Per Olov Enquist : Der Besuch des Leibarztes

Der Besuch des Leibarztes
Originalausgabe: Livläkarens Besök Norstedts, Stockholm 1999 Der Besuch des Leibarztes Übersetzung: Wolfgang Butt Carl Hanser Verlag, München / Wien 2001 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-596-50892-4, 374 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1768 wird Johann Friedrich Struensee als Leibarzt des 19-jährigen Königs von Dänemark und Norwegen angestellt. Christian VII. überlässt seinem Leibarzt nicht nur die Königin Caroline Mathilde, sondern auch die Macht. Mit 633 Dekreten verwirklicht Struensee Ideen der Aufklärung – bis ihn der Emporkömmling Ove Høegh-Guldberg 1772 vernichtet und selbst die Macht an sich reißt.
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Kritik

Per Olov Enquist arbeitet die psychologischen Dimensionen der Konflikte ungemein lebendig heraus. Dabei bewegt er sich mit "Der Besuch des Leibarztes" stilistisch zwischen Sachbuch-Biografie, Reportage und Roman.
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Am 5. April 1768 wurde Johann Friedrich Struensee als Leibarzt des dänischen Königs Christian VII. angestellt und vier Jahre später hingerichtet. (Seite 9)

Mit diesem Satz beginnt Per Olov Enquist seinen Roman „Der Besuch des Leibarztes“.

Kronprinz Christian

Christian VII. wurde am 29. Januar 1749 in Kopenhagen geboren. Als er zwei Jahre alt war, starb seine Mutter, Louise von England. Sein Vater, König Friedrich V. von Dänemark und Norwegen, vertraute die Erziehung Christians dem rechtschaffenen Grafen Ditlev Reventlow an, der den Jungen einschüchterte, um ihn gefügig zu machen. Wenn Graf Reventlow merkte, dass der Unterricht des Schweizer Privatlehrers François Èlie Salomon Reverdil in ein Gespräch überging, schritt er ein, ließ den Schüler die Lektion von vorn beginnen, versetzte ihm Faustschläge, wenn er ein Detail ausließ und rief nach dem Stock, um ihn zu züchtigen. Hilflos sah Reverdil zu, wie der Junge dadurch völlig verwirrt und verängstigt wurde.

Christian nahm schon früh an, man habe ihn verwechselt und er sei in Wirklichkeit ein Bauernsohn. Nachdem er im Alter von fünf Jahren die Aufführung einer italienischen Wanderkomödiantengruppe erlebt hatte, glaubte er, verstanden zu haben, dass es sich beim Hofleben um ein Theaterstück handelte und es seine Aufgabe war, eine Rolle darin zu spielen.

König Friedrich V. von Dänemark und Norwegen starb am 14. Januar 1766. Unmittelbar zuvor hatte er nach dem Kronprinzen verlangt und Christian aufgefordert, näher ans Sterbebett zu treten: „Ich will ihn segnen … zum Teufel … den kleinen … den kleinen Wicht!“ (Seite 31)

König Christian VII.

Am 18. Januar 1765 teilte der dänische Außenminister Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff (1712 – 1772) seinem knapp sechzehnjährigen König mit, man habe sich nach zwei Jahren Verhandlung mit der englischen Regierung darauf verständigt, ihn mit der drei Jahre jüngeren Prinzessin Caroline Mathilde zu vermählen. „Soll ich zu diesem Zweck besondere Worte oder Sätze auswendig lernen?“, fragte Christian VII. daraufhin.

Caroline Mathilde, die jüngste Schwester König Georgs III. (1738 – 1820) von England, wurde am 22. Juli 1751 in London geboren. Im Oktober 1766 reiste Caroline Mathilde nach Rotterdam und weiter nach Altona, wo sie von ihrem Gefolge Abschied nehmen musste. Eine dänische Abordnung brachte sie nach Roskilde, wo sie am 3. November ihren Bräutigam zum ersten Mal sah. Während der ganzen Reise hatte Caroline Mathilde geweint, denn sie wusste, welche Aufgabe man ihr zugedacht hatte: Wie eine Zuchtstute sollte sie von dem kleinwüchsigen, geistesgestörten dänischen König gedeckt werden und einen Thronfolger gebären. – Die Trauung fand am 8. November 1766 in der Schlosskirche in Kopenhagen statt.

Danach ging König Christian VII. seiner Frau möglichst aus dem Weg. Erst nach einigen Monaten konnte ihn François Reverdil überreden, die Ehe zu vollziehen. Neun Monate später, am 28. Januar 1768, wurde Caroline Mathilde von einem Jungen entbunden: Friedrich VI. (1768 – 1839).

Einmal wollte Christian seiner Frau den Hals küssen, wurde jedoch von ihr im Beisein der Oberhofmeisterin Frau von Plessen wie ein ungezogenes Kind zurechtgewissen. Daraufhin schickte der König die Hofdame seiner Frau nach Celle. Später bereute er den Schritt und bestrafte sich selbst dafür, indem er seinen geliebten Lehrer François Reverdil des Landes verwies.

Um König Christian VII. aufzuheitern, brachte ihn der Theaterdirektor Enevold Brandt – der spätere Maître de plaisir – am 4. Mai 1767 mit Anna Catherine Beuthaken („Stiefel-Caterine“) zusammen. Die vierundzwanzigjährige Prostituierte näherte sich dem König mit viel Einfühlungsvermögen. Das gefiel ihm, und er traf sich von da an regelmäßig mit der Stiefel-Caterine. Christians Stiefmutter, der Königinwitwe Juliane Marie, missfiel das Verhältnis allerdings, und sie beauftragte deshalb Ove Høegh-Guldberg, die Hure fortzuschaffen. Vier Polizisten nahmen die junge Frau am 5. Januar 1768 in ihrer Wohnung fest, und man deportierte sie nach Hamburg.

Ove Høegh-Guldberg (1731 – 1808), der Sohn eines Leichenbestatters aus Horsens, hatte es im Alter von dreißig Jahren zum Professor an der Akademie Sorø gebracht. Von seiner Abhandlung über „Das verlorene Paradies“ von John Milton (1608 – 1674) war die Königinwitwe so beeindruckt, dass sie ihn als Privatlehrer ihres debilen Sohnes Friedrich – Christians Halbbruder – an den Hof in Kopenhagen geholt hatte.

Johann Friedrich Struensee

Auf der Suche nach der Stiefel-Caterine begab König Christian VII. sich am 6. Mai 1768 auf eine Bildungsreise durch Europa. Auf Empfehlung von Graf Rantzau stieß in Altona der auf Pockenimpfungen spezialisierte deutsche Arzt Johann Friedrich Struensee zu der Reisegesellschaft und wurde als Leibarzt des Königs eingestellt. (Dessen Großvater – Johann Samuel Carl Struensee – war bereits 1732 bis 1742 Leibarzt des dänischen Königs Christian IV. gewesen.)

Johann Friedrich Struensee wurde am 5. August 1737 in Halle als Sohn des pietistischen Pastors und späteren Theologieprofessors Adam Struensee geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren begann er, an der Universität Halle Medizin zu studieren. Fünf Jahre später zog er nach Altona und eröffnete dort eine Praxis als Stadtphysikus und Armenarzt. Im Gegensatz zu seinem Vater wurde Johann Friedrich Struensee Atheist und schloss sich den Gedanken der Aufklärung an.

Christians Reise führte von Altona über Celle, Darmstadt und Straßburg nach Paris. Dort traf er am 20. November 1768 bei Carl Heinrich Gleichen, dem dänischen Gesandten, mit den Enzyklopädisten Jean le Rond d’Alembert, Denis Diderot, Claude Adrien Helvétius und Jean-François Marmontel zusammen. In London besuchte Christian VII. seinen Schwager, König Georg III. Erst nach acht Monaten, am 14. Januar 1769 kehrte er nach Kopenhagen zurück.

Johann Friedrich Struensee gewann das Vertrauen Christians VII.: der König unterschrieb alles, was sein Leibarzt ihm vorlegte. Eines Tages ernannte er ihn zum königlichen Vorleser mit dem Titel „Konferenzrat“ – und gleich darauf seinen Hund Vitrius zum Reichsrat. Dann sagte er zu Struensee:

„Die Königin leidet an Melancholia. Sie ist einsam, sie ist eine Fremde in diesem Land. Es ist mir nicht möglich gewesen, diese Melancholie zu lindern. Sie müssen diese Bürde von meinen Schultern nehmen. Sie müssen! sich ihrer annehmen.“ (Seite 175)

„Doktor Struensee, ich bitte Sie inständig. Die Königin ist einsam. Nehmen Sie sich ihrer an.“ (Seite 209)

Königin Caroline Mathilde und der Leibarzt

Königin Caroline Mathilde hielt Johann Friedrich Struensee anfangs für ihren Feind, aber schließlich ließ sie sich von ihm das Reiten beibringen. Dass sie dabei Männerkleider trug und nicht im Damensitz auf dem Pferd saß, wurde bei Hof als skandalös empfunden. Bei gemeinsamen Ausritten und Spaziergängen im Wald kamen Caroline Mathilde und Johann Friedrich Struensee sich näher. Heimlich wurden sie ein Liebespaar.

Ende September 1770 reiste Christian VII. mit Caroline Mathilde, seinem Leibarzt und einem kleinen Gefolge zur Erholung auf Graf Rantzaus Gut Ascheberg achtzig Kilometer nördlich von Hamburg. In der Hütte, die Graf Rantzau 1762 dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) vergeblich als Zuflucht angeboten hatte, las Struensee der Königin aus dem Buch „Moralische Gedanken“ von Ludwig Holberg vor und zwischendurch liebten sie sich.

1771 erhob König Christian VII. seinen Leibarzt in den Grafenstand und ernannte ihn zum „Geheimen Kabinettsminister“. Dieser Titel wurde in der dänischen Geschichte nur ein einziges Mal vergeben und war ganz auf Johann Friedrich Struensee zugeschnitten, der von da auch ohne Zustimmung bzw. Unterschrift Christians VII. Dekrete erlassen konnte. Das gab ihm die Möglichkeit, Ideen der Aufklärung wie Abschaffung der Folter, Gedankenfreiheit und Schulreform in Dänemark zu verwirklichen.

Als der französische Gesandte einmal um eine Audienz beim dänischen König ersuchte, empfing ihn an dessen Stelle Johann Friedrich Struensee und entschuldigte Christian VII., der angeblich unpässlich war. Aber dann hörte man Lärm im Schlosshof, und Struensee konnte nicht verhindern, dass der Franzose sah, wie Christian auf allen Vieren herumkroch und seinen schwarzen Pagen Moranti auf sich reiten ließ. Da erkannte der Diplomat, welche Machtstellung der Leibarzt des Königs inzwischen aufgebaut hatte.

„Herr Struensee, ich bin kein Idiot. Mein König ist es auch nicht, und auch andere Regenten in Europa nicht. Ich sage dies mit der Klarheit, die Sie Ihren eigenen Worten zufolge so hoch schätzen. Sie spielen mit dem Feuer. Wir werden nicht zulassen, dass der große, zerstörerische revolutionäre Brand in diesem kleinen Scheißland anfängt.“ (Seite 183f)

Am 6. Februar 1771 teilte Königin Caroline Mathilde ihrem Liebhaber mit, dass sie ein Kind von ihm erwarte. Längst tuschelte man nicht nur bei Hof, sondern auch in der Stadt über Struensee und die liederliche Königin. Deren Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen, als der Hof den Sommer 1771 im Schloss Hirschholm verbrachte.

Schloss Hirschholm war 1746 nach fünf Jahrzehnten Bauzeit fertiggestellt worden und galt als nordisches Versailles. Bewohnt wurde die Anlage eigentlich nur im Sommer 1771. 1774 wurden alle Arbeiten eingestellt, und nach dem Brand im Schloss Christiansborg verwendete man die Mauersteine des Schlosses Hirschholm für den Wiederaufbau.

Am 7. Juni 1771 entband der Leibarzt des Königs die Königin von einem Mädchen, das auf den Namen Louise Augusta getauft wurde. Als er Christian VII. das Kind zeigen wollte, hatte dieser kein Interesse daran, denn er wusste selbstverständlich, dass es nicht von ihm sein konnte.

Innerhalb eines Jahres erließ Struensee 564 Verordnungen. (Insgesamt sollten es 633 werden.) François Reverdil, den er aus der Schweiz zurückrief, sollte ihm dabei helfen, die Leibeigenschaft der dänischen Bauern abzuschaffen. Doch Reverdil musste dann erst einmal Enevold Brandt ablösen, der zu seinem Verdruss nach Hirschholm geholt worden war, um als Adjutant auf Christian VII. aufzupassen. Aufgrund einer Beleidigung am Mittagstisch der Königin hatte Brandt den König zum Duell gefordert, und als dieser ängstlich zurückgewichen war, hatte er sich mit ihm geprügelt und ihn dabei heftig in den Finger gebissen. Deshalb wurde Brandt nicht mehr in der Nähe des Königs geduldet.

Im Herbst 1771 kam es zu einem Aufstand norwegischer Matrosen, die man eigens für die Werft von Holmen angeworben hatte, um nach dem Desaster der dänischen Flotte vor der Küste von Algerien neue Schiffe bauen zu können. Johann Friedrich Struensee wollte jedoch den Staatshaushalt sanieren und erzwang deshalb auch beim Militär massive Einsparungen.

Nach und nach verloren sie [die Werftarbeiter] die Geduld. Die Löhne blieben aus. Die Huren nahmen ordentliche Preise, und ohne Lohn keine Huren. Kostenloser Schnaps hatte sie nicht besänftigt, sondern schwere Schäden in den Kopenhagener Wirtshäusern verursacht. (Seite 263)

Königin Caroline Mathilde stellte sich den Aufständischen furchtlos in den Weg und versprach ihnen den Bau weiterer Schiffe, obwohl dafür gar kein Geld vorhanden war.

Intrige

Ove Høegh-Guldberg hatte sich einmal über den Anblick des aufreizenden Décolletés der jungen Königin erregt. Seit er von ihrem Verhältnis mit dem Leibarzt des Königs wusste, nannte er sie heimlich „die kleine englische Hure“. Ihre Lasterhaftigkeit trieb ihn um, und er beschloss, die Ehre des Königs wiederherzustellen. Durch die Beseitigung Johann Friedrich Struensees wollte er zugleich das gottlose Gedankengut der Aufklärung wieder aus Dänemark verdrängen.

Zunächst schickte er ausgerechnet Enevold Brandt mit dem Rat zu Christian VII., er solle sich zu seinem Schutz nach Kopenhagen bringen lassen, weil Struensee und Caroline Mathilde ihn ermorden wollten. Als der König seinen Leibarzt fragte, ob das Gerücht stimme, brachte dieser den Plan zum Scheitern.

Daraufhin schrieb Ove Høegh-Guldberg im Namen Struensees einen Umsturzplan für den 28. Januar 1772, mit dem Christian VII. zum Thronverzicht gezwungen und Caroline Mathilde zur Regentin ernannt werden sollte. Mit einer angeblichen Abschrift brachte Guldberg einige wichtige Leute auf seine Seite, die am 15. und 16. Januar 1772 besprachen, wie sie gegen Johann Friedrich Struensee vorgehen wollten.

Am 17. Januar 1772 um 4.30 Uhr wurde Johann Friedrich Struensee aus dem Bett heraus festgenommen. Die Königin stürzte im Nachthemd aus ihrem Schlafzimmer, riss es sich vor Zorn vom Leib und lief nackt vor den Offizieren herum, bis ihr eine Zofe etwas zum Anziehen brachte. Inzwischen brachte Guldberg den König dazu, eine Reihe vorbereiteter Papiere zu unterzeichnen. Eines davon betraf die Königin: Sie wurde mit ihrem Säugling nach Schloss Kronborg gebracht und dort unter Hausarrest gestellt.

Mit der Drohung, andernfalls die kleine Louise Augusta zu ermorden, brachte Ove Høegh-Guldberg den in einem Kerker angeketteten Johann Friedrich Struensee dazu, die Affäre mit der Königin schriftlich zu gestehen und sich in einem weiteren Dokument vom Gedankengut der Aufklärung zu distanzieren. Am 1. März 1772 erhielt Struensee erstmals den Besuch des Pastors der deutschen Sankt Petri-Gemeinde in Kopenhagen, Dr. theol. Baltasar Münter, der ihm im Auftrag Guldbergs bei weiteren sechsundzwanzig Gesprächen half, eine Abhandlung über seine Bekehrung zur protestantischen Konfession zu verfassen. Mit Struensees Geständnis und der Drohung, ihn nicht nur enthaupten, sondern rädern zu lassen, zwang Guldberg die Königin, ebenfalls ein Geständnis zu unterzeichnen.

Damit Caroline Mathilde nicht Regentin werden konnte, wollte Guldberg den König auf keinen Fall für geisteskrank erklären lassen. Stattdessen überredete er Christian VII., Louise Augusta als legitime Tochter anzuerkennen und sich von der Königin scheiden zu lassen. Mit der englischen Regierung einigte man sich darauf, dass der Thronfolger Friedrich VI. und dessen Schwester in Kopenhagen blieben, während Caroline Mathilde Dänemark nach der Scheidung verlassen musste. Ein aus zwei Fregatten und einer Schaluppe bestehendes englisches Geschwader nahm die Königin – die ihren Titel behalten durfte – am 30. Mai 1772 an Bord und brachte sie nach Deutschland, wo sie im Schloss von Celle unter Bewachung gestellt wurde. Als sie dort am 10. Mai 1775 im Alter von dreiundzwanzig Jahren unvermittelt starb, wurde von einem Mordanschlag getuschelt.

Hinrichtung

Im Kerker erinnerte Johann Friedrich Struensee sich an das Jahr, in dem er versucht hatte, die Ideen der Aufklärung in Dänemark zu verwirklichen.

Er hatte von einem Arbeitszimmer aus die dänische Revolution durchgeführt, ruhig und friedlich, nicht gemordet, nicht gefangengesetzt, nicht Gewalt angewendet, nicht ausgewiesen, war nicht korrumpiert worden oder hatte seine Freunde belohnt oder sich eigene Vorteile verschafft oder diese Macht aus dunklen egoistischen Motiven angestrebt. (Seite 346)

Am 25. April 1772 wurde er zum Tod verurteilt. Die sexuelle Beziehung mit der Königin kam nur indirekt als „Majestätsbeleidigung im höchsten Grade“ zur Sprache, aber man befand ihn für schuldig, aus persönlicher Herrschsucht Moral und Religion herabgesetzt zu haben. Er habe Ehre, Besitz und Leben verwirkt, hieß es.

Der König, der zitternd in seinen Räumen saß und sich nur noch mit seinem Hund unterhielt, bestätigte am 27. April die Urteile gegen seinen früheren Leibarzt und gegen Enevold Brandt, der wegen seines tätlichen Angriffs auf den König hingerichtet werden sollte, aber bis zuletzt an eine Begnadigung glaubte.

Vor dreißigtausend Schaulustigen fanden die beiden Hinrichtungen am 28. April 1772 auf einem eigens in Østre Fælled außerhalb von Kopenhagen errichteten Schafott statt. Der Scharfrichter zerbrach Johann Friedrich Struensees gräfliches Wappen. Dann musste der Verurteilte seinen Kopf auf den bereits mit Brandts Blut verschmierten Richtblock legen und seine rechte Hand auf einen zweiten Block, damit ihm der Scharfrichter zuerst die Hand und dann den Kopf mit einem Beil abschlagen konnte. Der Körper des Toten wurde gevierteilt, und die Fleischstücke band man aufs Rad. Struensees Kopf und seine rechte Hand wurden auf Stangen gespießt und ausgestellt.

Der selbstgerechte Emporkömmling Ove Høegh-Guldberg hatte sein Ziel erreicht: Er löste Johann Friedrich Struensee als Machthaber mit dem Titel „Staatsminister“ ab und widerrief dessen Dekrete. 1784 wurde er jedoch selbst von dem inzwischen sechszehn Jahre alten Thronfolger Friedrich VI. gestürzt, der daraufhin die Regierungsgeschäfte als Kronprinzregent führte, bis er seinen am 13. März 1808 verstorbenen Vater beerbte.

Louise Augusta (1771 – 1843) wuchs in Dänemark auf und wurde schließlich mit Herzog Friedrich Christian von Augustenborg verheiratet. Caroline Amalie, eines ihrer drei Kinder, wurde 1839 an der Seite ihres Gemahls Christian VIII. dänische Königin wie ihre Großmutter.

Es gibt heute kaum ein europäisches Königshaus, das schwedische inbegriffen, das seine Ahnen nicht auf Johann Friedrich Struensee, seine englische Prinzessin und ihr kleines Mädchen zurückführen kann. (Seite 369)

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„Der Besuch des Leibarztes“ ist eine facettenreiche Mischung aus historischem Roman, Romanze und Tragödie. Es geht um verbotene Liebe, Wahn, Politik und Macht, um eine amour fou, die Emanzipation einer Königin, die Ideen der Aufklärung und den Machtkampf eines Emporkömmlings. Obwohl Per Olov Enquist im allerersten Satz verrät, dass der Protagonist Johann Friedrich Struensee am Ende hingerichtet wird, bleibt die in den Grundzügen historische Geschichte spannend, denn er versteht sich darauf, die psychologischen Dimensionen der Konflikte ungemein plastisch herauszuarbeiten. Dabei bewegt er sich stilistisch zwischen Sachbuch-Biografie, Reportage und Roman; nahtlos wechselt er zwischen referierten Passagen, lebendigen Dialogen, inneren Monologen und eindringlichen Szenen. In diesem Zusammenhang schreibt Thomas Steinfeld von „poetischem Journalismus“ (Süddeutsche Zeitung, 23. September 2004), und Kristina Maidt-Zinke verwendet in ihrer Rezension von „Der Besuch des Leibarztes“ den Begriff „Romanbühne“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Mai 2001).

Vermisst habe ich einen Anhang mit Hinweisen auf historische Fakten in „Der Besuch des Leibarztes“ wie in den Büchern von Peter Prange (z. B.: „Die Philosophin“), zumal mir einige Dialoge und Szenen unglaubwürdig vorkommen.

Die Tragödie von Königin Caroline Mathilde und Johann Friedrich Struensee regte mehrere Schriftsteller zum Schreiben historischer Romane an. Hier sind einige Beispiele:

  • Adelbert Graf von Baudissin: Christian VII. und sein Hof (1863)
  • Kurt Martens: Jan Friedrich. Der Roman eines Staatsmannes (1916)
  • Albert Petersen: Karoline Mathilde (1923)
  • Robert Neumann: Struensee. Doktor, Diktator, Favorit und armer Sünder (1935)
  • Else von Hollander-Lossow: Die Gefangene von Celle. Ein Roman um den Volkskanzler Struensee (1935)
  • Bodil Steensen-Leth: Prinsesse af blodet (2000 / Verfilmung)
  • Ernst Johann Friedrich Weber: Struensee (1936)

Der dänische Regisseur Nikolaj Arcel erzählt die Geschichte nach einem Roman der dänischen Schriftstellerin Bodil Steensen-Leth: „Die Königin und der Leibarzt“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2012
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Albert Ostermaier ist kein Romancier, sondern ein Dichter und virtuoser Sprachkünstler: "Zephyr" ist eine poetische Komposition, in der Form und Inhalt einander entsprechen.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.