Hermannstadt zu verlassen. Damit er die Schule nicht wechseln musste und bei seinen Freunden bleiben konnte, nahmen ihn Tante Luise und Onkel Horst auf. Er wohnt noch immer bei dem kinderlosen Paar.

Seine Großmutter Alma starb vier Jahre nach seiner Geburt. Sie hatte noch miterleben müssen, wie ihre Töchter Anna und Lilli 1945 deportiert worden waren. Luise blieb verschont, weil sie damals mit einer Lungenentzündung im Spital lag. Henriette versteckte sich in den Bergen. Anna kam nach fünf Jahren zurück und wohnt inzwischen in Kronstadt. Lilli überlebte die Zwangsarbeit in einer sowjetischen Kohlegrube nicht.

Die Schule brach Vicco nach der neunten Klasse ab. Er ließ sich zum Auto­mechaniker ausbilden, und von dem Geld, das er verdient, kann er sich nicht nur das Motorrad, sondern auch einen Trabi leisten.

Spontan fährt er mit seiner Freundin Liane im Auto nach Konstanza am Schwarzen Meer, fast 600 Kilometer weit. Liane ist so abenteuerlustig wie er, die mutigste Frau außer Henriette, die er kennt. Am Strand zieht sie sich aus und lässt alle Kleidungsstücke achtlos in den Sand fallen. Während sie sich bereits in die Wellen wirft, hebt er ihre Sachen auf, legt sie zusammen und beschwert sie mit einem Stein. Nach dem Schwimmen lieben sie sich in der Windstille eines Felsens. Dann fahren sie zurück.

Kurz vor seinem 23. Geburtstag überrascht ihn Henriette mit einem ihrer seltenen Besuche. Sie wohnt noch immer in Bukarest. Verheiratet war sie nie, und wer sein Vater war, hat sie ihm nie verraten. (Sie wurde 1945 vergewaltigt.) Henriette ist eine eigenständige, unangepasste Frau, neugierig und weltoffen.

Sie war rastlos, Routine nahm ihr die Luft zum Atmen.

Zur Geburtstagsfeier im Haus von Tante Luise und Onkel Horst kommen auch seine Cousinen Lissy und Elfe mit ihrem verwitweten Vater Simon sowie das befreundete Paar Frido und Marcella.

Frido wurde erst kürzlich aus dem Securitate-Gefängnis bei Kronstadt entlassen. Die Geheimpolizei hatte ihn verhaftet und die Wohnung nach versteckten Gedichten eines nach Deutschland geflohenen Regimegegners durchsucht. Monatelang glaubte Frido, Marcella sei tot, denn man hatte ihm gleich zu Beginn der Haft gesagt, sie sei bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Vicco versäumte es, Marcella in diesen Monaten beizustehen.

Am späten Abend des Geburtstags trifft Vicco sich noch mit Liane. Als er zurückkommt, sitzt Henriette rauchend vor dem Haus. Sie teilt ihm mit, dass sie nach Nürnberg und von dort weiter nach Berlin reisen werde, wo sie als Fotografin arbeiten wolle. Sie wird ihren Sohn also erneut verlassen.

Monate später erfährt Vicco, dass Henriette die von Frido und Marcella versteckten Manuskripte über die Grenze schmuggelte und dem Verfasser in Berlin übergab.

Wölfe und Lämmer

Hedda, die Tochter von Vicco und Liane, lebt seit zwei Jahren auf La Gomera. Mit Buchempfehlungen für Fach- und Bibliothekszeitschriften verdient sie zwar nicht viel, aber sie kommt damit aus. Seit einem halben Jahr ist Hedda mit dem Aussteiger Lollo zusammen, der ein Jahr vor ihr aus Hamburg auf die Insel kam.

Ihre jüngere Schwester Sibylle wohnt mit ihrem Ehemann und den Kindern zwei Ortschaften von den Eltern entfernt in Deutschland. Dort arbeitete Hedda zehn Jahre lang als Buchhändlerin, bevor sie sich auf die Kanarischen Inseln zurückzog. Inzwischen ist sie über 40.

Mit der Vergangenheit abzuschließen war eine bewusste Entscheidung ihrer Eltern gewesen. Sie hatten sie vor langer Zeit getroffen. Man musste sich in der neuen Heimat einleben. Liane und Sibylle […] gelang es rasch, Vicco litt, und Hedda wusste nicht, nicht einmal heute, was die Auswanderung mit ihr gemacht hatte. Die Augen immer nach vorn, sagte Vicco, das Leben ist eine Einbahnstraße.

Liane ruft an und fordert Hedda auf, nach Hause zu kommen. Der Vater sei krank.

„Prostata“, rief ihr Vater aus dem Hintergrund. „Und der Krebs hat schon missioniert.“

Vicco übernimmt den Hörer und meint:

„Hör zu, es besteht überhaupt keine Notwendigkeit für dich zu kommen. Ich kratze schon nicht ab. Zumindest nicht in nächster Zeit.“

Auf Gomera fällt Hedda ein Paar auf, das von einem Fischer aufs Meer hinausgefahren wird. Das Boot kommt nicht zurück, auch nicht am nächsten und übernächsten Tag.

Zwei Wochen vor ihrem Tod schenkte Henriette ihrer Enkelin Hedda einen Ring, den sie immer getragen hatte. Niemand in der Familie weiß, woher er stammt. Und als Hedda ihre Großmutter danach fragte, sagte diese, das sei alles in ihren Notizbüchern nachzulesen.

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Als „Roman in vier Erzählungen“ wird „So tun, als ob es regnet“ bezeichnet. Da argwöhnt man zunächst, es könnte sich um vier separate Texte handeln, die der Verlag unter Marketing­gesichts’­punkten zum Roman aufpeppt. Aber schon beim Lesen des zweiten Kapitels wird klar, dass das nicht der Fall ist. „So tun, als ob es regnet“ ist tatsächlich ein Roman, und die vier Kapitel, die auch als eigenständige Erzählungen lesbar wären, sind überzeugend miteinander verknüpft: „So tun, als ob es regnet“ ist eine Familiengeschichte über vier Generationen vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse. Die in Siebenbürgen beginnende Handlung endet auf der Kanareninsel La Gomera und deckt das 20. Jahrhundert ab.

Weder Jacob noch Alma, Henriette, Vicco oder Hedda passen sich an. Vor allem die Frauen sind eigenwillig und wollen frei sein. Iris Wolff leuchtet besonders Henriettes Charakter aus, und nachdem wir sie im zweiten Kapitel kennengelernt haben, erfahren wir auch in den beiden folgenden Kapiteln noch einiges über sie.

Die auktoriale Erzählerin Iris Wolff beeindruckt in „So tun, als ob es regnet“ mit einer dichten Atmosphäre, sensiblen Betrachtungen, einer feinen, ruhigen Sprache und einer poetischen Gestaltung.

Im Anhang schreibt Iris Wolff, dass sie von Hans Carossas 1924 unter dem Titel „Rumänisches Tagebuch“ veröffentlichten „Aufzeichnungen im Ersten Weltkrieg“ für das erste Kapitel von „So tun, als ob es regnet“ inspiriert worden sei.

Iris Wolff wurde am 28. Juli 1977 in Hermannstadt geboren. Sie wuchs in Siebenbürgen und im Banat auf. 1985 emigrierte die Familie in die Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Studium von Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei arbeitete sie ab 2003 beim Deutschen Literaturarchiv in Marburg, bis sie 2013 ein Literatur-Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg bekam. Im Jahr davor hatte sie bereits mit dem Roman „Halber Stein“ debütiert.

„So tun, als ob es regnet“ ist ihr dritter Roman. Sie wurde dafür mit dem Thaddäus-Troll-Preis 2019 ausgezeichnet.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Otto Müller Verlag

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

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