Bertolt Brecht : Leben des Galilei

Leben des Galilei
Uraufführungen der 3 Fassungen: Zürich 1943, Los Angeles 1947, Berlin 1957 Buchausgabe: Suhrkamp Verlag
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Galileo Galilei (1564 bis 1642) hält mehr von experimentellen Beobachtungen als von Dogmen. Dadurch gerät er mit der kirchlichen Lehre in Konflikt. Als er gegen das Schweigegebot der Inquisition verstößt, läuft er Gefahr, als Ketzer verbrannt zu werden. Angesichts der Folterwerkzeuge widerruft Galilei seine Erkenntnisse.
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Kritik

Bertolt Brecht zeichnet Galileo Galilei als widersprüchlichen Charakter, als einen Idealisten und Opportunisten gleichermaßen. Am Beispiel dieser dramatischen Biografie stellt Brecht die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaftlern.
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Das Theaterstück beginnt 1609 in Padua, wo der berühmte Physiker Galileo Galilei (1564 bis 1642) seit 1592 als Universitätsprofessor wirkt. Obwohl die Macht der Kirche in der Republik von Venedig, zu der Padua gehört, im Vergleich zu anderen Stadtstaaten beschränkt ist, wäre es für einen Wissenschaftler nicht ungefährlich, mit der kirchlichen Lehre in Konflikt zu geraten. Vor wenigen Jahren, am 17. Februar 1600, wurde Giordano Bruno (1548 – 1600) als Ketzer verbrannt, weil er nicht an das geozentrische System glauben wollte! Galilei muss sich vorsehen, hält er doch mehr von experimentellen Beobachtungen als von Dogmen.

Den elfjährigen Sohn seiner Haushälterin, dem er seine wichtigsten Erkenntnisse erklärt, warnt Galilei davor, anderen Leuten etwas von diesen „Ideen“ zu verraten, weil sie von der Obrigkeit verboten sind. Andrea Sarti wundert sich: „Aber es ist doch die Wahrheit.“

Paradigmenwechsel gibt es nicht nur im wissenschaftlichen Bereich. Galilei meint, „dass es mit den Schiffen anfing. Seit Menschengedenken waren sie nur an den Küsten entlang gekrochen, aber plötzlich ließen sie die Küsten und liefen aus über alle Meere.“

In der Republik Venedig ist Galilei zwar sicherer als anderswo, aber die Bezahlung ist schlecht, und er hat nicht genügend Geld für den Milchmann. Dabei ist der Hausherr nicht nur ein lustvoller Forscher, sondern er schätzt auch gutes Essen und guten Wein. Um mehr Geld zu bekommen, verkauft Galilei der Republik Venedig ein Instrument, an der er angeblich jahrelang gearbeitet hat: ein Fernrohr. (Tatsächlich sind aus Holland importierte Fernrohre längst an jeder Straßenecke billig zu haben, und Galilei hat die Konstruktion nur verbessert, aber das merken die Regierungsvertreter erst später.) Der Rummel bei der Vorstellung des Fernrohrs ist Galilei zuwider, aber er reißt sich zusammen, weil die hohen Herren ein Geschäft wittern und ihm deshalb eine Gehaltserhöhung bewilligen, auf die er angewiesen ist.

Durch sein Fernrohr beobachtet Galilei im Januar 1610, dass die Mondoberfläche uneben ist und ebensowenig selbst leuchtet wie die der Erde. Mehrmals richtet er das Fernrohr auf den Jupiter, und dabei fällt ihm eines Nachts auf, dass einer der vier kleinen „Sterne“ in dessen Nähe verschwunden ist. Er zieht die alten Sterntafeln zu Rate und kann sich die Beobachtung nur dadurch erklären, dass der Jupiter die Sicht verstellt, der „Stern“ sich also hinter dem Planeten befindet. Das widerspricht der Lehre des Aristoteles, die auch von der Kirche in Rom vertreten wird: In diesem Weltbild ruht die Erdkugel fest im Zentrum des Alls und ist von rotierenden konzentrischen Kristallschalen mit aufgeklebten Himmelskörpern umgeben. Hatte Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) Recht, als er behauptete, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde die Sonne umrundet?!

In einem kriecherischen Brief an den neunjährigen Großherzog von Florenz, Cosmo de Medici, bewirbt sich Galilei um die Stelle eines Hofmathematikers. Ein Freund warnt ihn vor der Toskana, weil dort der Einfluss der Kirche stärker ist, aber der Physiker will endlich ohne finanzielle Sorgen leben. 1610 zieht er von Padua nach Florenz.

Begleitet von Hofbeamten sowie einem Mathematiker und einem Philosophen, kommt Cosmo de Medici zu Galilei, um sich dessen Fernrohr vorführen und die neuen Erkenntnisse erklären zu lassen. Während seine Entourage noch auf Galilei wartet, geht der Großherzog in das Studierzimmer voraus und trifft dort auf Andrea. Die beiden Jungen geraten in Streit, raufen, und dabei zerbricht das geozentrische Weltmodell. (Das heliozentrische versteckt Galilei nach dem Eintreten unbemerkt.) Der Physiker lädt seine Besucher ein, durch das Fernrohr zu schauen, aber der Hofphilosoph und der Hofmathematiker wollen erst einmal einen Disput mit ihm führen. Galilei ist dazu gern bereit, aber er hat sich das anders vorgestellt: „Ich dachte mir, Sie schauen einfach durch das Fernrohr und überzeugen sich?“ Darauf lassen sich die Kollegen nicht ein; sie beweisen, dass es aufgrund der verbindlichen Lehre keine Jupitermonde geben könne und lehnen es ab, einen Blick durch das Fernrohr zu werfen. Es war, wie es ein Freund Galileis einmal sarkastisch beschrieb:

„Man muss … nicht wissen, wie der Stein fällt, sondern was der Aristoteles darüber schreibt. Die Augen hat man nur zum Lesen.“

Trotz des Misserfolgs gibt Galilei nicht auf:

„Ich glaube an den Menschen, und das heißt, ich glaube an seine Vernunft! … Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle. Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse.“

Sogar als die Pest in Florenz wütet, will Galilei seine Forschungen nicht unterbrechen und lehnt es deshalb ab, die Stadt mit der vom Großherzog zur Verfügung gestellten Kutsche zu verlassen. Nur seine Tochter Virginia, Frau Sarti und deren Sohn Andrea schickt er fort. (Doch Frau Sartri bleibt im letzten Augenblick ebenfalls zurück, und Andrea springt unterwegs ab.)

Während sich das Collegium Romanum, das Forschungsinstut des Vatikans, 1616 mit Galileis Lehre befasst, machen sich die in einem Saal auf das Ergebnis wartenden Prälaten darüber lustig.

„Nur das Vernünftige wird nicht geglaubt. Dass es einen Teufel gibt, das wird bezweifelt. Aber dass die Erde sich dreht wie ein Schusser in der Gosse, das wird geglaubt. Sancta simplicitas!“

Kardinal Barberini spottet über Galilei:

„Es ist entsetzlich mit ihm. Er will in aller Unschuld Gott die dicksten Schnitzer in der Astronomie nachweisen! Wie, Gott hat nicht sorgfältig genug Astronomie studiert, bevor er die Heilige Schrift verfasste?“

Ein sehr alter Kardinal versteht nicht, warum es so lange dauert, Galileis Anschauungen zu verwerfen:

„Ich höre, dieser Herr Galilei versetzt den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls irgendwohin an den Rand. Er ist folglich ein Feind des Menschengeschlechts! Als solcher muss er behandelt werden. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, das weiß jedes Kind, Gottes höchstes und geliebtestes Geschöpf. Wie könnte er es, ein solches Wunderwerk, eine solche Anstrengung, auf ein kleines, abseitiges und immerfort weglaufendes Gestirnlein setzen? Würde er so wohin seinen Sohn schicken? Wie kann es Leute geben, so pervers, dass sie diesen Sklaven ihrer Rechentafeln Glauben schenken! Welches Geschöpf Gottes wird sich so etwas gefallen lassen?“

Obwohl das Collegium Romanum Galileis Entdeckungen bestätigt, bezeichnet das Heilige Offizium die Lehre von Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei am 5. März 1616 als „töricht, absurd und ketzerisch im Glauben“. Galilei begreift nicht, wieso seine Anschauungen auf den Index gesetzt werden, und verweist auf die Untersuchungsergebnisse des vatikanischen Forschungsinstituts. Aber Kardinal Bellarmin erklärt ihm, die Inquisitionsbehörde habe ihren Beschluss gefasst, ohne „diese Einzelheiten“ zur Kenntnis zu nehmen.

Acht Jahre lang hält sich Galilei an das kirchliche Verbot. 1623 stirbt Papst Gregor XV. Da es sich bei dessen Nachfolger Urban VIII. um einen Mathematiker handelt, schöpft Galilei neue Hoffnung und beginnt unverzüglich, sich mit den Sonnenflecken zu beschäftigen, um zu beweisen, dass sich die Sonne dreht.

Ludovico Marsili, ein reicher junger Mann, der mit Galileis Tochter Virginia verlobt ist, wird Zeuge, wie Galilei trotz des kirchlichen Verdikts einen Spiegel für die Beobachtung der Sonne vorbereitet. Er befürchtet, dass dieser „frivole Angriff auf die heiligen Doktrinen der Kirche“ ungesühnt bleiben könnte. Wenn das aber die Feldarbeiter auf seinem Gut in der Campagna erführen, würden sie womöglich darüber schwatzen, statt zu arbeiten. Marsili löst die Verlobung und geht. Als Viriginia im Brautkleid hereinkommt und erfährt, was geschehen ist, fällt sie in Ohnmacht. Die Assistenten ihres Vaters eilen ihr zu Hilfe, während dieser sich um die Justierung des Spiegels kümmert und darauf brennt, seine Forschungen wieder aufzunehmen.

Mit Einverständnis der Zensur erscheint 1632 Galileis „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme“, doch als der Papst merkt, dass die Öffentlichkeit das Buch als überzeugende Beweisführung für die kopernikanische Lehre auffasst, lässt er Galilei 1633 in Florenz verhaften und nach Rom bringen.

Der Papst diskutiert mit dem Inquisitor. Er wolle „die Rechentafel nicht zerbrechen“ sagt er. Aber der Inquisitor entgegnet, dass es nicht um Rechentafeln gehe, sondern um den „Geist der Auflehnung und des Zweifels“.

„Eine entsetzliche Unruhe ist in die Welt gekommen. Es ist die Unruhe ihres eigenen Gehirns, die diese auf die unbewegliche Erde übertragen.“

Während der Debatte wird der Papst Stück für Stück mit dem offiziellen Ornat bekleidet. Parallel dazu passt er seine Einstellung immer mehr der des Inquisitors an.

Am 22. Juni 1633, nach mehr als drei Wochen im Kerker, unterwirft sich Galilei der Kirche. In den Straßen verlesen Ansager seinen Widerruf:

„Ich, Galileo Galilei, Lehrer der Mathematik und der Physik in Florenz, schwöre ab, was ich gelehrt habe, dass die Sonne das Zentrum der Welt ist und an ihrem Ort unbeweglich, und die Erde ist nicht Zentrum und nicht unbeweglich. Ich schwöre ab, vewünsche und verfluche mit redlichem Herzen und nicht erheucheltem Glauben alle diese Irrtümer und Ketzereien sowie überhaupt jeden anderen Irrtum und jede andere Meinung, welche der Heiligen Kirche entgegen ist.“

Galileis Assistenten sind entsetzt. Sie haben die Worte ihres Idols noch im Ohr:

„Ich sage Ihnen: Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“

Von 1633 bis zu seinem Tod lebt Galilei als Gefangener der Inquisition in einem Landhaus außerhalb von Florenz, wo Virginia für sein leibliches Wohl sorgt.

1637 kommt Andrea Sarti vorbei. Der junge Wissenschaftler ist auf dem Weg nach Holland, wo die Forschung weniger eingeschränkt wird. Galilei erzählt ihm, dass seine Bewacher ihn zwar nicht am Schreiben hindern, aber jede Seite sofort wegnehmen. Heimlich habe er jedoch eine Kopie seines Hauptwerks „Discorsi“ angefertigt – die Andrea nun über die Grenze schmuggeln soll. Der meint begeistert, sein ehemaliger Lehrer habe doch nicht aus Feigheit widerrufen, sondern um dieses wichtige wissenschaftliche Werk vollenden zu können. Aber Galilei gesteht, dass er keinen Plan verfolgt habe: „Ich habe widerrufen, weil ich den körperlichen Schmerz fürchtete.“

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Bertolt Brecht zeichnet Galilei nicht als weltabgewandten Intellektuellen, sondern als einen Genießer, der sich über wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso freut wie über guten Wein. Um seine Tochter und die anderen Menschen in seiner Umgebung macht er sich kaum Gedanken, aber er nimmt auch auf sich selbst keine Rücksicht, etwa als er während der Pestepidemie in Florenz bleibt, um seine Forschungen nicht unterbrechen zu müssen. Einerseits ist er ein Idealist, der alles für die Wissenschaft opfert, andererseits scheut er nicht vor einem Betrug oder einem kriecherischen Brief zurück. Als Opportunist erweist er sich auch, als er angesichts der Folterwerkzeuge seine Erkenntnisse widerruft.

Die erste Fassung schrieb Bertolt Brecht 1938/39 im dänischen Exil (Uraufführung: Zürich 1943). Während er noch in den USA an seiner zweiten Fassung arbeitete (1944/45; Uraufführung Los Angeles 1947), zündeten die Amerikaner Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Dadurch bekam Brechts Frage nach der Verantwortung der Wissenschaftler – um die sich das Schauspiel dreht – eine neue Dimension. Das gilt auch für die letzte Fassung aus den Jahren 1953 bis 1956 (Uraufführung: Berlin 1957).

Der aristotelischen Tragödie stellte Bertolt Brecht das „epische Theater“ entgegen. Da verhindern Verfremdungseffekte die Illusion; der Zuschauer soll nicht mit einer Bühnenfigur mitfühlen, sondern über ein gesellschaftliches Problem nachdenken. Das Stück „Leben des Galilei“ ist dafür kein Musterbeispiel, aber es gilt als eines der bedeutendsten Werke Bertolt Brechts.

Der Komponist und Librettist Michael Jarrell extrahierte aus Brechts Theaterstück „Leben des Galilei“ zwölf Szenen und machte daraus die zweistündige Oper „Galilée“, die Anfang 2006 im Grand Théâtre de Genève uraufgeführt wurde.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002/2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Filip