Jakob Arjouni : Chez Max
Inhaltsangabe
Kritik
Im Jahr 2064 ist die „euroasiatische Wertegemeinschaft“ durch einen mehr als 60 000 km langen Zaun von der „Zweiten Welt“ geschützt. Auf der einen Seite Fortschritt und Demokratie, auf der anderen Diktatur und religiöser Fanatismus. 2029 wurden die ersten Ashcroft-Büros zur Antizipierung von geplanten Verbrechen eingerichtet. Die Bezeichnung geht auf den von 2001 bis 2005 amtierenden Justizminister der USA zurück, John Ashcroft, der nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 gesagt haben soll: „Let’s crush the motherfuckers before they crush us.“ Die von Ashcroft angeregte präventive Verbrechensbekämpfung führte auch dazu, dass die USA in Afghanistan einmarschierten und lieferte den Vorwand für den Krieg gegen den Irak, von dem vielleicht einmal eine Bedrohung ausgegangen wäre.
Die schlagkräftigste Armee der Welt verschliss sich über Jahre in blutigen Scharmützeln, Besatzerpflichten und dem vergeblichen Bemühen, von den Irakis als Retter und Demokratiebringer anerkannt zu werden. (Seite 39)
Während die amerikanische Regierung sich in der Rolle des Weltpolizisten übernahm, die USA in den Bankrott führte und Nordamerika zum bedeutungslosen Agrarland herabsank, konzentrierten sich China und Europa auf die Wirtschaft und bildeten die euro-chinesische Konföderation, die nicht nur den globalen Zaun errichtete, sondern auch die Völker jenseits des Zauns in einem fünfjährigen Befreiungskrieg entwaffnete.
Max Schwarzwald arbeitet seit fünfzehn Jahren für Ashcroft. Zu seiner Tarnung wurde ihm in Paris ein gehobenes Restaurant eingerichtet: „Chez Max. Cuisine allemande“. Ebenso wie sein zehn Jahre jüngerer Ashcroft-Partner Chen Wu, der sich als Stadtgärtner tarnt, ist er dafür verantwortlich, zukünftige Verbrechen im Voraus zu erkennen und zu verhindern. Sie unterstehen beide Commander Youssef. Während Chen als bester Mann im Team geschätzt wird, hat Max schon lange keinen potenziellen Verbrecher mehr überführt.
Aus Frustration über seine ausbleibenden Erfolge versucht Max, seinen nachlässigen Kollegen in Palermo eins auszuwischen, indem er ihnen mitteilt, dass einer seiner Restaurant-Gäste offenbar Zigaretten aus Sizilien mitbringt, obwohl der Handel mit Zigaretten seit dreißig Jahren verboten ist und das Rauchen seit 2049 unter Strafe steht. Es handelt sich um Leon Chechik, der sich nach dem Abschluss der renommierten Kunsthochschule in Warschau ein Atelier in Palermo eingerichtet hatte, jedoch meistens in Paris lebt, denn er ist nicht mehr in der Lage, einen Pinsel zu halten. Das begann, als er vor fünfzehn Jahren einen Auftrag der Londoner Galerie Junowicz & Kleber für zwanzig Bilder bekam: Nachdem er zehn gemalt hatte, packte ihn die Angst, das Niveau nicht halten zu können, und seither zittert er, wenn er einen Pinsel nur sieht. – Eigentlich wollte Max es bei dem Seitenhieb auf seine sizilianischen Kollegen belassen, aber zu seinem Erstaunen teilten sie ihm zwei Wochen später mit, Leon Chechik stehe in Kontakt mit einem führenden Mitglied einer Schmugglerbande, die dabei sei, in Paris, Brüssel und Amsterdam einen Handel mit Drogen und Zigaretten aufzuziehen. Obwohl Max mit Leon befreundet ist, hält er es für seine Pflicht, den verhinderten Maler zu bespitzeln. Tatsächlich ertappt er ihn bei einem Gespräch mit Abdel Aziz, einem nordafrikanischen Fischhändler, der zweimal versucht hatte, übers Meer nach Europa zu kommen und dafür zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Im Ashcroft-Computer liest Max, dass Cannabis– und Tabakpflanzer zu den Bekannten von Abdel Aziz zählen. Auf Max‘ Anzeige hin wird Leon zu drei Jahren Haft verurteilt und dann festgenommen.
Zwei Tage später trifft Max sich zu seiner wöchentlichen Dienstbesprechung mit Chen, der ihm wieder einmal spüren lässt, wer der Erfolgreichere und Intelligentere von ihnen beiden ist. Obwohl es verboten ist, die Gebiete jenseits des Zauns auch nur zu erwähnen, redet Chen von der Armut, die dort herrscht und behauptet, dass entlang des Zauns Erschießungskommandos der euro-chinesischen Konföderation unterwegs seien. Wegen dieser hochverräterischen Äußerungen müsste Max ihn eigentlich anzeigen, aber nachdem er gerade einen Freund ins Gefängnis brachte, würde es unter den Kollegen einen schlechten Eindruck machen, wenn er als Nächstes seinen Partner verhaften ließe. Außerdem keimt in Max ein Verdacht auf: Versucht Chen durch seine lockeren Reden von etwas viel Schlimmerem abzulenken?
In diesem Verdacht wird Max bestärkt, als er von einem Leutnant der dem Verteidigungsministerium unterstellten Einsatzgruppe Friedenssicherung, einer Art James-Bond-Truppe, erfährt, dass Chen bei einem observierten Haus auffiel, in dem sich Illegale aus dem Iran verstecken. Handelt es sich bei Chen um einen Doppelagenten, der Flüchtlingen hilft, die den Zaun überwunden haben?
Noch am selben Tag beginnt Max mit der Beschattung seines Partners. Um ihn zu finden, ruft er das Lokalisierungsbüro an, sagt zur Stimmidentifikation die vorgeschriebene Formel „Liberté, Egalité, Sécurité“ und fragt nach Chens Aufenthaltsort, der aufgrund eines Senders, den jeder Ashcroft-Mitarbeiter tragen muss, auf einen Meter genau angegeben werden kann. – Max beobachtet nichts Verdächtiges: Chen pflanzt Rosen in einem Park und geht anschließend mit seiner attraktiven Freundin Natalia nach Hause.
Am nächsten Morgen beauftragt Max einen der Kellner im „Chez Max“, eine Axt zu kaufen und damit den Efeu an den Hauswänden im Innenhof wegzuhacken.
Dann ruft er erneut im Lokalisierungsbüro an. Eine junge Mitarbeiterin sucht Chens Aufenthaltsort heraus.
„Also … haben Sie etwas zu schreiben?“
„Sagen Sie schon … “
Sie nannte die Adresse, legte mit einem Nord-Süd-System und Meterangaben exakt den Punkt fest, an welchem Chen sich in diesem Augenblick befand und fügte am Ende hinzu: „Ach, und fast hätte ich’s vergessen: Er ist im ersten Stock.“
Das hätte sie nicht mehr zu erwähnen brauchen.
Im selben Augenblick ertönte es hinter mir: „Ich bin hier, du Arschloch.“ (Seite 178)
Spöttisch weist Chen seinen Partner darauf hin, welche Fehler er bei der Observierung am Vortag machte. Chen merkte es sofort, dass er von Max beobachtet wurde. Der stammelt verlegen, die Einsatzgruppe Friedenssicherung wolle Chen etwas anhängen und er sei nur da gewesen, um ihn zu beschützen. Chen glaubt ihm kein Wort, droht mit einer Beschwerde bei Youssef, nimmt aber die Einladung an, am Nachmittag zu einer Aussprache vorbeizukommen.
Nachdem die letzten Mittagsgäste gegangen und die Angestellten fort sind, deckt Max einen Tisch im Innenhof des „Chez Max“ und klebt ein Abhörgerät darunter. Chen kommt das Ganze sofort wie eine Falle vor.
„Die Angestellten weg, der Schlüssel im Schloss der Eingangstür zweimal umgedreht, niemand, der uns hören oder sehen kann, und ein ohnehin schon erfolgloser Mann, der nun auch noch Angst haben muss, bei seinem Vorgesetzten angeschwärzt zu werden.“ (Seite 196)
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Als Chen sich weigert, das Essen oder den Wein anzurühren, sagt Max, was er über ihn denkt:
„Ich weiß, dass du ein Terrorist bist. Du planst Attentate, du versteckst Iraner, und aus dem Iran kommt niemand raus, der kein Selbstmordattentäter ist …“ (Seite 199)
Chen, der schon zahlreiche Verbrechen vorausgesehen hat, steht auf und will gehen.
„Das ist ein Fall für Ashcroft. Du bist eine Gefahr. Ein verrückter Fanatiker. Du solltest nicht frei herumlaufen.“ (Seite 201)
Da zieht Max die Axt hinter dem Grill hervor.
Zwei Stunden später fährt er mit mehreren Mülltüten zur Seine und wirft sie ins Wasser.
„Ich hatte meine Pflicht erfüllt. Ich war ein würdiger Erbe Ashcrofts. Die Welt war Chen los. und ich hatte keinen Zweifel: Die Welt war nun eine bessere.“ (Seite 203)
Chens Ortungssender macht er heimlich am Halsband eines Pekinesen fest.
Nach vier Tagen ruft er Commander Youssef an. Von Chen fehle jede Spur, meldet er, und Chens Sender habe er an einem Hundehalsband entdeckt. Es bestehe der Verdacht, dass Chen ein Doppelagent war, der sich aus Angst vor der Enttarnung auf die andere Seite des Zauns abgesetzt habe. Youssef, der eine hübsche Frau hat und in zwei Jahren pensioniert wird, will keinen Ärger mehr im Amt. Bei seinen Vorgesetzten würde es einen verheerenden Eindruck machen, wenn sich herausstellte, dass er einen Terroristen in seinen Reihen übersah. Um die Angelegenheit zu vertuschen, weist Youssef seinen Mitarbeiter an, erst einmal abzuwarten.
Zwei Wochen später bekommt Max einen neuen Partner, diesmal keine „Intelligenzbestie“ wie Chen, sondern „eine bemerkenswert trübe Tasse“. Max blüht auf. Nach vier erniedrigenden Jahren als Partner Chens steigt er rasch wieder zur Nummer 1 im Team auf.
Mit „Chez Max“ persifliert Jakob Arjouni die Genres Kriminalroman und Science Fiction. Die Idee, dass potenzielle Verbrecher in naher Zukunft noch vor der Durchführung ihrer Tat verhaftet werden, stammt aus einer Erzählung von Philip K. Dick bzw. dem Film „Minority Report“. Thomas Wagner hat den Roman „Chez Max“ von Jakob Arjouni als „Zukunftsbedrohungsszenarienschnulze“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Oktober 2006) abgetan. Zugegeben, der Plot ist unkompliziert und der Charakter des Protagonisten nicht besonders fasettenreich, aber Jakob Arjouni erweckt auch keinen falschen Anschein: „Chez Max“ ist einfach eine unaufgeregt und schnörkellos erzählte, sehr unterhaltsame, spaßige Geschichte, eine utopische Satire, mit der Jakob Arjouni darauf anspielt, wie US-Präsident George W. Bush auf den Anschlag vom 11. September 2001 reagierte und wie er den Terrorismus für seine Zwecke instrumentalisierte.
Den Roman „Chez Max“ gibt es bei Diogenes auch in einer ungekürzten Hörbuch-Fassung, gelesen von Jakob Arjourni (4 CDs, 272 Minuten).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Jakob Arjouni (Kurzbiografie)
Jakob Arjouni: Happy Birthday, Türke! (Verfilmung)
Jakob Arjouni: Kismet
Jakob Arjouni: Der heilige Eddy