Julia Deck : Winterdreieck

Winterdreieck
Originalausgabe: Le triangle d'hiver Les Éditions de Minuit, Paris 2014 Winterdreieck Übersetzung: Antje Peter Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016 ISBN: 978-3-8031-3276-5, 139 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine mittellose junge Frau hält es für zu anstrengend, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Stattdessen schlüpft sie in eine neue Identität, gibt sich als Schriftstellerin aus und lässt sich von einem Schiffsinspektor aushalten, dessen Namen wir ebenso wenig wie ihren erfahren. Als er genug von ihr hat, kann er sie kaum noch abschütteln ...
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Kritik

Julia Decks Sprache in "Winterdreieck" klingt nüchtern, irritiert jedoch durch den Wechsel der grammatischen Personen und Zeiten. Diese Unbestimmtheit spiegelt die Rätselhaftigkeit der möglicherweise psychisch kranken Hauptfigur.
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Eine junge Frau, deren Namen wir nicht erfahren, sitzt der Arbeitsvermittlerin Solange Pingeot in Le Havre gegenüber, aber statt zuzuhören, hängt sie ihren Tagträumen nach und stellt sich vor, wie es wäre, Schriftstellerin zu sein. Ihre Anstellung als Verkäuferin verlor sie, weil sie ihren Chef, M. Baridou, im Streit um ihre Urlaubswünsche mit einem eingeschalteten Rührstab bedroht hatte. Solange Pingeot gibt schließlich auf, ruft ihren Vorgesetzten, M. Geulincx, und der beendet die Vermittlungsbemühungen für die unmotivierte junge Frau, die sich an den Film „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ von Éric Rohmer erinnert, in dem Arielle Dombasle die Rolle der Schriftstellerin Bérénice Beaurivage spielt.

Bérénice Beaurivage. Ich drehe ihn, ich wende ihn und finde nichts daran auszusetzen. Ja, dieser Name würde perfekt zu mir passen, denkt sie und dreht sich zum Fenster hin, das eine trist wirkende Straßenansicht einrahmt.

Bérénice, so lautet auch der Titel einer Tragödie von Jean Racine. Die junge Frau, die seit einiger Zeit ihre Post nicht mehr öffnet, weil sie ohnehin nur Rechnungen und Mahnungen bekommt, nennt sich also nun Bérénice Beaurivage. Anfang Dezember lässt sie sich von einem Schiffssteward namens Steven abschleppen. Um 2.36 Uhr nachts steht sie auf, zieht sich an, stiehlt ihm 300 Euro aus der Brieftasche und verschwindet.

Von dem Geld kauft sie sich eine Bahnfahrkarte nach Saint-Nazaire, wo sie sich ein einfaches Hotelzimmer nimmt und auf dem Heizkörper im Bad Ravioli in der Dose wärmt.

Sie könnte sich natürlich einen Job suchen, brav auf ihr erstes Gehalt warten, dann eine kleine Wohnung mieten und ein neues Leben beginnen. Aber das geht alles zu langsam und ist zu anstrengend.

Um sich attraktiv anziehen zu können, beschafft sie sich ein paar für H&M angelieferte Klamotten gegen schnellen Sex mit dem Lagerchef.

Sie trifft einen Mann wieder, mit dem sie versehentlich zusammengestoßen war, als sie sich zum Aufwärmen ohne Eintrittskarte in ein Museum geschlichen hatte. Er ist Schiffsinspektor und vorübergehend auf der Werft in Saint-Nazaire beschäftigt, wo gerade das Passagierschiff „Sirius“ fertiggestellt wird. Sie gibt sich als Bérénice Beaurivage aus und behauptet, nach Saint-Nazaire gekommen zu sein, um an einem Roman zu arbeiten. Als Schriftstellerin verwende sie allerdings ein Pseudonym, das sie nicht verraten wolle. Anders als der Schiffsinspektor misstraut die seit langem mit ihm befreundete Journalistin Blandine Lenoir der jungen Frau von Anfang an.

Er wundert sich allerdings darüber, dass seine neue Eroberung noch nichts von einer der Sehenswürdigkeiten Saint-Nazaires gehört hat: dem riesigen U-Boot-Bunker, den die Nationalsozialisten bauten. Er nimmt sie mit dorthin. Obwohl eine Gruppe junger Männer in der Nähe ist, lässt sie ihren Mantel zu Boden gleiten, wirft die Strumpfhose ebenso wie den Slip weg und zieht das Kleid hoch. Während er in sie eindringt, zerkratzt sie sich den Rücken am Beton.

Er findet, dass sie wie Arielle Dombasle in Éric Rohmers Film „Pauline am Strand“ aussieht.

Sie zieht zu ihm ins Hotel. Nach einem weiteren Besuch im H&M-Lager quellen ihre Kleidungsstücke aus seinem Wandschrank. Wenn der Ingenieur einen Ausflug mit ihr unternimmt und sie in ein Sterne-Restaurant einlädt, tut sie so, als sei sie es gewohnt, Austern zu essen, verwechselt aber Bezeichnungen. Seine Fragen über ihren Roman beantwortet sie nicht. Dass sie weder Smartphone noch Laptop besitzt, erklärt sie, indem sie behauptet, sie habe sich bewusst für das Schreiben mit der Hand entschieden und versuche, ohne digitale Geräte auszukommen.

Bald hat der Schiffsinspektor genug von der verschlossenen jungen Schriftstellerin. Sie begreift, dass er vor ihr andere Frauen hatte und nach ihr wieder welche haben wird. Sobald die „Sirius“ fertiggestellt sei, erklärt er, werde auch er Saint-Nazaire verlassen und in Marseille den nächsten Auftrag übernehmen. Kurz entschlossen behauptet sie, zufällig ebenfalls nach Marseille zu wollen, weil sie die Großstadt für neue Inspirationen benötige.

Notgedrungen nimmt er sie Anfang Januar mit nach Marseille. Als er sie nicht länger erträgt, schickt er sie allein ins Hotel zurück, verspricht, für drei weitere Tage zu bezahlen und nimmt sich ein anderes Quartier. Am nächsten Tag holt er sie unerwartet ab und geht mit ihr zu einem Imbiss. Er habe im Internet und in einer Buchhandlung nachgeforscht, sagt er. Eine Schriftstellerin mit dem Namen Bérénice Beaurivage gebe es nur in einem Film von Éric Rohmer. Inzwischen weiß er auch, dass das Heft, in dem sie angeblich an einem Roman-Manuskript arbeitet, nur sinnlose Kritzeleien enthält. Zurück im Hotel, bietet er ihr an, sie zum Bahnhof zu bringen, und als sie nicht darauf eingeht, erklärt er sich bereit, sie mit dem Auto nach Paris zu fahren. Da erhebt sie sich nackt aus dem Bett, um sich anzuziehen. Er stößt sie zurück, doch als sie regungslos auf die Duschkabine starrt, lässt er von ihr ab.

In Paris nimmt er sie zwar in seinem Apartment auf, spricht aber kein Wort mit ihr und lässt sie nur auf einer Couch schlafen. Sie ernährt sich aus dem von seiner Haushälterin immer wieder aufgefüllten Kühlschrank, und wenn ihr das Geld ausgeht, nimmt sie heimlich ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie.

Ich bleibe ganz ruhig, atme so leise wie möglich und hoffe, dass er vergisst, mich rauszuwerfen.

Einmal bringt er eine Zufallsbekanntschaft mit, und die beiden treiben es lautstark – bis die Frau merkt, dass sie nicht nur zu zweit in der Wohnung sind.

Ich war gerade dabei, den Reißverschluss meines Anoraks hochzuziehen, als die Frau im Flur erschien und sagte, dass es wohl besser sei, wenn sie ginge, die Situation sei offensichtlich nicht so, wie sie es erhofft habe.

Im Februar erklärt der Schiffsinspektor seiner ungewollten Lebensgefährtin unmissverständlich, dass es so nicht weitergehen könne. Er hat einen Termin bei der Arbeitsvermittlung für sie und bietet ihr an, während eines Praktikums für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Als er dann feststellt, dass sie den Termin ungenutzt verstreichen ließ, vereinbart er einen Termin mit einem Neurologen, aber auch daraus wird nichts.

Auf der „Sirius“ bricht während der Jungfernfahrt von Saint-Nazaire nach Marseille Feuer aus.

Der Schiffsinspektor bringt der jungen Frau eine DVD des Films „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ von Éric Rohmer mit.

Eines Tages überrascht sie ihn im Museum. Er fühlt sich von ihr verfolgt wie von einer Stalkerin, aber sie beteuert, es handele sich um einen Zufall.

Als sie in sein Apartment kommt, ist Blandine Lenoir bei ihm.

Schließlich bringt er die junge Frau in Paris zum Zug und gibt ihr 2000 Euro mit. Ihren Koffer, den er ihr in den Waggon hebt, beachtet sie nicht weiter, und in Le Havre geht sie ohne Gepäck in ein Hotel.

Sie erhält einen Vertrag von einer Zeitarbeitsfirma. Als Erstes wird sie als Vertretung in einer für Hafenarbeiter-Wohnheime zuständigen Putzkolonne eingesetzt. Weil ihre Chefin, Mme Baridou, zufrieden mit ihr ist, weist sie ihr eine anspruchsvollere Tätigkeit an der Kasse eines Supermarkts zu, und auch da bewährt sich die junge Frau.

Eines Tages sieht sie im Hafen das Passagierschiff „Procyon“, und ein Herr erklärt ihr, dabei handele es sich um das Zwillingsschiff der vor zwei oder drei Monaten vor Marseille ausgebrannten „Sirius“.

Nach ein paar Monaten bewirkt Langeweile, dass die junge Frau ihren Chef provoziert.

Ein paar Wochen später kommt es dennoch zu einem Zusammenstoß mit dem Abteilungsleiter. Die ewige Wiederholung der austauschbaren Vormittage liefert den Anlass für den Konflikt. Man langweilt sich, daher sucht man Streit, und dafür ist der Leiter der Abteilung gerade recht. Und so vergreift man sich immer öfter im Ton, bis es eines Tages zu einer Handgreiflichkeit kommt und man kurzerhand vor die Tür gesetzt wird.

Die Arbeitsvermittlerin Solange Pingeot bemüht sich, eine neue Anstellung für sie zu finden. Die junge Frau nimmt erst einmal an einem Praktikum mit dem Titel „Strategien zum Wiedereinstieg in die Arbeitswelt“ teil.

Sie leiht sich einen Film von Éric Rohmer aus.

Eine der Schauspielerinnen hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit ihr, und der Name der Person, die sie spielte, das eigenartige Zusammenspiel der Silben, hatte sie derart fasziniert, dass sie sich fragte, wie wohl das Leben der Person sein mochte, die so hieß. Ob es sich lohnen würde, ihn anzunehmen. Ja, sie würde gern in jeder Hinsicht die Person werden, die in dem Film von Éric Rohmer von der Schauspielerin Clémentine Amouroux dargestellt wird. Blandine Lenoir. Der Name würde perfekt zu mir passen.

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Im Mittelpunkt des Romans „Winterdreieck“ von Julia Deck steht eine mittel- und arbeitslose junge Frau, deren Namen wir nicht erfahren. Auch von ihrer Vergangenheit erzählt Julia Deck nichts. Einem schemenhaft bleibenden Schiffsinspektor täuscht die Protagonistin vor, Schriftstellerin zu sein und Bérénice Beaurivage zu heißen, aber den Namen hat sie aus einem Film von Éric Rohmer übernommen. Die Protagonistin bleibt für uns kaum weniger rätselhaft als für den Schiffsinspektor.

„Winterdreieck“ beginnt im Dezember 20xx und endet ein Jahr später. Mit Ausnahme des letzten Kapitels, das mit „Le Havre (Februar – Dezember)“ überschrieben ist, dauert die erzählte Zeit in den einzelnen, an wechselnden Orten spielenden Abschnitten jeweils nur wenige Wochen. Zu Beginn des Romans und am Ende sitzt die junge Frau teilnahmslos der Arbeitsvermittlerin Solange Pingeot gegenüber. Baridou lautet eingangs der Name ihres letzten Chefs. Seine Ehefrau leitet eine Zeitarbeitsfirma, von der auf den letzten Seiten des Buchs die Rede ist. Dazu kommt, dass die Protagonistin am Schluss den Namen einer Filmfigur annimmt, die so heißt, wie eine langjährige Freundin der männlichen Hauptfigur in „Winterdreieck“. Diese Konstellationen evozieren den Eindruck einer absurden Endlosschleife.

Der Romantitel „Winterdreieck“ legt es nahe, nach Dreiecken zu suchen. Eines wird von den Figuren der Protagonistin, des Schiffsinspektors und der Journalistin Blandine Lenoir gebildet. Verbindet man die Schauplätze Le Havre, Saint-Nazaire, Marseille und Paris auf der Landkarte mit Geraden, ergibt sich zwar ein Viereck, beschränkt man sich jedoch auf die Hafenstädte, bleibt ein Dreieck über. Zwei Passagierschiffe tragen die Namen „Sirius“ und „Prokyon“ wie die beiden hellen Doppelsterne, die mit dem Roten Riesen Beteigeuze zusammen ein im Winter auf der nördlichen Hemisphäre sichtbares gleichseitiges Dreieck bilden, und genau das wird als „Winterdreieck“ bezeichnet.

Die Sprache klingt nüchtern, irritiert jedoch ebenso wie die Handlung, denn Julia Deck hält sich nicht an herkömmliche Regeln. Das beginnt damit, dass sie die direkte Rede nicht durch Anführungszeichen kennzeichnet.

Dann sagt sie Seit vorhin machst du nichts anderes, als auf dein Telefon zu starren, und ich langweile mich. […] Dann murmelt er Tut mir leid, es ist wegen der Arbeit, ein Artikel, den man mir gerade geschickt hat. Wer man?, fragt sie munterer weiter […]

Verwirrender ist der Wechsel sowohl zwischen den grammatischen Personen als auch zwischen Präsens und Präteritum.

Sie sind, sagen wir, um die dreißig. […]
Für Ihre Umgebung gibt es keinen Grund zu zweifeln: Sie sind die Romanschriftstellerin Beaurivage, die an diesem Hafen am Ende der Welt zu Besuch ist, wo sie Inspiration zu finden hofft. […]
Bérénice hat ihr Hotel gegen das des Inspektors eingetauscht, eins von der besseren Sorte, in dem er ein erstklassiges Zimmer bewohnt.

Die Protagonistin, die in diesem Beispiel zunächst in der 2. Person angesprochen wird, von der dann in der 3. Person die Rede ist, tritt zwischendurch auch als Ich-Erzählerin auf. Diese sprachliche Unbestimmtheit spiegelt die Rätselhaftigkeit der Hauptfigur. Dass es sich bei der Protagonistin um eine Psychopathin handeln könnte, ist schon deshalb naheliegend, weil Julia Deck auch in ihrem Roman „Viviane Élisabeth Fauville“ die psychische Erkrankung einer Frau veranschaulicht.

Jedenfalls ist „Winterdreieck“ ein nicht vollständig erklärbarer und gerade deshalb reizvoller Roman auf hohem literarischen Niveau.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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