Franz Kafka : Amerika

Amerika
Amerika Manuskript: 1911 - 1914 Erstausgabe, hg. von Max Brod: 1927 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 36, München 2004 Suhrkamp Verlag, Berlin 2012 ISBN 978-3-518-73305-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 16-jährige Karl Roßmann wird von seinen Eltern nach Amerika geschickt, weil ihn ein Dienstmädchen verführte und ein Kind von ihm bekam. Seine Bemühungen, sich in der Zivilisation der "Neuen Welt" mit ihren rationalisierten Arbeitsmethoden zurechtzufinden und sich im Konkurrenzkampf gegen ungerechte Behandlungen und Übervorteilungen zu behaupten, schlagen immer wieder fehl.
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Kritik

"Kafka war sich bewusst und hob es gesprächsweise öfters hervor, dass dieser Roman hoffnungsfreudiger und 'lichter' sei als alles, was er sonst geschrieben hat [...] Es gibt Szenen in diesem Buch [...], die unwiderstehlich an Chaplin-Filme erinnern [...]" (Max Brod)
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Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickt er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte. (Seite 5)

So beginnt Franz Kafka seinen Roman „Amerika“ (auch: „Der Verschollene“). Johanna Brummer, ein etwa fünfunddreißigjähriges Dienstmädchen, hatte den verwirrten Sechzehnjährigen in ihr Zimmer gezerrt und neun Monate später einen gesunden Jungen geboren, dem sie den Namen Jakob gab.

Würgend umarmte sie seinen Hals, und während sie ihn bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett […] Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen, und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, dass Karl Kopf und Hals aus dem Kissen herausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn – ihm war, als sei sie ein Teil seiner selbst, und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürfigkeit ergriffen. Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett. (Seite 24)

Wegen des Skandals und um ihn vor Alimente-Forderungen in Sicherheit zu bringen, schickten die Eltern Karl Roßmann von Prag nach New York. Bei der Ankunft, schon halb auf der Gangway, fällt ihm ein, dass er seinen Regenschirm auf dem Zwischendeck liegen ließ. Er bittet seinen Mitreisenden Franz Butterbaum, auf seinen Koffer aufzupassen und kehrt zurück, verläuft sich jedoch und landet in der winzigen Kabine des Heizers, der schließlich mit ihm zur Kapitänskajüte geht, um sich über seinen ungerechten Vorgesetzten, den Obermaschinisten Schubal, zu beschweren und abzumustern.

Seinen Koffer hat Karl inzwischen aufgegeben. Es tut ihm Leid, dass er die frischen Sachen aus dem Koffer nicht doch während der Überfahrt angezogen hat, denn jetzt muss er in New York erst einmal mit dem schmutzigen Hemd, das er am Leib trägt, vorliebnehmen.

In der Kapitänskajüte sind gerade Schiffsoffiziere und Beamte der Hafenbehörde mit den Formalitäten beschäftigt. Der ebenfalls anwesende Kassierer bezeichnet den Heizer als notorischen Querulanten und will ihn durch den Diener hinauswerfen lassen, aber der Kapitän ist bereit, ihn anzuhören, und Karl ergreift Partei für den Heizer, der sich gleich ereifert.

Schubal, der von einem Küchenmädchen erfuhr, dass der Heizer zum Kapitän ging, tritt ein, um sich gegen dessen Vorwürfe zu verteidigen und hat auch Zeugen mitgebracht, die zunächst vor der Tür warten.

Einer der anwesenden Herren – der Senator Edward Jakob – fragt Karl nach seinem Namen und gibt sich dann als dessen Onkel Jakob zu erkennen. Karl ist zunächst misstrauisch, weil der Geburtsname seiner Mutter Bendelmayer lautet, aber ihr Bruder, der schon viele Jahre in den USA lebt, hat den komplizierten Nachnamen gegen das einfachere „Jakob“ vertauscht. Vor zwei Tagen erhielt er einen Brief von Johanna Brummer, in dem sie ihm berichtete, was zwischen ihr und Karl vorgefallen war. Daher wusste er, mit welchem Schiff Karl reiste und wie er aussehen würde.

Der Senator fordert seinen Neffen auf, die Angelegenheit des Heizers – bei der es nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch um Disziplin gehe – dem Kapitän zu überlassen und geht mit ihm von Bord.

Karl wohnt nun im Haus seines Onkels, dem es offensichtlich an nichts fehlt. Senator Edward Jakob beauftragt einen jungen Professor einer Handelshochschule damit, seinen Neffen in der englischen Sprache zu unterrichten und kauft ihm ein Klavier, damit Karl seine in Deutschland begonnenen Übungen fortsetzen kann. Sobald Karl die Fremdsprache einigermaßen beherrscht, macht sein Onkel ihn mit dem Millionärssohn Mack bekannt, der sich von da an jeden Morgen mit Karl in einer Reitschule trifft. Es handelt sich übrigens um den Sohn des größten Bauunternehmers von New York.

Erst nach längerer Zeit gibt Edward Jakob seinem Neffen auch einen Einblick in seine Geschäfte: Er führt ein im Verlauf von dreißig Jahren aufgebautes Kommissions- und Speditionsgeschäft, das den Warenverkehr zwischen Unternehmen vermittelt.

Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste und ganz genaue, unaufhörliche telefonische und telegrafische Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste. (Seite 37)

Im Speisezimmer seines Onkels lernt Karl eines Abends zwei Herren kennen: Green und Pollunder, und während der Senator sich mit Green unterhält, lädt Pollunder, der als Bankier in New York arbeitet, den Jungen auf sein Landgut ein. Bereits am Tag darauf erscheint Pollunder, um Karl abzuholen und mitzunehmen. Vergeblich weist der Senator darauf hin, welche Unannehmlichkeiten damit für Pollunder verbunden sind. Außerdem verlangt er, dass Karl zur Englischstunde am nächsten Morgen zurück sein müsse. Obwohl er deutlich zu erkennen gibt, wie ungern er seinem Neffen erlaubt, der Einladung zu folgen, lassen sich weder Karl noch Pollunder von ihrem Vorhaben abhalten.

Vor Pollunders Landhaus werden sie von dessen Tochter Klara erwartet, die ihrem Vater mitteilt, dass auch Green gekommen ist, um den Abend hier zu verbringen. Das verdrießt Pollunder, aber bevor er sich versieht, kommt Green aus dem Haus.

Während die beiden Herren sich nach dem Abendessen in ein geschäftliches Gespräch vertiefen, zeigt Klara dem jugendlichen Gast sein Zimmer. Als Karl sich zurückziehen will und ans offene Fenster tritt, stößt sie ihn so vor die Brust, dass er beinahe hinausgefallen wäre, und dann rauft sie mit ihm, drängt ihn auf ein Kanapee und würgt ihn. Bevor sie ihn verlässt, erklärt sie ihm, wo ihr Zimmer zu finden ist.

Keine Minute länger will Karl in diesem Haus bleiben. Er geht hinaus auf den Korridor und strebt zum Speisezimmer, aber in dem riesigen Gebäude verläuft er sich. Ein Diener mit einer Laterne zeigt ihm schließlich den Weg. Von ihm erfährt Karl, dass Klara mit Mack verlobt sei und dieser das Haus für seinen zukünftigen Schwiegervater gekauft habe.

Im Speisezimmer wendet Karl sich sogleich an Pollunder und bittet darum, gleich nach New York zurückkehren zu dürfen. Der Hausherr antwortet:

„Lieber Herr Roßmann, Sie werden doch nicht glauben, dass ich Sie gegen Ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage […] Der Chauffeur wiederum schläft nicht hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich selbst nicht, wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht, jetzt zu Hause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aber das wären keine Hindernisse für Ihre augenblickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehen, begleite ich Sie sofort zur nächsten Station der Stadtbahn […]“ (Seite 62)

Karl müsse sich allerdings erst noch von Klara verabschieden, heißt es, und Green fügt hinzu, das passe gut in seinen Zeitplan. Es sei jetzt halb zwölf, und er habe den Auftrag, ihm um Mitternacht etwas Wichtiges mitzuteilen. Karl bleibt nichts anderes übrig, als sich von dem Diener zu Klara führen zu lassen. Die beschwert sich über sein spätes Kommen und bringt ihn dann dazu, etwas auf dem Klavier in ihrem Zimmer zu spielen. Karl wählt ein Soldatenlied. Am Ende klatscht jemand im Nebenzimmer – und da liegt Mack in einem großen Himmelbett. Die Uhr schlägt zwölf. Karl verabschiedet sich hurtig und eilt hinaus. Green kommt ihm bereits entgegen:

„Roßmann, warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie denn bei Fräulein Klara getrieben?“ (Seite 68)

Er händigt dem Sechzehnjährigen einen Brief von dessen Onkel aus:

„Geliebter Neffe! Wie du während unseres leider viel zu kurzen Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Das ist nicht nur für meine Umgebung, sondern auch für mich sehr unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin […] muss ich dich nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschicken, und ich bitte dich dringend, mich weder selbst aufzusuchen noch brieflich oder durch Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast dich gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fortzugehen, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluss dein Leben lang; nur dann war es ein männlicher Entschluss […]“ (Seite 69)

Green hat auch Karls Koffer und seinen Regenschirm mitgebracht. Beides wurde von Schubal abgegeben. Außerdem drückt er ihm eine Fahrkarte dritter Klasse nach San Francisco in die Hand und rät ihm, sich dort Arbeit zu suchen.

Karl verlässt das Haus, wählt eine beliebige Richtung und macht sich auf den Weg. An einer Station des New Yorker Fuhrwerkverkehrs fragt er nach der billigsten Bettstelle. Die einzigen beiden Betten in dem Zimmer sind bereits besetzt. Als die beiden Männer, die in ihren Kleidern schlafen, kurz erwachen, nennt der eine von ihnen ihre Namen: sie heißen Robinson und Delamarche; der eine ist Irländer, der andere Franzose, und beide sind sie Maschinenschlosser auf dem Weg nach Butterford, wo sie Arbeit suchen wollen. Karl schließt sich ihnen an.

Nach dem Essen in einem Restaurant lassen Robinson und Delamarche ihren Begleiter die Zeche bezahlen, und der muss unter dem Tisch im Geheimfach seines Koffers herumkramen, um an sein Geld zu kommen. Nachdem sie bei der Stadt Ramses im Freien ihr Nachtlager aufgeschlagen haben, schicken die beiden Männer Karl zum nahen Hotel „Occidental“, wo er Speck, Brot und Bier besorgen soll. Wegen des großen Andrangs dauert es lang, bis Karl endlich auf die dicke Oberköchin trifft, die ihm nicht nur die verlangten Sachen in einen Korb packt, sondern ihn auch einlädt, in einer Dachkammer des Hotels zu übernachten.

Als Karl zu seinen Weggefährten zurückkehrt, findet er sie schlafend vor. Sein Koffer liegt aufgeklappt herum, und der Inhalt ist im Gras verstreut. Ohne sich zu entschuldigen, erklären Robinson und Delamarche, in Karls Sachen nach etwas Essbaren gesucht zu haben. Verärgert kündigt Karl an, er werde im Hotel übernachten und seinen Weg allein fortsetzen. Die Auseinandersetzung wird von einem Kellner aus dem Hotel beendet, der im Auftrag der Oberköchin den Korb zurückbringen soll und die Einladung an Karl zur Übernachtung im Hotel wiederholt. Karl packt seine Habe zurück in den Koffer, aber er vermisst die Fotografie seiner Eltern. Weil es das einzige Bild ist, das er von ihnen besitzt, will er es unbedingt zurück, aber auch eine Durchsuchung der beiden Verdächtigen verläuft ergebnislos, und Karl bleibt nichts anderes übrig, als dem Kellner zum Hotel zu folgen.

Die Oberköchin freut sich über Karls Rückkehr. Sie heißt Grete Mitzelbach, feierte am Vortag ihren 50. Geburtstag, stammt aus Wien und hat in Karls Heimatstadt Prag ein halbes Jahr lang gearbeitet. Sie will dafür sorgen, dass er am nächsten Tag als Liftboy im Hotel „Occidental“ anfangen kann. In dieser Nacht lässt sie ihn in einem ihrer Zimmer schlafen. Sobald die Oberköchin sich zurückgezogen hat und Karl ausgezogen ist, klopft die achtzehnjährige Maschinenschreiberin Therese Berchtold an seine Tür. Er springt in sein Bett und deckt sich bis zum Hals zu. Therese, die aus Pommern stammt, fühlt sich einsam und möchte sich deshalb mit Karl unterhalten.

Am nächsten Morgen wird Karl für einen der dreißig Aufzüge des Hotels eingeteilt. Nach jeweils zwölf Stunden Dienst löst ihn Renell ab, ein eitler Amerikaner, der jede Nacht ausgeht und das Messingputzen im Aufzug Karl überlässt, der es allerdings eifriger als alle anderen Liftboys tut.

Nach einem Monat sagt Renell, er sei einem gewissen Delamarche begegnet und von ihm über Karl ausgefragt worden.

Einige Wochen später taucht Robinson vor Karls Lift auf. Er ist stark betrunken, hat sogar noch eine Flasche Schnaps bei sich und fordert den erschrockenen Liftboy auf, ihn und Delamarche zu besuchen. Karl, der hofft, dass niemand ihn zusammen mit dem Betrunkenen sieht, macht ihm klar, dass der Abschied vor zwei Monaten von seiner Seite aus endgültig gewesen sei. Robinson fragt nach Geld, und Karl ist bereit, ihm die Trinkgelder dieser Nacht zu überlassen, unter der Bedingung, dass er auf der Stelle das Hotel verlässt. Da schwankt Robinson zum Geländer und übergibt sich. Er ist so betrunken, dass er nicht mehr stehen, geschweige denn gehen kann. In seiner Verzweiflung schleppt Karl ihn in den Schlafsaal der Liftboys, und weil in seinem Bett jemand anderes schläft, legt er Robinson in Renells Bett. Als er eine Minute später zu seinem Lift zurückkommt, wird dieser bereits von einem anderen Liftboy bedient. Und der Oberkellner Isbary entlässt Karl auf der Stelle.

„Du hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weiß du, was das bedeutet? Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigung hören, deine erlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mir genügt vollständig die Tatsache, dass du nicht da warst. Wenn ich das einmal dulde und verzeihe, werden nächstens alle vierzig Liftjungen während des Dienstes davonlaufen, und ich kann meine fünftausend Gäste allein die Treppe hinauftragen.“ (Seite 127)

Die telefonisch geweckte Oberköchin eilt herbei, um sich für ihren Schützling einzusetzen. Da beschuldigt der ebenfalls anwesende Oberportier den Liftboy, ihn niemals gegrüßt und sich jede Nacht in der Stadt herumgetrieben zu haben. Offenbar verwechselt er Karl mit jemand anderem, aber das weiß nur der Leidtragende. Als gemeldet wird, dass die Liftboys einen betrunkenen Fremden im Schlafsaal fanden, der sich auf Karl berief, drängt selbst die Oberkellnerin, Karl müsse so rasch wie möglich das Hotel verlassen, damit es nicht noch zu einer polizeilichen Anzeige gegen ihn komme. Sie fordert ihn auf, zur Pension Brenner zu gehen und schreibt ihm rasch eine Empfehlung, damit er dort eingestellt wird. Am nächsten Tag will sie selbst nach ihm sehen.

Am Ausgang wird Karl vom Oberportier aufgehalten und in dessen Büro gezerrt. Der Oberportier durchsucht Karls Taschen so ungestüm, dass Nähte reißen, und wirft alles – einschließlich der Empfehlung der Oberköchin für die Pension Brenner – unter eine Sitzbank. Schließlich gelingt es Karl, sich unter Verzicht auf seinen Rock loszureißen und ins Freie zu laufen.

Dort ruft Robinson, der gerade von zwei Liftboys zu einem Taxi gebracht wird, nach Karl, und der hält es für das Beste, zu ihm ins Auto zu steigen, um möglichst rasch von hier zu verschwinden.

Die Fahrt endet in einer abgelegenen Straße. Karl überlässt dem Chauffeur das gesamte Geld, das er bei sich hat, aber es reicht nicht. Delamarche kommt im Morgenmantel aus dem Haus und zahlt den Rest. Inzwischen ist ein Streifenpolizist auf sie aufmerksam geworden, und als Karl gehen will, fragt er ihn nach seinen Papieren. Die sind in dem Rock, den Karl beim Oberportier zurückließ, um fliehen zu können. Er sei vor einer Stunde entlassen worden, erklärt Karl, aber er weigert sich, den Namen des Hotels anzugeben, weil er auf keinen Fall von der Polizei wieder hingebracht werden möchte. Er rennt fort. Der Polizist folgt ihm. Plötzlich wird Karl in einen Hauseingang gezogen. Delamarche, der ihn vor der Polizei gerettet hat, führt ihn über verwinkelte Korridore und Treppenhäuser zu der Wohnung, die er sich inzwischen mit Robinson und der beleibten, überaus empfindlichen Sängerin Brunelda teilt.

Nachdem Karl sich vor zwei Monaten von Delamarche und Robinson getrennt hatte, gingen die beiden betteln, und dabei stießen sie auf Brunelda. Die geschiedene Frau eines reichen Kakaofabrikanten verkaufte ihr Haus und entließ ihre Dienerschaft, um mit Delamarche hierher zu ziehen, und Robinson wurde ihr neuer Diener. Weil er das Zimmer jedoch nur nachlässig putzte und sie deshalb nicht mit ihm zufrieden war, verlangte Brunelda Ersatz. Robinson, der von Renell gehört hatte, dass Karl als Liftboy im Hotel „Occidental“ arbeitete, schlug daraufhin Karl als seinen Nachfolger vor, und Delamarche war damit einverstanden.

Während Brunelda, Delamarche und Robinson vom Balkon aus einem Umzug zusehen, schlüpft Karl ins Zimmer, um zu fliehen, aber die Wohnungstür ist verschlossen. Mit zwei abgebrochenen Messerklingen versucht er, das Schloss aufzusprengen, aber dabei wird er von Delamarche überrascht und niedergeschlagen. Mitten in der Nacht kommt er wieder zu sich, hört die anderen im Zimmer schnarchen und tritt auf den Balkon hinaus, um eventuelle Verletzungen zu besehen. Auf einem der benachbarten Balkone sitzt der Student Josef Mendel über seinen Büchern. Tagsüber arbeitete er als Laufbursche bzw. Verkäufer im Warenhaus von Montly, erzählt Josef Mendel, und er empfiehlt Karl, als Diener bei Delamarche zu bleiben.

Karl folgt dem Rat des Studenten. Am Morgen, als er erwacht, wird Brunelda gerade hinter zwei Kästen von Delamarche gewaschen. Hin und wieder erblickt Karl ihre Köpfe.

Nach weiteren Anstellungen, zuletzt in einem Büro, fährt Karl aufgrund eines Plakats mit der U-Bahn nach Clayton, wo das Theater von Oklahoma an diesem Tag neue Mitarbeiter sucht. Auf dem Rennplatz in Clayton stehen Hunderte von Frauen in Engelskostümen, die Trompeten blasen, und darunter ist auch eine Bekannte Karls mit dem Namen Fanny. Von ihr erfährt Karl, dass das Theater von Oklahoma das größte der Welt ist und zweihundert Kanzleien ständig dabei sind, neue Mitarbeiter zu werben. Dem Personalchef, der die Bewerber begrüßt, erklärt Karl, er sei Ingenieur. Aber in der Kanzlei für Ingenieure verweist man ihn an die „Kanzlei für Leute mit technischen Kenntnissen“, von dort schickt man ihn zur „Kanzlei für gewesene Mittelschüler“, und am Ende landet Karl in der „Kanzlei für europäische Mittelschüler“. Dort wird er zwar angenommen, jedoch nicht als Schauspieler, sondern als technischer Arbeiter. Deshalb verschweigt Karl seinen richtigen Namen und nennt sich stattdessen „Negro“. Nach einem kurzen Begrüßungsessen werden die neuen Mitarbeiter zum Bahnhof geführt. Zwei Tage und zwei Nächte dauert die Zugfahrt nach Oklahoma. Da begreift Karl, wie groß Amerika ist.

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Am 11. November 1912 schrieb Franz Kafka (1883 – 1924) seiner Brieffreundin Felice Bauer:

Die Geschichte, die ich schreibe, und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben: „Der Verschollene“.

Im Jahr darauf veröffentlichte er ein Kapitel daraus als Erzählung: „Der Heizer“. In seinem Testament bestimmte er, dass sein unvollendet gebliebener Roman über den Immigranten Karl Roßmann mit anderen Werken zusammen verbrannt werden sollte. Darüber setzte sich sein Freund nach Nachlassverwalter Max Brod (1884 – 1968) hinweg: Er gab das Fragment 1927 unter dem Titel „Amerika“ heraus.

Leider bricht der Roman „Amerika“ ab, als der Protagonist sich von einem Studenten überreden lässt, als Diener bei der tyrannischen Sängerin Brunelda zu bleiben. Das Kapitel über seine Bewerbung beim Theater von Oklahoma sollte möglicherweise den Schluss des Romans bilden. Die Stationen dazwischen fehlen bis auf zwei Abschnitte ganz.

Max Brod bezeichnete „Amerika“ („Der Verschollene“) zusammen mit „Der Prozess“ und „Das Schloss“ als „Trilogie der Einsameit“.

Fremdheit, Isoliertheit mitten unter den Menschen sind das Grundthema […] In allen drei Romanen geht es um die Einordnung des Einzelnen in die menschliche Gemeinschaft […]
(Max Brod: Nachwort zur Erstausgabe des Romans „Amerika“)

Von seinem Gerechtigkeitsgefühl wird der sechzehn Jahre alte Einwanderer Karl Roßmann gleich bei der Ankunft in Amerika dazu getrieben, Partei für den Schiffsheizer zu ergreifen, der behauptet, er sei von seinem Vorgesetzten benachteiligt worden. Karls Gerechtigkeitsempfinden ist jedoch naiv und unkritisch, denn obwohl ihm die Umstände unvertraut sind, zweifelt er keine Sekunde an der Berechtigung der Beschwerden des Heizers, den er erst seit wenigen Minuten kennt.

Er selbst wird fortwährend ungerecht behandelt und vermag sich nicht wirksam dagegen zu wehren. Ursprünglich wollte Karl Ingenieur werden, aber in Amerika strebt er nur noch danach, irgendeine Anstellung zu bekommen und sich durch eifrige Pflichterfüllung einen Platz in der Gesellschaft zu verdienen. Selbst mit diesem bescheidenen Vorhaben scheitert er, bis er schließlich vom Theater in Oklahoma – dem größten Theater der Welt – als technischer Arbeiter eingestellt wird.

Warum Senator Edward Jakob seinen Neffen verstößt, bleibt ebenso rätselhaft, wie die Frage, warum Herr Pollunder den jungen Mann einlädt und ihn mit seiner Tochter Klara allein lässt, obwohl sie mit dem Millionärssohn Mack verlobt ist.

Die Tätigkeit der Liftboys ähnelt der des Fließbandarbeiters in Charlie Chaplins Film „Moderne Zeiten“: Der Einzelne muss in diesem unablässig laufenden Räderwerk wie ein Maschinenteil funktionieren.

Obwohl die Personen, die im Hotel „Occidental“ über Karl urteilen, nicht anonym wie die Instanzen in „Der Prozess“ und „Das Schloss“ sind, erinnert die riesige, geschäftige Hotelorganisation an die mächtigen Behördenapparate in den beiden anderen Kafka-Romanen. Als Karl seinen Arbeitsplatz kurz verlässt, wird er als Liftboy gnadenlos entlassen. Da hilft es ihm nicht, dass er seinen Dienst seit seiner Anstellung vor zwei Monaten besonders eifrig und gewissenhaft versah, und niemand interessiert sich für die unglücklichen Umstände, die ihn dazu brachten, sich ein einziges Mal zwei Minuten von seinem Lift zu entfernen.

Franz Kafka, der selbst nie in Amerika war, kritisiert die amerikanische Gesellschaft, in der es nicht auf Fleiß und Pflichterfüllung ankomme, sondern auf gute Beziehungen, das Talent, sich selbst gut zu verkaufen und andere auszunutzen.

Kafka war sich bewusst und hob es gesprächsweise öfters hervor, dass dieser Roman hoffnungsfreudiger und „lichter“ sei als alles, was er sonst geschrieben hat […] Es gibt Szenen in diesem Buch […], die unwiderstehlich an Chaplin-Filme erinnern […] (Max Brod: Nachwort zur Erstausgabe des Romans „Amerika“)

Das Romanfragment „Amerika“ gibt es auch als Hörbuch (Regie: Andrea Gerk, Sprecher: Philipp Hochmair, Berlin 2005).

Jean-Marie Straub und Danièle Huillet verfilmten „Amerika“ 1984 unter dem Titel „Klassenverhältnisse“.

Klassenverhältnisse – Drehbuch, Regie und Schnitt: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet – Kamera: William Lubtchansky – Darsteller: Christian Heinisch als Karl Roßmann, Reinald Schnell, Mario Adorf, Harun Farocki, Manfred Blank, Alfred Edel, Laura Betti u.a. – 125 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Schocken Books Inc., New York. – Die Seitenangaben
beziehen sich auf die Fischer-Taschenbuchausgabe von 1956 (235 Seiten).

Franz Kafka (Kurzbiografie)

Franz Kafka: Der Heizer
Franz Kafka: Die Verwandlung
Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie
Franz Kafka: In der Strafkolonie
Franz Kafka: Ein Hungerkünstler
Franz Kafka: Der Prozess
Franz Kafka: Das Schloss

William Shakespeare - Das Wintermärchen
William Shakespeare veranschaulicht in der Tragikomödie "Das Wintermärchen" die zerstörerische Wirkung blinder Gefühle wie Eifersucht und die heilende Kraft der Vergebung.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.