Bertolt Brecht : Der gute Mensch von Sezuan
Inhaltsangabe
Kritik
Drei Götter informieren sich über den Zustand der Welt. Sie wollen es nicht glauben, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse eine Befolgung der göttlichen Gebote unmöglich gemacht haben und suchen gute Menschen.
Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können. (Seite 10)
In Sezuan werden sie von dem Wasserverkäufer Wang begrüßt. Während Wang beflissen von Haus zu Haus läuft, um ein Nachtquartier für die Götter zu besorgen, stellen diese fest, dass sein Becher einen doppelten Boden hat: Wang ist also kein guter Mensch, sondern ein Betrüger. Jeder Hausbesitzer hat eine andere Ausrede. Nur die Prostituierte Shen Te erklärt sich bereit, die Gäste aufzunehmen, obwohl sie dadurch einen Freier verliert, dessen Geld sie benötigt hätte, um die Miete bezahlen zu können.
In Shen Te glauben die Götter endlich einen guten Menschen gefunden zu haben. Um ihr zu helfen, bezahlen sie für die Übernachtung 1000 Silberdollar.
Damit erwirbt Shen Te das Inventar eines Tabakladens – und erfährt erst einige Tage später von der Vorbesitzerin, der Witwe Shin, dass es so gut wie keine Kundschaft gibt, weil sich das Geschäft in einem Elendsviertel befindet.
Nach kurzer Zeit taucht die achtköpfige Familie auf, bei der Shen Te wohnte, nachdem sie vom Land nach Sezuan gekommen war. Obwohl die Wirtsleute sie rücksichtslos auf die Straße setzten, als ihr das Geld ausging, nimmt Shen Te die inzwischen Obdachlosen bei sich auf.
Ein Arbeitsloser erbettelt Zigaretten.
Der Schreiner Lin To will endlich Geld für die Regale, die er für den Tabakladen anfertigte, aber Shen Te kann nichts bezahlen, denn sie gab der Witwe Shin ihre gesamten 1000 Silberdollar in dem Glauben, damit auch die Regale erworben zu haben.
Weil die Hausbesitzerin Mi Tzü die neue Mieterin aufgrund der Gerüchte über deren Vergangenheit nicht für eine respektable Frau hält, verlangt sie die Miete sicherheitshalber für ein halbes Jahr im Voraus: 200 Silberdollar.
In ihrer Verzweiflung verkleidet Shen Te sich als Mann und gibt sich als ihr eigener Vetter Shui Ta aus. In dieser Rolle handelt sie den Schreiner von 100 auf 20 Silberdollar herunter. Als die achtköpfige Familie das Quartier nicht verlassen will, ruft Shui Ta den Polizisten des Viertels herbei – gerade, als der kleine Sohn der Familie dabei ertappt wird, wie er in der Bäckerei gegenüber Brot fürs Frühstück stiehlt. Da bleibt den Herrschaften nichts anderes übrig, als dem Polizisten zu folgen.
Wie aber soll Shui Ta die 200 Silberdollar für die Miete auftreiben, wo doch der Tabakladen nichts abwirft? In ihrer Not gibt Shen Te alias Shui Ta eine Heiratsanzeige auf.
Auf dem Weg zu einer Verabredung mit einem Witwer begegnet sie im Stadtpark dem arbeitslosen Flieger Yang Sun, der sich an einem Ast aufhängen will. Sie bringt ihn von seinem Vorhaben ab, verliebt sich in ihn, und sie werden ein Paar.
Eines Morgens, als Shen Te unterwegs ist, um für die Bedürftigen in der Nachbarschaft Reis zu besorgen, bietet Wang den Kunden des Barbiers Shu Fu Wasser zum Kauf an, aber Shu Fu, dessen Salon sich gegenüber des Tabakladens befindet, jagt ihn jähzornig davon und verletzt ihn durch einen Hieb mit der Brennschere schwer an der Hand. Weil Wang keinen Arzt bezahlen kann, raten ihm die Umstehenden, den reichen Barbier und Immobilienbesitzer Shu Fu vor Gericht auf eine Entschädigung zu verklagen, aber als er fragt, wer bereit sei, den Vorfall zu bezeugen, will niemand ihm helfen. Entrüstet verspricht Shen Te, die in diesem Augenblick zurückkommt, zu Gunsten von Wang auszusagen.
Als Wang mit dem Polizisten in den Tabakladen kommt, treffen sie statt auf Shen Te auf deren Vetter, der klarstellt, dass seine Verwandte gar nichts gesehen hat und sie damit vor einem Meineid bewahrt.
Der Teppichhändler aus der Nachbarschaft und seine Frau, ein altes Ehepaar, leihen Shen Te die 200 Silberdollar für die Miete.
Bevor Shen Te das Geld der Hausbesitzerin Mi Tzü übergeben kann, taucht Suns Mutter auf. Ihr Sohn habe Aussicht auf eine Stelle als Flieger in Peking, berichtet Frau Yang, doch um sie zu bekommen, müsse er 500 Silberdollar Schmiergeld bezahlen. Spontan drückt Shen Te der Frau die 200 Silberdollar in die Hand, die sie gerade geliehen bekam.
Kurz darauf – Shen Te hat sich inzwischen wieder in Shui Ta verwandelt – taucht Sun in dem Tabakladen auf. 200 Silberdollar nützen ihm nichts. Aus Liebe ist Shen Te alias Shui Ta bereit, der Hausbesitzerin Mi Tzü das Inventar des Tabakladens zu verkaufen, um die fehlenden 300 Silberdollar für Sun zu beschaffen. Obwohl Shen Te 1000 Silberdollar für den Tabak bezahlte, wäre sie jetzt in der Rolle ihres Vetters mit 500 Silberdollar zufrieden: 200 für den Teppichhändler und weitere 300 für Sun. Sun, dem es gleich ist, ob die Alten ihr Geld zurückbekommen oder nicht, befürchtet, dass er Preis noch zu hoch sein könnte und sorgt dafür, dass der Tabakladen für 300 Silberdollar angeboten wird.
In ihrer Verkleidung begreift Shen Te, dass Sun sie nur auszunutzen versucht.
Aufgeregt kommt die Frau des Teppichhändlers gelaufen: Aus Sorge um das verliehene Geld sei ihr Mann krank geworden. Deshalb möchte sie die 200 Silberdollar zurückhaben.
Als Sun die Hochzeit arrangiert, glaubt Shen Te doch wieder an seine Liebe. Sie schlägt ihrem Bräutigam vor, dem Teppichhändler die 200 Silberdollar zurückzugeben und den Tabak nicht zu verkaufen. Weil sie die Miete für den Laden nicht bezahlen kann, will sie die Ware an einem Stand vor der Zementfabrik anbieten. Aber von einem Dasein als fliegender Händler will Sun nichts wissen. Shen Te ahnt nicht, dass er nur darauf wartet, dass ihr Vetter die fehlenden 300 Silberdollar zur Hochzeitsfeier mitbringt. Als Shui Ta nicht auftaucht und der Bonze, der die Trauung vollziehen sollte, keine Zeit mehr hat, noch länger zu warten, platzt die Eheschließung.
Der Barbier Shu Fu, der eine einzige Frau hat, die auch schon alt ist, umschwärmt Shen Te und stellt ihr schließlich einen Blankoscheck aus, damit sie ihre finanziellen Probleme regeln kann. Shen Te legt den Scheck beiseite, denn sie will das Geld nicht. Stattdessen packt sie ihre Sachen. Als Wang mit seiner inzwischen gelähmten Hand auftaucht, bereut Shen Te, nicht für ihn ausgesagt zu haben und überlässt ihm ihr letztes Hab und Gut, damit er sich mit dem Verkaufserlös einen Arztbesuch leisten kann.
Bevor sie den Tabakladen verlässt, stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Damit ihr Kind nicht im Elend aufwachsen muss, verkleidet sie sich erneut als Shui Ta. Der erklärt der Hausbesitzerin Mi Tzü, seine Cousine werde den Tabakladen nun doch weiterführen und präsentiert ihr einen Scheck des Barbiers Shu Fu über 10 000 Silberdollar als Beweis der Zahlungsfähigkeit.
Nachdem der Teppichhändler und seine Frau ihr Geld zurückbekommen haben, drängen sie Shen Te, einige Ballen offenbar unterschlagenen Rohtabaks für sie aufzubewahren.
Damit eröffnet Shui Ta in den von Shu Fu zur Verfügung gestellten Baracken eine Tabakfabrik: Wer in den Notunterkünften wohnen will, muss nun arbeiten. Frau Yang kommt mit ihrem Sohn zu Shui Ta und bittet ihn, die Anzeige wegen des gebrochenen Heiratsversprechens und der Erschleichung von 200 Silberdollar zurückzuziehen. Zurückzahlen kann Sun das Geld nicht, denn er hat es inzwischen verprasst. Um nicht ins Gefängnis zu müssen, erklärt er sich bereit, seine Schulden abzuarbeiten. Und im Lauf der Zeit bringt er es zum Stellvertreter des „Tabakkönigs“ Shui Ta.
Einmal droht die Polizei, man müsse die Fabrik schließen, denn man könne „allerhöchstens doppelt so viele Menschen pro Raum zulassen, als gesetzlich erlaubt sind“ (Seite 119f). Aber Shui Ta und Sun überwinden auch diese Schwierigkeit.
Wo ist Shen Te? Die Nachbarn werden argwöhnisch. Eines Tages hört Sun aus dem Nebenzimmer des Tabakladens ein Schluchzen. Daraufhin beschuldigt er seinen Chef bei der Polizei, Shen Te gefangen zu halten. Man findet zwar nicht die Vermisste, aber deren Kleider. Shui Ta wird daraufhin festgenommen, denn man verdächtigt ihn, seine Cousine ermordet zu haben.
Statt des von der Witwe Shin im Aufrag des Angeklagten mit einer fetten Gans bestochenen Richters Fu Yi Tscheng führen die drei Götter die Gerichtsverhandlung. Als Shen Te alias Shui Ta keinen Ausweg mehr sieht, legt sie die Verkleidung ab. Während Shen Te die Erleuchteten anfleht, die Lebensverhältnisse in Sezuan zu ändern, damit sie weiter gut sein kann, fahren die Götter auf einer rosaroten Wolke zum Himmel auf, wobei sie winken und singen: „Gepriesen sei, gepriesen sei / Der gute Mensch von Sezuan!“ (Seite 143)
Nachdem der Vorhang gefallen ist, tritt der Spielleiter auf und entschuldigt sich bei den Zuschauern:
Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
[…]
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
[…]
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss! (Seite 144)
Die Protagonistin Shen Te – der gute Mensch von Sezuan – droht an ihrer selbstlosen Nächstenliebe zu Grunde zu gehen, denn ihre Hilfsbereitschaft wird von ihren habgierigen und selbstsüchtigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern skrupellos ausgenutzt. Trotz ihrer guten Absichten bleibt Shen Te nichts anderes übrig, als sich immer wieder einmal in einen geschäftstüchtigen und durchsetzungsfähigen Vetter zu verwandeln, der sich nicht wie sie von Mitleid überwältigen lässt. Als sie ein Kind erwartet, verkleidet sie sich erneut und baut entschlossen ein Tabakimperium in Sezuan auf. Am Ende bleibt Shen Te innerlich zerrissen, ratlos und verzweifelt zurück. Die „Erleuchteten“ lassen sie allein, und sie muss ohne göttliche Hilfe auskommen.
Auf eindrucksvolle Weise demonstriert Bertolt Brecht in seinem Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“, dass die kapitalistischen Verhältnisse den Menschen daran hindern, gut zu sein, denn sonst muss er sich mit einem menschenunwürdigen Elend abfinden.
Das Ende lässt Bertolt Brecht bewusst offen, um die Zuschauer zu zwingen, sich selbst Gedanken darüber zu machen. Das gehört zu den Verfremdungseffekten des epischen Theaters ebenso wie kommentierende Songs und Darsteller, die sich während der Aufführung direkt ans Publikum wenden.
Bemerkenswert ist der Einsatz des bis dahin nur aus dem Kino bekannten Stilmittels der Rückblende im achten Aufzug („Shui Ta’s Tabakfabrik“ – Seite 111ff): Frau Yang wendet sich ans Publikum und erzählt, dass die ersten Wochen in der Tabakfabrik für ihren Sohn hart waren. „Erst in der dritten Woche kam ihm ein kleiner Vorfall zu Hilfe.“ (Seite 112) Dieser Vorfall wird nun szenisch dargestellt.
Das Stück behandelt […] die Selbstentfremdung des Menschen und ist in Form eines Arguments und dessen szenischer Untersuchung aufgebaut […]
Die Götter erscheinen freundlich, aber weltfremd […] Die Diskrepanz zwischen ihrem Gesang und dem Elend ihres einzigen guten Menschen ist […] krass […]
Die Handlung wird auf verschiedene Weise ständig diskutiert, nicht nur durch Songs und Adressen an das Publikum, sondern auch noch durch Zwischenspiele, in denen der Wasserverkäufer Wang mit den Göttern die inzwischen abgelaufenen Ereignisse bespricht. Das Lehrtheater Brechts […] hat hier eine außerordentlich differenzierte Stufe erreicht. Zwar dient die Handlung dem Argument und dem denkerisch durchgeführten Beweis, aber sie bleibt zugleich blutvolles, lebendiges Theater. Die Sprache ist nicht mehr hämmernd und trocken, sondern von einer zum Teil ausgesprochen lyrischen Schönheit. (Marianne Kesting: Brecht. Rowohlt Bildmonographie, Reinbek 1959, Seite 95f)
„Der gute Mensch von Sezuan“ wurde am 4. Februar 1943 in Zürich uraufgeführt.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp
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