Liz Jensen : Die da kommen
Inhaltsangabe
Kritik
Hesketh Lock ist 36 Jahre alt. Seit fünf Jahren arbeitet der Anthropologe, der über Glaubenssysteme promovierte, als Spezialist für interkulturelle Angelegenheiten für Phipps & Wexman in London. Für die Aufgabe ist der Autist besonders gut geeignet, weil er kaum von Emotionen fehlgeleitet wird und gesunde Menschen wie eine andere Spezies aus der Distanz betrachtet. Rascher als andere erkennt Hesketh Muster und Strukturen. Dabei helfen ihm Venn-Diagramme. Und sobald er unruhig wird, faltet er Origami.
Bis vor einigen Monaten lebte er mit der Rechtsanwältin Kaitlin Kalifakidis und deren Sohn Freddy in London zusammen. Aber Kaitlin trennte sich inzwischen von ihm und hat jetzt eine Lebensgefährtin, eine Kollegin Heskeths bei Phipps & Wexman: die Verhaltenspsychologin Stephanie Mulligan. Nachdem Hesketh aus Kaitlins Wohnung ausgezogen war, mietete er ein abgelegenes Cottage auf der Insel Arran. Er vermisst vor allem den siebenjährigen Freddy.
Von seinem Chef Ashok Sharma wird Hesketh Lock nach Taiwan geschickt. Dort soll er herausfinden, wer der Whistleblower ist, der einen Korruptionsskandal in der Holzindustrie aufdeckte. Sun-kiu („Sunny“) Chen, der Betriebsleiter von Jenwai Timber, führt ihn herum und zeigt ihm auch eine Maschine, die Holzabfall zermahlt. „Die macht Hamburger aus Ihnen“, schreit Chen gegen den Lärm an. Schließlich deutet er an, dass er selbst der Whistleblower ist. Er fährt mit Hesketh zu den Schreinen seiner Vorfahren und sagt:
„Ich glaube, wir machen bei Geistern einen großen Fehler. Wir denken, sie stammen aus der Vergangenheit. Wir denken, sie wären alle tot. Aber sie sind am Leben. Und manche von ihnen wurden noch nicht einmal geboren. Sie sind Reisende. […] Sie gehen, wohin sie wollen. Sie dringen in unseren Körper ein und bringen einen dazu, Dinge zu tun.“
Am 16. September kehrt Hesketh nach Großbritannien zurück. In den Nachrichten wird von einem bis dahin unauffälligen siebenjährigen Mädchen in Harrogate berichtet, das ohne erkennbaren Anlass seine Großmutter mit einem Druckluftnagler ermordete und dann auch dem Vater mit dem Gerät Nägel ins Gesicht schoss. Der Mann hat überlebt, ist allerdings erblindet.
Ein paar Tage später erfährt Hesketh von seinem Chef, dass Sunny Chen sich in die Zerkleinerungsmaschine geworfen habe. Von seinem Körper blieb nur rötlicher Brei übrig.
Als Nächstes muss Hesketh nach Stockholm. Statt zu fliegen, fährt er mit dem Zug. Der Bankangestellte Jonas Svensson schadete seinem Unternehmen bei einem Termingeschäft und schluckte dann mehr als 100 Aspirin-Tabletten. Sein Sohn fand ihn gerade noch rechtzeitig, und im Krankenhaus wurde ihm der Magen ausgepumpt. Hesketh spricht mit Lars Axel, dem Chef des Saboteurs, und mit der Ehefrau Annika Svensson, die beide versichern, weder der Sabotageakt noch der Selbstmordversuch passe zu Svenssons Charakter. Hesketh besucht ihn im Krankenhaus. Jonas Svensson sitzt splitternackt auf dem Bett und wirkt verstört. Trolle hätten ihn zu dem Sabotageakt gezwungen, behauptet er.
„Es ist in mir drin! Es benutzt mich wie eine Marionette!“
Er packt Hesketh am Arm. Obwohl Svenssons Hände selbst für einen erwachsenen Mann groß sind, sehen die Abdrücke wie von einer Kinderhand aus. Plötzlich springt der nackte Patient auf und rennt davon. Hesketh verfolgt ihn, kann aber nicht verhindern, dass Jonas Svensson auf der Straße von einem Lastwagen überfahren wird. Einige Zeit später, am 21. September, stirbt der Schwerverletzte. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass er drei Nieren hatte.
In den Nachrichten heißt es, ein neunjähriger Junge habe mit dem Jagdgewehr seines Vaters auf zwei Onkel geschossen, einen getötet und den anderen schwer verletzt.
Männer greifen Institutionen an, die sie lieben.
Kinder wenden sich gegen ihre Familien.
In Dubai untersucht Hesketh einen Fall in einem Bauunternehmen: Der leitende Mitarbeiter Ahmed Farooq tötete sich nach einem Sabotageakt mit Rattengift. Sein aus Südafrika stammender Stellvertreter Jan de Vries führt Hesketh herum. Sie stehen mit zwei Dutzend Arbeitern im 31. Stockwerk eines Rohbaus, als ein kleines schmutziges Mädchen auftaucht, dessen Anblick Jan de Vries offenbar so erschreckt, dass er über das Sicherheitsgeländer klettert und sich in die Tiefe stürzt.
In Seoul fesselt ein neunjähriger Junge ohne erkennbaren Grund seinen Großvater und dreht den Gashahn auf.
Hesketh sieht eine Verbindung zwischen Sunny Chen, Jonas Svensson und Jan de Vries: Sie fürchteten sich vor Ahnen, Trollen bzw. Dschinns. Er ist überzeugt, dass die Sabotageakte und nachfolgenden Selbstmorde etwas mit den Gewalttaten der Kinder zu tun haben. In all diesen Fällen geht es um atypisches Verhalten in einer dissoziativen Fugue. Außerdem sind sowohl die Saboteure und Selbstmörder als auch die mörderischen Kinder durch ihre Gier nach Salz aufgefallen.
An Stephanies Hals entdeckt Hesketh eine Kette, die genauso aussieht, wie eine von Sunny Chen gezeichnete. Die habe Freddy für sie gebastelt, sagt Stephanie. Um den Jungen zu befragen, besucht Hesketh ihn und die beiden Frauen in London. Kaitlin hat er seit seinem Auszug vor drei Monaten nicht mehr gesehen. Zu der Kette kann Freddy nicht viel sagen, was Hesketh weiterhilft, aber der Junge verblüfft den Anthropologen, weil er offenbar über Sunny Chen, Jonas Svensson, Ahmed Farooq und Jan de Vries Bescheid weiß, obwohl niemand ihm davon erzählte. Woher er wisse, wie die Männer starben, fragt Hesketh. Von anderen Kindern, antwortet Freddy.
Kurz darauf stößt er seine Mutter die Treppe hinunter. Mit einer schweren Kopfverletzung wird sie ins Krankenhaus gebracht.
Hesketh bringt Freddy in ein für auffällige Kinder im Londoner Stadtteil Battersea eingerichtetes Heim. Dort versucht Heskeths Doktorvater, der auf Massenhysterie spezialisierte Professor Victor Whybray, Ursachen für die Gewalttätigkeit der Kinder herauszufinden. Whybray war zwar nach dem Tod seiner Frau Helena emeritiert und nach Toronto gezogen, aber die britische Regierung holte den 73-Jährigen kürzlich zurück.
Freddy fragt kein einziges Mal nach seiner Mutter. Er verschlingt Unmengen übersalzenes Essen. Milch rührt er nicht an. Er sagt zu Hesketh:
„Für dich ist sie nicht giftig, weil du aus der Alten Welt kommst. Wir haben aber anderes Blut. Wir brauchen Cola oder Sprite oder Dr. Pepper.“
Ashok Sharmas kleine Neffen Birba und Jeevan töten ihren Vater Amit mit einem Küchenmesser.
In Venezuela sterben mehr als 1000 Menschen an einer Gastroenteritis. Ausgelöst wurde die Epidemie durch bestimmte organische Substanzen aus einer Brotfabrik. Offenbar handelt es sich um einen terroristischen Anschlag.
Das britische Innenministerium verhängt für Kinder unter zwölf Jahren eine Ausgangssperre. Aber die Kinder halten sich nicht daran und bilden Banden. Besorgte Erwachsene organisieren Bürgerwehren.
Der öffentliche Verkehr kommt fast zum Erliegen. Importe und Exporte brechen ein; der Kapitalismus kollabiert.
Hesketh konstatiert:
„Dass ein unbekannter Anteil der Kinder in dieser Welt nicht nur ein kollektives Bewusstsein entwickelt hat, sondern eine kulturelle Geschichte, in der ihr eigenes Überleben von der Zerstörung einer zeitgenössischen Erwachsenenwelt abhängt.“
Kaitlin stirbt im Krankenhaus an einer Gehirnblutung. Freddy bleibt ungerührt. Während Kaitlins Bruder Alex bei der Beerdigung am 3. Oktober eine Trauerrede hält, fragt Freddy lauthals, was das alles solle. Hesketh erklärt ihm, seine Mutter sei tot. Da reagiert er verwundert und beginnt zu toben. Zwei Männer versuchen ihn festzuhalten, aber er beißt den einen und boxt den anderen in die Hoden. Dann rennt er weg und gesellt sich zu einer Kinderbande.
Die Kinder essen Würmer und Insekten. Auch Fälle von rituellem Kannibalismus werden beobachtet.
Die in dem Heim in Battersea untergebrachten Kinder brechen aus. Die Betreuerin Naomi Benjamin scheint die Türcodes deaktiviert zu haben. Professor Whybray ist tot, die Kinder haben ihn regelrecht zu Tode getrampelt.
Das Internet bricht zusammen. Das Militär versucht, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.
Hesketh hat sich mit Freddy auf die Insel Arran zurückgezogen. Der Junge sagt, die Erwachsenen sollten aufhören.
„Womit aufhören?“
Er zuckt mit den Schultern […]. „Mit allem, was Erwachsene machen. Mit allem, was ihr gemacht habt, als ihr noch am Leben wart. Mit allem, was ihr gemacht habt, bevor ihr gestorben seid.“
„Wir sind tot?“
„Ihr stammt aus der Alten Welt. Das ist das Gleiche.“
„Du sagst, ihr wollt, dass wir aufhören. Wer seid ihr?“
Er zuckt mit den Schultern. „Ich und die anderen Kinder. Wir sind alle vom selben Blut.“
„Woher kommt ihr?“
„Von dem Ort, wo man ist, bevor man geboren wird. Und wo man hingeht, wenn man tot ist.“
„Aber du bist am Leben, Freddy. Du bist hier bei mir. Wir sind beide am Leben.“
Er schüttelt den Kopf. „Nein. Du bist tot. Für dich fühlt es sich wie jetzt an. Aber in Wirklichkeit ist es schon Zillionen von Jahren her.“
Schließlich sieht Hesketh den Sohn seiner Ex-Freundin nur noch von weitem. Er konstatiert:
Keine der Geschichten, die ich kenne, verrät mir, wie das Ganze enden wird. Doch alle Ablaufdiagramme liefern mehrere Ereignisse, also bleiben mir auch mehrere Hoffnungen. Und manche Dinge sind schon jetzt deutlich vorhersehbar. Der Prozess der Neukalibrierung, der still und leise auf Arran abläuft. Wenn die Menschen es wagen, sich wieder fortzupflanzen, wird es weniger Nachkommen geben, die dafür mehr Wertschätzung erfahren werden. Diese neue Generation wird lernen, dass es Kinder wie sie selbst waren, die den Schwerlaster am Rande des Abgrunds aufgehalten haben. Dass sie nicht von so weit her gekommen waren, um uns zu zerstören. Sie kamen als Retter und schenkten uns eine zweite Chance, unverdient und überraschend. Und dank ihnen entdeckten wir eine völlig neue Metaphysik des Seins.
Beim Lesen des Romans „Die da kommen“ fragt man sich, ob die Welt, die wir hinterlassen werden, unseren Kindern zumutbar sein wird oder nicht. Lösungsansätze bietet Liz Jensen allerdings keine.
Dass das Buch „Die da kommen“ als Thriller verkauft wird, ist irreführend. Liz Jensen benutzt zwar Versatzstücke aus den Genres Thriller und Horror; es kommt auch zu zahlreichen Bluttaten, von denen der Protagonist einige aufzuklären versucht, aber irgendwann begreifen wir, dass es bei „Die da kommen“ um etwas anderes als die polizeiliche bzw. juristische Aufarbeitung von Kriminalfällen geht. Wer also glaubt, einen Thriller zu lesen und deshalb am Ende eine Auflösung, eine überraschende Erklärung der geschilderten Ereignisse erwartet, wird das Buch enttäuscht zuklappen.
Liz Jensen entwickelt in ihrem düsteren Roman „Die da kommen“ von der ersten bis zur letzten Seite ein apokalyptisches Szenario. Wie überzeugend es ist, wird jeder Leser selbst entscheiden müssen. Sie steigert das Tempo, aber statt die Handlung auf eine Klimax hin auszurichten, schildert sie immer noch einen Mord, Suizid, Sabotageakt, Terroranschlag. Dass die Ereignisse überall auf der Welt stattfinden und der Protagonist zwischendurch nach Taipeh, Stockholm und Dubai reist, macht keinen entscheidenden Unterschied, sorgt nur für ein bisschen Abwechslung.
Bei der als Ich-Erzähler auftretenden Hauptfigur in „Die da kommen“ handelt es sich um einen Anthropologen mit dem Asperger-Syndrom. Das ist eine gute Wahl, denn dadurch erfahren wir aus dem Blickwinkel eines nahezu emotionslosen Wissenschaftlers, was geschieht. Hesketh Lock beobachtet selbst seine Mitmenschen wie eine andere Spezies. Wirklich nahe geht ihm nur das Schicksal des siebenjährigen Sohnes seiner Ex-Freundin. Sinnvoll ist in diesem Fall auch, dass der Text im Präsens steht, zumal dies zugleich dafür sorgt, dass die Distanz zum Geschehen nicht zu groß wird.
An mehreren Stellen in „Die da kommen“ wird erwähnt, dass Neutrinos schneller als Licht seien und dieses Forschungsergebnis das geltende physikalische Weltbild revolutioniere. Tatsächlich teilten Wissenschaftler der CERN am 23. September 2011 mit, dass sie auf überlichtschnelle Neutrinos gestoßen seien. Liz Jensen scheint das Manuskript abgeschlossen zu haben, bevor CERN im Februar 2012 bekanntgab, dass man zwei mögliche Fehlerquellen gefunden habe [Überlichtschnelle Neutrinos?].
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Deutscher Taschenbuch Verlag