John Banville : Im Lichte der Vergangenheit

Im Lichte der Vergangenheit
Originalausgabe: Ancient Light Viking Penguin, 2012 Im Lichte der Vergangenheit Übersetzung: Christa Schuenke Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014 ISBN: 978-3-462-04595-6, 333 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Alex Cleave, ein über 60 Jahre alter Theaterschauspieler, erhält erstmals eine Hauptrolle in einem Film: In einem Biopic mit dem Titel "Erfindung der Vergangenheit" spielt er Axel Vander. Dawn Devonport übernimmt die Rolle der Geliebten des Protagonisten, von dem Alex annimmt, dass er vor zehn Jahren mit seiner Tochter Cass in Ligurien war, als diese sich dort das Leben nahm. Während der Dreharbeiten erinnert Alex sich immer wieder an die Affäre, die er als 15-jähriger Schüler mit der Mutter seines besten Freundes hatte ...
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Kritik

Der Roman "Im Lichte der Vergangenheit" von John Banville dreht sich um die Frage, wie zuverlässig Erinnerungen sind und enthält eine Fülle von Spiegelungen, Wiederholungen und Variationen. Im eleganten Plauderton wechselt der Ich-Erzähler zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
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Alexander („Alex“) Cleave, ein über 60 Jahre alter Theaterschauspieler, lebt mit seiner Ehefrau Leah („Lydia“), einer geborenen Mercer, im heruntergekommenen Haus seiner längst verstorbenen Eltern in der Nähe von London auf dem Land. Leidenschaft gibt es längst keine mehr zwischen Alex und Lydia, doch er nimmt an, dass es für seine Frau zu spät sei, ihn zu verlassen. Auch seine Karriere hat ihren Zenit überschritten. Der Abstieg begann, als er sich in einer Vorstellung nicht mehr an seinen Text erinnern konnte. Alex und Lydia trauern noch immer um ihre Tochter Catherina („Cass“), eine schizophrene Literaturwissenschaftlerin, die sich vor zehn Jahren als 27-Jährige vom Turm der Kirche San Pietro in der ligurischen Hafenstadt Portovenere über die Klippen in den Tod stürzte. Zuvor hatte sie den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, und diese erfuhren erst nach dem Tod ihrer Tochter, dass diese schwanger war.

Obwohl Alex immer nur auf der Bühne gespielt hat, erhält er unerwartet die Hauptrolle in einem Hollywood-Film angeboten. Bei der Anruferin handelt es sich um Marcy Meriwether. Sie arbeitet für Pentagram Pictures in Carver City. Die Filmgesellschaft bereitet ein Biopic über Axel Vander mit dem Titel „Erfindung der Vergangenheit“ vor. Alex soll Axel Vander verkörpern. Die Rolle seiner Geliebten Cora, die sich am Ende ertränkt, wird der Filmstar Dawn Devonport übernehmen, und Toby Taggart steht als Regisseur unter Vertrag.

Dieser Vander, kann ich Ihnen sagen, war ein außerordentlich komischer Vogel. Erst mal war er scheinbar gar nicht Axel Vander. Der echte Vander, der aus Antwerpen stammt, ist irgendwann in den ersten Kriegsjahren auf mysteriöse Weise verstorben – es gab Gerüchte, weitverbreitet, aber nicht sehr glaubwürdig, wonach er ungeachtet seiner haarsträubend reaktionären politischen Einstellung in der Résistance gewesen sein soll – und dieser andere, der unechte, dessen Geschichte nirgendwo schriftlich belegt ist, hat einfach dessen Namen angenommen und ist geschickt in seine Rolle geschlüpft. Der falsche Vander hat die Laufbahn des richtigen als Journalist und Kritiker fortgesetzt, ist aus Europa geflüchtet und nach Amerika gegangen, hat geheiratet und sich in Kalifornien niedergelassen, in einer Stadt mit dem wohlklingenden Namen Arcady, und hat dort viele Jahre lang an der Universität gelehrt; die Frau starb – anscheinend ein Fall von vorzeitigem Altersschwachsinn, kann sogar sein, dass er sie umgebracht hat – und kurz danach gab Vander seine Arbeit auf und ging nach Turin, wo auch er ein, zwei Jahre später sterben sollte.

Marcy Meriwether kündigt Alex den Besuch eines Scouts an. Er erwartet einen Mann, aber es handelt sich um eine Frau Mitte oder Ende 30: Billie Stryker.

Bei einer Leseprobe in London lernt Alex nicht nur Toby Taggart und Dawn Devonport kennen, sondern auch den Drehbuchautor JB und den Wissenschaftler Fargo DeWinter, einen emeritierten Professor für Post-Punk-Forschung der Universität von Nebraska, der Axel Vander entlarvte und die antisemitischen Artikel aufspürte, die dieser für die Vlaamsche Gazet geschrieben hatte.

Von Billie Stryker erfährt Alex, dass Axel Vander sich zu der Zeit, als Cass sich in den Tod stürzte, ebenfalls in Portovenere aufhielt.

Dawn Devonport heißt bürgerlich Stella Stebbings. Ihr Vater, ein Taxifahrer, starb vor einem Monat an einem Herzinfarkt. Während der Dreharbeiten versucht sie sich in ihrer Hotelsuite mit Tabletten zu vergiften, wird aber rechtzeitig in eine Privatklinik gebracht. Alex besucht sie dort, und nachdem sie sich erholt hat, reist er mit ihr nach Ligurien. Lydia erklärt er, das tue er aus therapeutischen Gründen für seine Kollegin. Aber sie fahren nur bis Lerici an der Portovenere gegenüber liegenden Seite der Bucht von La Spezia. Nach der Rückkehr aus Italien versteckt Dawn sich bei Lydia und Alex. Die junge Frau, die wie eine Tochter für das Ehepaar ist, will ihren Beruf aufgeben und nicht mehr an den Set zurück. Alex behauptet gegenüber Marcy Meriwether, er wisse nicht, wo sie zu finden sei und lässt sich auch durch Drohungen mit gerichtlichen Klagen nicht einschüchtern. Erst nach einiger Zeit überredet Lydia Dawn, mit der Schauspielerei weiterzumachen.

Alex wird ebenso wie JB von einem H. Cyrus Blank von der University of Arcady zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Anarch: Autark – Störung und Steuerung in den Schriften Axel Vanders“ eingeladen. Die Hochschule übernimmt die Reisekosten. Bevor Alex sich entschließt, die Einladung anzunehmen, trifft er sich mit JB. Der ist sich sicher, dass Axel Vander allein in Ligurien war. Handelte es sich bei Axel Vander nicht um den Mann, den Cass Swidrigailow genannt hatte und von dem Alex annimmt, dass er der Vater des ungeborenen Kindes war? Hatte Axel Vander doch nichts mit Cass‘ Suizid zu tun?

– – –

Billy Gray war mein bester Freund, und seine Mutter war meine erste Liebe. […] Ich war fünfzehn, und Mrs Gray war fünfunddreißig.

Mit diesen Sätzen beginnt John Banville seinen Roman „Im Lichte der Vergangenheit“.

Während der ganzen Zeit versinkt Alex immer wieder in Erinnerungen an Celia Gray, die damals 35 Jahre alte Mutter seines Schulfreundes Wilfred Florence („Billy“) Gray, mit der er als 15-Jähriger 154 Tage und Nächte lang in seiner irischen Heimatstadt eine Affäre hatte.

Alex‘ verwitwete Mutter, die eine Pension für Handelsvertreter führte, sah es gern, wenn er mit Billy zusammen war. Dessen Vater gehörte ein Optik-Geschäft in der Stadt. Als Alex wieder einmal seinen in der Körperpflege nachlässigen Freund abholen wollte und darauf wartete, bis dieser sich angezogen hatte, ging er durch einen Korridor und erblickte durch eine halb geöffnete Türe unvermittelt Mrs Gray, die nackt vor ihrer Frisierkommode saß. Sie schaute hoch, versuchte jedoch nicht, ihre mehrfach gespiegelte Blöße zu verbergen, und der 15-Jährige ging rasch weiter.

Kurz darauf überholte sie ihn mit dem Kombi und nahm ihn mit. Sie fuhr auf einen Waldweg und forderte ihn auf, sie zu küssen. Bis dahin hatte Alex nur Hettie Hickey im Kino in den Ausschnitt fassen und ihre kleinen Brüste halten dürfen. Eine Woche nach dem flüchtigen Kuss im Auto begegnete Alex der Mutter seines besten Freundes auf der Straße. Mr Gray war mit Billy und dessen jüngerer Schwester Catherine („Kitty“) im Zirkus. Mrs Gray nahm Alex mit nach Hause, und sie liebten sich in der Wäschekammer hinter der Küche.

Nachdem Alex die Sünde gebeichtet hatte, erfuhr er von seiner aufgebrachten Mutter, dass der Geistliche bei ihr gewesen war. Alex befürchtete einen Bruch des Beichtgeheimnisses, aber der Pfarrer hatte Mrs Cleave nur empfohlen, ihren aufgeweckten Sohn auf das Priesterseminar Christian Brothers zu schicken. Sie hatte sich allerdings durch den Besuch belästigt gefühlt und ließ ihren Ärger nun an ihrem Sohn aus.

Alex und Mrs Gray trieben es sowohl im Kombi als auch in Cotters Haus, eine abbruchreife Waldhütte. Mrs Gray parkte ihren Wagen jeweils 500 Meter entfernt davon, und Alex versteckte sein Fahrrad im Gebüsch. Aber die 35-Jährige war viel verwegener als er und lief beispielsweise splitternackt durch den Wald, trotz des Risikos, dabei gesehen zu werden.

Als die Familie Gray während der Sommerferien zwei Wochen Urlaub in einem Strandhotel in Rossmore machte, ertrug Alex die Trennung von seiner Geliebten nicht, und er log seiner Mutter vor, Billy habe ihn zu einem Besuch eingeladen, damit sie ihm das Geld für eine Zugfahrkarte gab. In der Hoffnung, Mrs Gray zu sehen, lief Alex den ganzen Tag durch Rossmore, aber erst am Abend, auf dem Weg zum letzten Zug, begegnete er ihr. Sie fuhr ihn dann mit dem Wagen nach Hause.

Im neuen Schuljahr holte Alex seinen Freund nicht mehr ab und ging ihm auch in der Schule aus dem Weg. Weil sich seine Zeugnisnoten verschlechtert hatten, kürzte ihm die Mutter vorübergehend das Taschenfeld. Auch Mrs Gray ermahnte ihn, die Schule nicht zu vernachlässigen.

Dann wurden sie in Cotters Haus von einem Gewitter überrascht. Durch das undichte Dach regnete es herein, und Mrs Gray fürchtete sich. Sie rannte schließlich zum Auto, und Alex folgte ihr. Zu Hause angekommen, zog sie ihre nassen Sachen aus und schlüpfte nackt in einen Morgenmantel, bevor sie Alex ein Handtuch brachte. Der griff nach ihr und gelangte mit seinen Händen in den sich öffnenden Morgenmantel. Sie wich zurück, aber Alex drängte sie gegen eine Wand – bis plötzlich Kitty mit ihrer Freundin Marge in der Türe stand.

Noch am selben Abend verließ Mrs Gray die Stadt und zog zu ihrer Mutter. Am nächsten Tag entdeckte Alex ein Schild, mit dem das Haus zum Verkauf angeboten wurde. Als Billy ihm auf der Straße begegnete, beschimpfte dieser ihn als Dreckschwein und prügelte sich mit ihm. Alex nahm an, dass die Leute über die skandalöse Liebesaffäre tuschelten und auch seine Mutter davon hörte. Aber Mrs Cleave kam nie darauf zu sprechen. Vielleicht war es ihr zu peinlich. Auch sonst wagte offenbar niemand außer Billy, Alex zur Rede zu stellen.

Alex wurde nun zum Musterschüler. Auch zu Hause tat er alles, damit seine Mutter mit ihm zufrieden war.

50 Jahre später bittet der Schauspieler Billie Stryker nicht nur, mehr über den Suizid seiner Tochter bzw. deren Begleiter in Ligurien herauszufinden, sondern auch, nach Celia Gray zu fahnden. Schließlich teilt Billie ihm telefonisch mit, dass die Nonne Catherine bereit sei, mit ihm zu sprechen. Bei Schwester Catherine handelt es sich um eine approbierte Ärztin, die fast das ganze Jahr über für ihren Orden in Entwicklungsländern unterwegs ist. Soeben kehrte sie von einem Auslandseinsatz zurück. Alex besucht sie im Konvent Unserer Heiligen Mutter und erkennt in der starken Raucherin Kitty. Sie versichert ihm, dass Marge damals gar nicht bei ihr gewesen sei und sie nur mit ihrem Bruder Billy über den Vorfall gesprochen habe. Der Vater erfuhr nie etwas davon. Es gab also gar keine Gerüchte über Alex und Kittys Mutter. Celia zog auch nicht sofort, sondern erst gut einen Monat später zu ihrer Mutter, und dann dauerte es noch einige Zeit, bis Kittys Vater das Optik-Geschäft aufgab und das Wohnhaus zum Verkauf anbot. Celia, deren drittes Kind nur ein oder zwei Tage lang gelebt hatte, starb Ende des Jahres, in dem sie die Affäre mit Alex gehabt hatte, an einem Endometriumkarzinom. Kittys Bruder und Vater sind ebenfalls seit drei bzw. zwei Jahren tot.

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Der Roman „Im Lichte der Vergangenheit“ dreht sich um die Frage, wie zuverlässig Erinnerungen sind. Dass John Banville einen Schauspieler als Protagonisten gewählt hat, ist wohl kein Zufall, denn es geht auch um das Thema Identität und Rolle.

Im Mittelpunkt steht Alex Cleave. Der war bereits im Roman „Sonnenfinsternis“ (2002) von John Banville die Hauptfigur. Axel Vander und Alex Cleaves Tochter Cass kennen wir aus dem Roman „Caliban“ (2004). Aus der Lektüre von „Caliban“ wissen wir auch, dass Cass von Axel Vander geschwängert worden war, bevor sie sich das Leben nahm.

Bei den Namen Alex und Axel handelt es sich um Anagramme. Das weist auf Parallelen der beiden Figuren hin. JB, die Initialen des Drehbuchautors von „Erfindung der Vergangenheit“, stimmen mit denen des Autors John Banville überein. Alex fährt mit Dawn Devonport nach Ligurien, wo seine Tochter in den Tod sprang und wird dabei zum Ersatzvater seiner jüngeren Kollegin, die gerade einen Selbstmordversuch überlebte. Im Film spielt Dawn die Geliebte Axel Vanders, der im „richtigen Leben“ mit Cass Cleave zusammen war. Am Ende ertränkt sie sich – ähnlich wie Cass. Die Tochter der Geliebten des 15-jährigen Schülers Alex heißt Catherine. So nennen er und Lydia später ihre eigene Tochter. Die Figuren und ihre Beziehungen spiegeln einander. Dazu passt, dass Alex die Mutter seines Schulfreundes Billy zum ersten Mal nackt in fraktalen Spiegelbildern erblickt. „Im Lichte der Vergangenheit“ enthält nicht nur eine Fülle von Duplizierungen, Wiederholungen und Variationen, sondern auch von kunst- und geistesgeschichtlichen Anspielungen.

Aber der Roman „Im Lichte der Vergangenheit“ zerfällt in zwei Teile, obwohl John Banville die Geschichte von der Affäre, die Alex als 15-Jähriger mit der Mutter seines Schulfreundes Billy hatte, nicht separat erzählt, sondern als Erinnerungen in die Erlebnisse des 50 Jahre älteren Schauspielers integriert.

John Banville lässt Alex Cleave in der Ich-Form erzählen. Im eleganten Plauderton wechselt er zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Mitunter kann er sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, und am Ende muss er feststellen, dass er die ganze Zeit über von falschen Annahmen ausgegangen war.

Also ehrlich, was einem so alles durch den Kopf geht.

Was habe ich zu ihr gesagt, was hab ich ihr erzählt? Ich weiß es nicht mehr.

Ich denke da an diese eine Party von Kitty. Wie war ich dort hingekommen? Wer hatte mich eingeladen? Nicht Kitty selbst und auch nicht Billy, so viel ist sicher, und ganz gewiss nicht Mrs Gray. Merkwürdig, diese Lücken, die sich auftun, wenn man das mottenzerfressene Gewebe der Vergangenheit allzu heftig strapaziert.

Wintersonnenlicht – nein, nein, es war Sommer, Herrgott noch mal, nicht den Anschluss verlieren! – Sommersonnenlicht, ruhig und schwer wie Honig, schien ins Fenster neben dem Kühlschrank, der ebenfalls schwieg.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

John Banville (kurze Biografie / Bibliografie)

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John Banville: Geister
John Banville: Athena
John Banville: Der Unberührbare
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