John Banville : Caliban
Inhaltsangabe
Kritik
Der greise Literaturwissenschaftler Axel Vander lebt seit langer Zeit in Arcady, Kalifornien. Seine jüdische Frau Magda starb nach fast vierzig Jahren Ehe. Vander ist auf einem Auge blind und wegen eines „toten“ Beins auf einen Krückstock angewiesen. Auch das Alter macht ihm zu schaffen.
Wie soll man die Übergriffe der Senilität entdecken, wenn die Fähigkeit des Entdeckens selber Ziel dieser Attacken ist? Würde es Phasen eines Aufschubs geben, Augenblicke von furchtbarer Klarheit inmitten eines ziellosen Umherirrens, Momente von bebender Erkenntnis vorm Spiegel, wo man entsetzt sein voll gesabbertes Hemd anstarrte und die Pisseflecken auf dem Hosenstall? Wahrscheinlich nicht; wahrscheinlich werde ich einfach in die Senilität hinüberschlurfen, ohne es auch nur zu merken. (Seite 27)
Immer öfter, und besonders nachts, grüble ich über die furchtbare Möglichkeit nach, dass der Geist den Tod des Körpers überleben könnte. (Seite 31)
Er erinnert sich an Szenen, die er als Stadtkind auf dem Bauernhof seines Großvaters erlebte.
An alles das erinnerte ich mich, obwohl es nie geschehen war. (Seite 76)
Lügen ist meine zweite, nein, meine erste Natur. Ich habe mein ganzes Leben lang gelogen. Ich habe gelogen, um davonzukommen, ich habe gelogen, um geliebt zu werden, ich habe gelogen für Macht und Würde; ich habe gelogen um des Lügens willen. Es war eine Lebensweise: Lügen sind das Beinahe-Anagramm des Lebens. (Seite 19)
1990 erhält er einen Brief von einer Frau namens Catherine („Cass“) Cleave, die in Antwerpen Geheimnisse über ihn aus der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg entdeckte. Vander hat immer befürchtet, dass jemand in seiner Vergangenheit graben und ihn anprangern könnte.
Unter einer der Laufrollen des Stuhles raschelte wie ein warnendes Kichern Papier. Es war der Brief. Schauen Sie: Ich beuge mich hinunter, ich ächze, ich hebe ihn auf, glätte ihn mit der Faust auf der Armlehne und lese ihn von neuem in dem kegelförmigen Strahl von golden schimmerndem, stäubchendurchflirrtem Licht, das mich mit seiner Milde völlig unverdient umspült, meinen alten, wirren, baumelnden Kopf, meine schiefe Schulter, meine Kralle mit den Adern, dick wie Taue. Die Schreibmaschinenseiten flattern leis im Rhythmus meines Pulsschlags, den ich in der Schläfe spüre, und mein gutes Auge tränt von der Anstrengung, die Wörter nicht verschwimmen oder aus der Reihe hüpfen zu lassen. (Seite 17)
Wut, Wut und Angst, gemischt zu gleichen Teilen, das ist der Brennstoff, der mich treibt: Wut, dass ich bin, was ich nicht bin, Angst, dass herauskommt, was ich bin. Falls eines schönen Tages eine dieser Kräfte versiegt, versagt das brutale Gleichgewicht, das mich am Leben hält, und dann falle ich in mir zusammen oder fliege hilflos unter Furzen und Pfeifen davon wie ein losgelassener Luftballon. (Seite 105)
Um herauszufinden, was Cass weiß, nimmt er die Einladung zu einem Nietzsche-Kongress in Turin an und verabredet sich dort mit ihr. Franco Bartoli, der Organisator, der den berühmten Literaturwissenschaftler seit sieben Jahren vergeblich eingeladen hatte, freut sich, dass er diesmal zugesagt hat. Als Vander dann aber nur ein Kapitel aus einem seiner nahezu allen Anwesenden bekannten Bücher vorliest, statt eine Rede zu halten, kann er nur mit Mühe seinen Ärger verbergen. Vander sieht auch Kristina Kovacs wieder, mit der er einmal eine Liebesnacht in Prag verbracht hatte. Sie ist jetzt offenbar Bartolis Gefährtin. Lang wird sie nicht mehr leben, denn sie leidet unheilbar an Krebs.
In der Hotelhalle stellt Vander überrascht fest, dass es sich bei der Briefschreiberin um eine junge rothaarige Irin mit abgekauten Fingernägeln handelt. Trotz seines Alters erregt ihn ihr Anblick, und sie geht ohne weiteres mit dem alten Mann ins Bett. Während er sich auf ihr abmüht, erleidet sie für einige Sekunden einen Paroxysmus ihrer Nervenkrankheit, den er für einen Orgasmus hält.
Cass war nach Antwerpen gereist, um mehr über die Vergangenheit des Literaturwissenschaftlers herauszufinden. In einer Kneipe wurde sie von einem Mann angesprochen, dem aufgefallen war, dass sie ein Buch von Axel Vander bei sich hatte. Er hieß Max Schaundeine und behauptete, ihn gekannt zu haben.
„Aber damals war er noch nicht Axel Vander.“ (Seite 141)
Er […] zog seinen Stuhl näher heran und fing an, ihr die Geschichte von Axel Vander zu erzählen, der tot war, und von dem anderen, der lebte. (Seite 142)
In Turin verrät Cass nicht, was sie über die Identität und Vergangenheit ihres Geliebten weiß. Sie lässt sich von ihm zum Essen ausführen. Ihm ist der Wein wichtiger als das Essen, und nach einem seiner Alkoholexzesse bricht er zusammen. Cass zieht zu ihm ins Hotelzimmer und pflegt ihn vierzehn Tage lang, bis er wieder aufstehen kann. Einmal telefoniert sie mit ihrer Mutter in Irland und erfährt, dass sich ihr Vater allein in sein Elternhaus zurückgezogen hat. [„Sonnenfinsternis“]
Schließlich erzählt ihr der Greis seine Geschichte, an die er eigentlich nie mehr denken wollte.
Er wuchs als Sohn eines jüdischen Altkleiderhändlers in Antwerpen auf. Ungeachtet der gesellschaftlichen Kluft befreundete er sich mit Axel Vander, dessen Vater Diamantenhändler war. Die Vanders verkörperten sein Ideal einer Familie: Sie waren kultiviert, gut aussehend, heiter, reich und angesehen. Axel entwickelte sich zwar zum Antisemiten, aber seinen Freund sparte er aus seinem Hass auf die Juden aus. Als eine Zeitung antisemitische Hetzartikel von Axel veröffentlichte, überlegte dessen Freund voller Neid:
Für einen anhaltenden Augenblick öffentlichen Interesses, und wäre es auch nur in so einem Käseblättchen wie dem Dagblad gewesen, hätte ich meine Seele verkauft, hätte ich meine Leute verkauft. Warum nahmen sie ihn, den Ariel, wo sie doch in mir einen zu jeder Schandtat bereiten Caliban hatten? (Seite 199)
Als die Deutschen 1940 Belgien besetzten, schloss Axel – der mit siebzehn eine Heine-Monografie geschrieben hatte – sich den fanatischen Barbaren an. Er traf sich zwar noch hin und wieder mit seinem Jugendfreund, aber in sein Elternhaus lud er ihn nicht mehr ein. Eines Tages stand in der Zeitung, dass Axel Vander tot war. Die einen vermuteten, er habe sich selbst das Leben genommen, andere behaupteten, er sei als Anführer einer Untergrundorganisation hingerichtet worden. Niemand wusste etwas Genaues.
Einen Monat nach Axel Vanders Tod fand dessen Freund einen unter der Tür durchgeschobenen Zettel mit der Aufforderung, den nächsten Zug nach Brüssel zu nehmen. Er tat es, und als er zurückkam, waren in der Straße die Scheiben eingeschlagen und die Nationalsozialisten hatten seine Eltern und Geschwister abgeholt. Sie wurden nach Auschwitz oder in ein anderes Vernichtungslager gebracht. Ihm hatte ein Unbekannter das Leben gerettet. Als er es endlich wagte, an die Tür der Wohnung zu klopfen, in der er bis dahin zu Hause gewesen war, öffnete ihm ein Fremder, der sich als Max Schaudeine vorstellte, und als dieser nach seinem Namen fragte, antwortete er ohne Zögern: „Axel Vander“.
Schaudeine verhalf ihm zur Flucht. Über Hendaye und Lissabon gelangte er nach Southampton, wo er zwei Jahre lang von einer gewissen Lady Laura ausgehalten wurde. Weil er sie bestahl, ließ sie ihn von zwei Kerlen im Park zusammenschlagen. Es sollte nur ein kleiner Racheakt sein, aber die Männer traten ihm mit einem Stiefelabsatz ein Auge kaputt und verletzten ihn an einem Bein so schwer, dass es steif blieb. Lady Laura bezahlte die Krankenhausrechnung. Sobald er dazu in der Lage war, schiffte er sich nach Amerika ein. Drei der zehn Schiffe des Konvois wurden bei den Azoren versenkt.
Irgendwann glaubte er dann selbst, Axel Vander zu sein.
Was habe ich davon gehabt, dass ich Axels Identität angenommen habe? Es war, vermute ich, ganz einfach so, dass ich gar nicht unbedingt in erster Linie er sein wollte – obwohl ich durchaus er sein wollte, natürlich wollte ich das –, sondern dass es vielmehr mein dringender Wunsch war, nicht ich zu sein. (Seite 267)
Cass gesteht dem Greis ihre Liebe, aber er reagiert nur unwirsch darauf.
Je mehr sein Zustand sich verbesserte, desto schlechter ging es ihr. Die Stimmen kamen wieder, alle, sie schlossen sich zusammen, sie drängelten und schubsten, um an sie heranzukommen. (Seite 287)
Sie möchte unbedingt das berühmte Turiner Grabtuch sehen, aber an dem Tag, an dem Vander mit ihr hingeht, ist die Ausstellung geschlossen.
Zu einer Einladung bei Franco Bartoli bringt Vander seine junge Geliebte mit. Kristina Kovacs ist auch da. Unvermittelt bricht Cass zusammen. Bartoli und Kristina legen sie in ein Gästebett. Erst nach einigen Tagen ist Cass wieder dazu bereit und in der Lage, Vander zu sehen.
„Du musst das verstehen“, sagte ich, „ich muss wieder zurück in mein Leben, und du musst zurück in das deine.“ Ich lachte leichthin. „Ich habe hier viel zu viel Geld ausgegeben“, sagte ich. „Mein Agent in Arcady, der sich um meine finanziellen Angelegenheiten kümmert, denkt schon, ich werde erpresst […]“ Natürlich hätte ich sie geliebt, sagte ich, aber Liebe sei nichts weiter als der Drang, sich zu isolieren und einen anderen Menschen absolut besitzen zu wollen. „Damit, dass ich dich liebte“, sagte ich, „habe ich dich der Welt weggenommen, und nun gebe ich dich zurück. Verstehst du?“ (Seite 342f)
Unterdessen dürfte jedem aufgefallen sein, dass ich ausschließlich aus Posen bestehe. (Seite 308)
Cass eröffnet Vander, dass sie schwanger von ihm sei. Noch am selben Tag reist sie ab. Vander zieht zu Bartoli und dessen Mutter. Nach einer Woche kommt eine Karte von Cass aus Genua. Sie weist auf die bevorstehende Sonnenfinsternis hin. Vander fährt sofort nach Genua, obwohl es aussichtslos ist, Cass dort zu finden. Erfolglos kehrt er nach Turin zurück. Schließlich trifft ein Päckchen mit einem Füller von ihr aus Chiavari ein.
Dort hat sie sich inzwischen von einem Kliff in den Tod gestürzt.
Vander beginnt, mit Cass‘ Füller das vorliegende Buch zu schreiben. Als die Tinte ausgeht, geht er in ein Schreibwarengeschäft. Dort stellt sich heraus, dass es sich nicht um einen Kolben-, sondern um einen Patronenfüller handelt, und um die jetzt leere Patrone sind zwei alte Zeitungsschnipsel gewickelt. „Ecco, signore, un segreto!“, ruft die Verkäuferin.
[…] konnte ich den gedruckten Text zuerst nicht lesen. Dann aber sah ich sein Bild und meines und unsere Namen, seinen mit einem Druckfehler. (Seite 369)
Cass wusste also über ihn Bescheid, und er begreift plötzlich, dass auch Magda die ganze Zeit über sein Geheimnis gekannt hatte.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Die Biografie des in Antwerpen geborenen, später in die USA ausgewanderten Literaten Paul de Man (1919 – 1983), von dem Ende der Achtzigerjahre bekannt wurde, dass er 1940 bis 1942 antisemitische Beiträge für die belgische Kollaborationszeitschrift „Le soir volé“ geschrieben hatte, inspirierte John Banville zu dem Roman „Caliban“. Die vertauschte Identität erinnert an „Der menschliche Makel“ und „Der talentierte Mr Ripley“.
Der Originaltitel – „Shroud“ – bezieht sich auf das Turiner Grabtuch, das Cass und Axel nicht zu sehen bekommen. Für die deutschsprachige Ausgabe wurde der Name einer Figur aus dem Bühnenstück „Der Sturm“ von William Shakespeare gewählt: Caliban.
Cleaved lässt sich mit gespalten übersetzen; Cass‘ Familienname korrespondiert also mit ihrer Schizophrenie. Dass die Namen der Protagonisten aus den Romanen „Sonnenfinsternis“ und „Caliban“ – Alex und Axel – Anagramme sind, ist bestimmt kein Zufall, zumal wir auch Catherine („Cass“) Cleave bereits aus „Sonnenfinsternis“ kennen, und es in „Caliban“ weitere Anspielungen auf den zwei Jahre älteren Roman von John Banville gibt (Cass telefoniert mit ihrer Mutter, Axel Vander telefoniert mit Alex Cleave).
Da es am Ende heißt, der Protagonist schreibe den vorliegenden Roman, ist es konsequent, dass ihn John Banville in der Ich-Form auftreten lässt und ihm innere Monologe in den Mund legt. Sobald aus einer anderen Perspektive – etwa der von Cass – erzählt wird, wechselt der Autor in die dritte Person Singular.
Ein Sympathieträger ist der Protagonist nicht gerade. Der arrogante, versoffene Literaturwissenschaftler verabscheut sich selbst und verhält sich anderen gegenüber ebenso rüde wie egoistisch. John Banville beweist Sarkasmus und Mut zur Hässlichkeit, wenn er den nackten Greis und dessen Gebrechen beschreibt.
Vorherrschend in diesem Roman […] ist das Moment der Auflösung, der eintretenden Leere, einer zunehmenden Verfinsterung, sind Absenzen, Wahrnehmungsverschiebungen, das Halluzinierende und Delirierende, das bis in den Satzbau reicht und Banvilles suggestiven Stil begründet. (Helmut Petzold in „Diwan“, Büchermagazin des Bayerischen Rundfunks)
Auch wenn man sich als Leser hin und wieder in den assoziativen Verästelungen verliert, ist es doch gerade die geschliffene Sprache von John Banville, die „Caliban“ zum Lesevergnügen macht.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch
John Banville (kurze Biografie / Bibliografie)
John Banville: Das Buch der Beweise
John Banville: Geister
John Banville: Athena
John Banville: Der Unberührbare
John Banville: Sonnenfinsternis
John Banville: Die See
John Banville: Unendlichkeiten
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit