John Banville : Unendlichkeiten

Unendlichkeiten
Originalausgabe: The Infinities Picador 2009 Unendlichkeiten Übersetzung: Christa Schuenke Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012 ISBN: 978-3-462-04379-2, 319 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Mathematiker Adam Godley sr. liegt seit einem Schlaganfall im Koma. Seine junge zweite Ehefrau ließ ihn ins Himmelszimmer bringen. Die Tochter Petra, der Sohn Adam Godley jr. und die Schwiegertochter, die schöne Schauspielerin Helen, reisen an, um den Todkranken noch einmal zu sehen. Sie bleiben nicht allein. Auch Zeus und sein Sohn Hermes mischen sich unerkannt unter die Anwesenden ...
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Kritik

Viel action gibt es nicht in "Unendlichkeiten". Lesenswert ist der heitere Roman vor allem wegen des virtuosen Spiels mit der Sprache, die John Banville dem Götterboten Hermes in den Mund legt.
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Der geniale Mathematiker Adam Godley sr. liegt seit einem schweren Schlaganfall im Koma, zuerst im Krankenhaus, jetzt im sogenannten Himmelszimmer seines Hauses, wohin man sein Bett gebracht hatte, bevor ihn der Kuhhirte Adrian Duffy hinauftrug. Warum ihn seine junge zweite Ehefrau Ursula nicht mehr im Schlafzimmer haben wollte, weiß niemand. Die 19-jährige Tochter Petra reist ebenso an wie ihr zehn Jahre älterer Bruder Adam Godley jr. und dessen begehrenswerte Ehefrau Helen.

Petra, die am Borderline-Syndrom erkrankt ist, stellt zur Zeit unter dem Titel „Florilegium Moribundus Humanae“ eine Enzyklopädie der Krankheiten zusammen.

Helen ist Schauspielerin. Sie bereitet sich gerade auf die Rolle der Alkmene in der Tragikomödie „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist vor. Im letzten Jahr erlitt sie eine Fehlgeburt.

Sie und ihr Mann treffen am Abend in Arden House ein. Adam will erst am nächsten Morgen zu seinem Vater hinaufgehen. Schon vor Tagesanbruch steht er auf, weil er nicht schlafen kann. Zeus nutzt die Gelegenheit, sich in Adams Gestalt mit Helen zu vereinigen, und damit ihm mehr Zeit bleibt, lässt er seinen Sohn Hermes die Morgendämmerung um eine Stunde verschieben. Helen nimmt nach dem Aufwachen an, sie habe die heftige Umarmung geträumt, und als Adam ins Zimmer zurückkommt, spielt sie den vermeintlichen Traum mit ihm nach.

Währenddessen sucht Hermes – der uns das alles erzählt – in der Gestalt des Kuhhirten Adrian Duffy Ivy Blount auf, die in einem Nebengebäude auf dem Anwesen wohnt. Die Witwe stammt von Charles Blount ab, dem 1. Earl of Devonshire und 8. Baron Mountjoy (1563 – 1606), aber sie ist die Letzte des Adelsgeschlechts und musste das von ihrem Ehemann St. John Blount erbaute Arden House vor 20 Jahren für einen Spottpreis an Adam Godley sr. verkaufen. Seither fungiert sie als inoffizielle Haushälterin und Köchin der Familie Godley. Der als Kuhhirt auftretende Götterbote greift spaßeshalber in das Geschehen ein, klagt über das schlechte Dach seines Hauses, redet davon, dass er sein Haus verkaufen wolle und macht Ivy Blount indirekt einen Heiratsantrag.

Am Vormittag holt Adam Godley jr. seinen ein paar Jahre jüngeren Schwager Roddy Wagstaff vom Bahnhof ab und ermahnt ihn, sich Petra gegenüber zumindest höflich zu benehmen. Unerwartet taucht dann auch noch Benny Grace auf, ein früherer Freund und Kollege des Todkranken.

Als sich alle zu einem verspäteten Mittagessen versammeln, trägt Ivy Blount die Gerichte auf und kündigt einen weiteren, von ihr eingeladenen Gast an: Adrian Duffy. Der steht denn auch bald darauf verlegen in der Tür.

Der Komapatient sinnt währenddessen über seine Lage nach.

Ist dieser Zustand etwa nicht die Apotheose, nach der er sich immer gesehnt hat, nämlich reiner Geist zu sein, reiner, unvermischter Geist?

[…] im Kopf ist alles glockenhell und klar, obwohl, ich geb’s ja zu: Der Glocke fehlt der Ton.

Er lässt sein Leben Revue passieren. Dorothy, seine erste Frau, hatte sich ertränkt. Zwei Wochen später traf er in Venedig auf einen angeblichen Grafen Zeno, der sich als Zuhälter entpuppte und ihn zu einer Prostituierten namens Alba brachte. Adam sah sie viele Jahre später in irgendeiner italienischen Stadt noch einmal wieder: Da wurde sie von einer anderen Frau im Rollstuhl geschoben. Bei einem Mathematiker-Colloquium begann Adam dann ein Verhältnis mit Inge, einer schwedischen Finnin oder finnischen Schwedin. Ursula war 19, als er ihr begegnete. Sie könnte seine Tochter sein. Inzwischen ist die Mutter seiner beiden Kinder alkoholkrank. Der alte Adam weiß, dass er daran ebenso schuld ist wie am Suizid seiner ersten Frau.

Ich habe meine Kinder wie Erwachsene behandelt, und meine Frau hab ich behandelt wie ein Kind.

Benny Grace nahm den Wissenschaftler zu Eskapaden mit, so wie Mephisto es mit Faust tat.

Hatte ich diesen Hang zum Ordinären eigentlich schon, eh Benny ankam und mich vergnügt zu einer Atempause in der Gosse abgeschleppt hat? Ich weiß nur, als ich einmal dort angelangt war, hat’s mir Spaß gemacht, mich in Pisse und Geifer zu suhlen. Das hier, sagte ich mir, ist das Wahre, ist das Eigentliche, rau, grob und lebendig, das ist’s, was Leben wirklich heißt. Da unten gibt es keine lieben Inges und Ursulas, nur Schlampen und Taschendiebinnen und hier und da ein armes, irres Gretchen, das auf der Suche ist nach seinem Faust.

Ein Schürzenjäger bin ich nie gewesen, nicht mal in meinem Streunerjahr der Trauer damals, ganz gleich, was alles über mich behauptet wurde. Wahr ist, dass ich die Frauen verehrt habe und auch immer noch verehre, aber doch nicht, oder nicht ausschließlich in der Erwartung, sie zu besteigen und dann hurtig loszulegen wie so ein Feuerwehrmann mit seiner Spritze, nein, das Faszinierende für mich war immer der Moment der Transformation, wenn eine Frau aus freiem Willen ihre Kleider von sich wirft und von Sekunde zu Sekunde alles anders ist.

Am Mittagstisch erzählt Benny den anderen, wie Adam herausfand, dass die bis dahin als Störfaktor angesehenen Unendlichkeiten strahlende Lösungen bargen und bewies, dass es eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten gibt. Aber niemand hört zu.

„Verstehen Sie“, sagt Benny in dem typischen Gehaspel, das sein Erklärerton ist, zu Petra, „verstehen Sie, die Unendlichkeiten, die Unendlichkeiten, die in den Gleichungen der ganzen anderen Leute aufgetaucht sind und bei denen immer Null herauskam, und die auch in seiner Gleichung aufgetaucht sind, hat er als genau das gesehen, was –“

Auch der alte Adam denkt an seine Erkenntnisse als Mathematiker:

Meine letzte Gleichungsreihe, eine Handvoll erstklassiger und unwiderlegbarer Paradoxa, war die Kombination, mit der die verschlossene Kammer der Zeit zu öffnen war. Das Seufzen jener toten, abgestandenen Luft, die uns entgegenwehte aus der Tür, die offen klaffte und die der Ausgang war aus dieser Welt, welche für uns die einzige gewesen war, war nicht, wie wir erwartet hatten, der Hauch des neuen Lebens, sondern nur ein letztes Keuchen. Ich verstehe es immer noch nicht. Das bis dato ungeahnte Reich, das ich hinter den Unendlichkeiten entdeckt hatte, war eine neue Welt, und keine Karavellen, von Kanonen starrend, in See stachen zu ihr. Wir zögerten, sie zu betreten, im Voraus schon erschöpft von der bloßen Aussicht, auf einmal wirklich dort zu sein.

Als Adam jr. seiner Frau nach dem Essen sagt, er habe etwas beschlossen, erwartet sie, dass er sich von ihr trennen will. Aber stattdessen möchte er mit ihr nach dem Tod seines Vaters nach Arden House ziehen.

Helen geht mit Roddy spazieren. Im Wald setzen sie sich auf eine Bank beim Heiligen Brunnen. Unter Zeus‘ Einfluss küsst Roddy seine Begleiterin. Sie ohrfeigt ihn dafür, und in diesem Augenblick donnert es. Im Platzregen rennt Helen zurück.

Petra sah ihren Mann und ihre Schwägerin zufällig auf der Bank sitzen, doch als Roddy Helen küsste, wandte sie sich um und lief weg. Deshalb weiß sie nichts von der Ohrfeige und fragt sich nun, wie lange die beiden schon ein heimliches Liebespaar sind. In ihrem Zimmer holt sie einen sorgfältig zusammengelegten Kimono heraus, schlüpft hinein und spürt die kühle Seide auf der nackten Haut. Dann schiebt sie einen Ärmel zurück und schneidet sich mit einer Rasierklinge in den Unterarm. Die blutende Wunde presst sie gegen die Brust.

Roddy Wagstaff reist überstürzt ab.

Petras Bruder trägt den Vater herunter zu den anderen. Der alte Adam ist aus dem Koma erwacht. Ursula ruft den Arzt Dr. Ferdinand Fortune an, der fest mit dem Tod seines Patienten gerechnet hat und jetzt über das medizinische Wunder staunt.

Benny Grace ist spurlos verschwunden.

Doch halt, wer ist denn das? Helen, natürlich. Sie erhebt sich aus dem Sessel vor dem Kamin, wo sie bis eben saß, von niemandem bemerkt; nun tritt sie vor und lächelt. Das Licht schwillt in den Fenstern, der letzte Abendglanz. Der Doktor wartet, dass er angesprochen wird, Helen jedoch geht, irgendwie, durch ihn hindurch, ein goldener Atemzug. Hinter ihm bleibt sie stehen, zuckt zusammen, als etwas sie berührt – das ist mein Vater, der ihr Lebwohl sagt, seine Hand auf ihrer Wange. Er nickt mir zu. Ich fliege schnell zu Helens Gatten, der noch immer kniet, und hauche ihm etwas ins Ohr. Was ich ihm wohl zu sagen habe? Nun, dass sein Weib, wie wir auf unsere alte Weise es umständlich zu nennen pflegen, ein Kindchen unterm Herzen trägt. Rasch springt er auf und dreht sich um. Helen schaut zu ihm und sieht seinen Blick. Sie drückt die Hand auf ihren Leib.
„Oh!“

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In welcher Zeit die Geschichte spielt, bleibt unbestimmt. Einerseits kommt der Postbote von Thurn und Taxis auf einem Pony geritten und die Züge werden von Dampflokomotiven gezogen, andererseits verwendet man Salzwasserkonverter für den Antrieb von Autos.

Die Schauspielerin Helen – eine schöne Frau wie die Helena in der griechischen Mythologie – bereitet sich auf ihre Rolle als Alkmene in „Amphitryon“ vor. In dieser Tragikomödie von Heinrich von Kleist nimmt Jupiter Amphitryons Gestalt an, um mit dessen Ehefrau Alkmene zu kopulieren. Ähnliches geschieht auch in „Unendlichkeiten“ von John Banville.

Der Götterbote Hermes erzählt die Geschichte im Präsens. Sie spielt auf einem Landgut, beginnt an einem Sommerabend und endet nach etwa 24 Stunden; es gibt weder Ortsveränderungen, noch Zeitsprünge, und Nebenhandlungen tauchen nur in Gedanken bzw. Erinnerungen auf. „Unendlichkeiten“ erfüllt also die von Aristoteles für Dramen aufgestellte Forderung nach der Einheit von Ort und Zeit.

Obwohl sich das Personal um das Sterbebett eines alten Mannes versammelt hat und John Banville menschliche Ängste und Schwächen aufzeigt, handelt es sich bei „Unendlichkeiten“ um einen heiteren Roman.

Einige der Namen und Bezeichnungen sind „sprechend“: Godley, Grace, Fortune, Himmelszimmer.

Im Kosmos dieser Geschichte mischen sich (griechische) Götter unter die Menschen. Ein Hund wundert sich darüber, dass ein fremder Besucher seinen Namen kennt, und Gegenstände scheinen zu leben:

Jetzt scheint die Lok sich zu besinnen, sie schaudert gleichsam.

Die Dielen knarzen beklommen.

Dann schneidet Adam das Huhn an, und aus dem Schlitz zwischen versengter Haut und cremig-feuchtem Fleisch fährt leise seufzender Dampf.

Viel action gibt es nicht in „Unendlichkeiten“. Lesenswert ist der Roman vor allem wegen des virtuosen Spiels mit der Sprache, die der Autor Hermes in den Mund legt.

Ein sachlicher Fehler unterlief dem irischen Schriftsteller bei der Benennung des Verwandtschaftsverhältnisses der englischen Königin Elisabeth I. und der schottischen Königin Maria Stuart: Die beiden waren keine Cousinen, wie John Banville schreibt (Seite 45), sondern Elisabeth war eine Großtante Marias, denn ihr Großvater Heinrich VII. war zugleich Maria Stuarts Urgroßvater.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

John Banville (kurze Biografie / Bibliografie)

John Banville: Das Buch der Beweise
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John Banville: Sonnenfinsternis
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John Banville: Die See
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit

Minette Walters - Fuchsjagd
Minette Walters versteht es meisterhaft, eine komplexe und facettenreiche, sich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Lebens abspielende Handlung spannend zu erzählen. "Fuchsjagd" ist in jeder Beziehung ein vorbildlicher Kriminalroman.
Fuchsjagd