Reinhard Kaiser-Mühlecker : Fremde Seele, dunkler Wald

Fremde Seele, dunkler Wald
Fremde Seele, dunkler Wald Originalausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2016 ISBN: 978-3-10-002428-2, 301 Seiten ISBN: 978-3-10-403518-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

2012 ist der Niedergang der öster­reichi­schen Bauernfamilie Fischer nicht mehr aufzuhalten. Die Großeltern sind wohl­habend, aber der Sohn, der sich von unrealistischen Rendite-Versprechungen zu Investitionen in ausländische Projekte verleiten lässt, ruiniert den Hof, und die Enkel müssen eigene Wege suchen. Das Landleben ist alles andere als ein Idyll; statt Solidarität gibt es unter den Dorfbewohnern üble Nachrede ...
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Kritik

Die lakonische Sprache, die wirkt, als sei sie aus der Zeit gefallen, passt zu den Figuren. Dass sie Halt und Orientierung verloren haben, spiegelt Reinhard Kaiser-Mühlecker, indem er vieles in "Fremde Seele, dunkler Wald" unklar lässt.
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Der oberösterreichische Bauernsohn Alexander Fischer erhielt einen Freiplatz an einem Stiftsgymnasium, denn er wollte gegen den Willen seiner Eltern und Großeltern Priester werden. Aber nachdem er es in einer Scheune des Heimatdorfs mit Elvira Beham getrieben hatte, änderte er seine Ziele und immatrikulierte sich nach der Reifeprüfung an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Das Studium brach er jedoch nach fünf Semestern ebenfalls ab und meldete sich zum Militär.

Im Herbst 2012 verletzt sich der 30-Jährige bei einer Friedensmission im Kosovo beim Reiten, erhält Heimaturlaub und kehrt für ein paar Wochen ins Elternhaus zurück.

Sein genau halb so alter Bruder Jakob schloss mit 13 die Hauptschule ab und macht seither die Hauptarbeit auf dem Hof, denn der Vater ist zumeist im In- und Ausland unterwegs, um Geld in Projekte zu investieren, von denen er sich 30 Prozent Rendite verspricht, die jedoch allesamt nur dazu führen, dass er Hektar für Hektar Land verkaufen muss. Der Großvater weigert sich, die jüngeren Generationen zu unterstützen und prahlt stattdessen mit den hohen Zinsen, die er für sein Vermögen erhält.

Alexander und Jakob haben noch eine Schwester. Luisa lebt jedoch nicht mehr in Österreich, sondern mit ihrem amerikanischen Ehemann Chet in Schweden. Erst als der Großvater 2013 stirbt, kommt sie mit ihrer zweijährigen Tochter Marie wieder ins Heimatdorf, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

In einem Nachbarort wird Silvia Hartmann, eine Bäckerin Mitte 40, ermordet. Der Täter dringt in ihr Haus ein und trennt ihr mit einer Axt den Kopf ab. Aufgrund von Indizien wird ein Mann namens Viktor S. als Mörder verurteilt, obwohl er die Gewalttat leugnet. Darüber wird nicht nur an den Stammtischen viel geredet.

Jakob ist mit dem drei Jahre älteren Bauernsohn Markus Berger befreundet. Dessen acht Jahre älterer Bruder lebt nicht mehr; er verübte Selbstmord. Ohne es eigentlich zu wollen, trifft Jakob sich häufiger mit Markus‘ Exfreundin Nina, die sich in einem Drogeriemarkt zur Verkäuferin ausbilden lässt. Als sie schwanger ist, bittet Jakob seine Großmutter um finanzielle Unterstützung. Er weiß von einem zum Verkauf angebotenen Bauernhof. Den würde er gern übernehmen, und damit hätte er auch ein Zuhause für die werdende Familie. Es kommt ihm nicht auf den Besitz an; er wäre schon zufrieden, wenn die Großmutter den Hof kaufen würde. Aber sie lehnt es kategorisch ab. Dafür sei er noch zu jung, meint sie. Um Geld zu verdienen, lässt Jakob sich vom Maschinenring einstellen, einem Verband von Landwirten, der Maschinen für die gemeinschaftliche Nutzung anschafft und Arbeitskräfte vermittelt. Eine Wohnung findet das Paar in einem der umliegenden Dörfer.

Nina ist noch keine 18 Jahre alt, als sie ein Kind zur Welt bringt. Jakob kann es kaum glauben, dass das alles in der Wirklichkeit geschieht. Einmal, als er nach Hause kommt und das unter Blähungen leidende Baby nicht zu schreien aufhört, packt er es zornig und muss sich beherrschen, um es nicht heftig zu schütteln oder gar gegen die Wand zu schleudern.

Er schluckte, um die Trockenheit aus seinem Mund zu vertreiben. Sein Blick hob sich und blieb auf Ninas Gesicht haften.
„Was ist?“, schrie er sie an. „Was schaust du so?“
Nie hatte er sie so gesehen. War sie eben noch gänzlich in Sorge und Verzweiflung und Hilflosigkeit aufgelöst dagestanden, war ihr nun etwas ganz anderes ins Gesicht geschrieben. Was war es? War es nur Angst? Schlagartig begriff er, dass sie wusste, was in ihm vorging, dass sie wusste, was er dachte und vorhatte, es vielleicht schon seit langem wusste – oder ihr klarwurde, dass sie es schon seit langem hätte wissen können –, und dass dieser ungekannte, entsetzliche, wie den Schädelknochen freilegende Gesichtsausdruck nichts als eine Bitte um Aufschub war.

Obwohl Alexander inzwischen als Oberleutnant im Verteidigungs­ministerium tätig ist, gibt er Anfang 2014 seine Wohnung in Wien auf und zieht in ein Dorf 20 Kilometer außerhalb der Stadt. Mit der Ehefrau seines Brigadiers fängt er heimlich eine Affäre an. Lieselotte („Lilo“) ist Ende 30, hat einen zehnjährigen Sohn und arbeitet als Sprecherin beim Fernsehen. Während Alexander sich im Lauf der Zeit ernsthaft in Lilo verliebt, beendet sie die Beziehung.

Obwohl er Lilo weiterhin liebt, geht ihm Elvira nicht aus dem Sinn. Sie ist inzwischen mit Erwin Hager verheiratet, einem Waldbesitzer und Betreiber einer Sägemühle, dessen erste Ehefrau früh starb. Hager hat die 50 bereits über­schritten, ist also deutlich älter als seine Frau. Elvira leitet eine Art Sekte. Alexander fährt eigens einmal hin und nimmt unerkannt an einer Andacht teil. Erstaunt stellt er fest, wie hässlich Elvira ist.

In der Presse und im Internet liest Alexander, dass der Prozess gegen Viktor S. wieder aufgenommen wird, weil sich ein neuer Entlastungszeuge gemeldet hat. Der wirkt vor Gericht jedoch unglaubwürdig, und das Urteil wird deshalb bestätigt. Alexander findet heraus, dass es sich bei dem Zeugen um Floris Mader handelt, und er fährt nach Linz, um mit ihm zu reden. Mader lässt durchblicken, dass ihn Freunde des Verurteilten zu der entlastenden Aussage anstifteten.

Markus Berger wurde Elektriker. 2014 erhängt er sich. Weil ein zweiter Strick gefunden wird, verbreitet sich das Gerücht, ein erweiterter Suizid sei geplant gewesen. Es stellt sich heraus, dass Markus der Vater von Ninas Kind war. Nachdem Nina und Jakob sich getrennt haben, spekulieren die Leute darüber, ob Jakob etwas mit Markus‘ Selbstmord zu tun hatte. Wegen des Geredes verliert er seine Anstellung beim Maschinenring. Er gibt seine Wohnung auf, zieht wieder ins Elternhaus und übernimmt das frühere Zimmer seines Bruders. Arbeit findet er bei Erwin Hager im Sägewerk. Der steht dem religiösen Engagement seiner Frau kritisch gegenüber, aber Jakob besucht regelmäßig Elviras Samstags-Andachten.

Seinem Vater missfällt es, dass er für Erwin Hager arbeitet, denn den hält er für kriminell. Hager habe seinen Besitz vergrößert, behauptet er, indem er Männer erpresste, die irgendwann einmal mit Elvira intim gewesen waren. Arbeitete nicht auch der Axt-Mörder vor seiner Verhaftung in der Sägemühle?! Vielleicht starb Hagers erste Frau keines natürlichen Todes.

Der Vater gibt es schließlich auf, Hirngespinsten nachzujagen. Er verkauft die letzte Kuh und resigniert.

Überraschend kommt auch Luisa mit Marie wieder zurück auf den Hof der Familie und teilt mit, dass sie sich scheiden lassen werde. „Auch das noch“, kommentiert der Vater. Zwar äußert sie die Absicht, nach Wien zu ziehen, aber vorerst bleibt sie auf dem Hof und versucht, einen guten Eindruck auf die Großmutter zu machen. Luisa rechnet fest damit, dass Marie Haupterbin wird, sorgt sich aber, dass das Vermögen bis zu Maries Volljährigkeit gesperrt bleiben könnte und sie nichts davon haben würde.

Die Großmutter denkt gar nicht daran, jemanden aus der Familie als Erben einzusetzen. Stattdessen vermacht sie ihr Vermögen der Partei der Rechten.

Enttäuscht und verärgert zieht Luisa mit ihrer Tochter nach Wien.

Der Brigadier erliegt unvermittelt einem Herzinfarkt. Als Lilo ins Büro kommt, um die Privatsachen ihres Mannes abzuholen, bietet ihr Alexander seine Hilfe an, aber sie weist ihn barsch zurück. Mehrere Monate geduldet er sich, dann überrascht er sie mit seinem Besuch und bringt ihr Blumen. Nach längerem Zögern lädt sie ihn ein, sich zu ihr in den Garten zu setzen.

Bald darauf zieht sie zu ihm und beabsichtigt, das Stadthaus in Wien zu verkaufen. Alexander wundert sich, als er bei ihren Sachen einen Zeitungsartikel über den Prozess gegen den Axt-Mörder findet.

Jakob ruft an und teilt seinem Bruder mit, dass er vorhabe, sich beim Militär zu verpflichten. Offenbar strebt er danach, von zu Hause fort zu kommen und seinen Weg zu finden.

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Der Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker handelt vom Niedergang der Bauernfamilie Fischer in einem oberösterreichischen Dorf. Die Großeltern sind wohlhabend, aber der Sohn, der sich von unrealistischen Rendite-Versprechungen zu Investitionen in ausländische Projekte verleiten lässt, ruiniert den Hof, und die Enkel müssen eigene Wege suchen. Im Zentrum stehen drei Jahre im Leben der zu Beginn 15 bzw. 30 Jahre alten Brüder Jakob und Alexander. Jede der Personen in „Fremde Seele, dunkler Wald“ ist einsam, und statt Solidarität gibt es unter den Dorfbewohnern üble Nachrede. Das Landleben ist alles andere als ein Idyll.

Zu den wortkargen, beziehungslosen Romanfiguren passt die lakonische Sprache, die wirkt, als sei sie aus der Zeit gefallen. Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt kapitelweise im Wechsel von Jakob und Alexander. Er spart Übergänge aus, deutet vieles nur an und lässt einiges offen. So spiegelt die Form den Zustand der Hauptfiguren, die Halt und Orientierung verloren haben.

Der Titel stammt aus dem Motto, das Reinhard Kaiser-Mühlecker seinem Roman vorangestellt hat. Es handelt sich um ein Zitat von Iwan Turgenjew: „Du weißt ja, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald“.

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in der oberösterreichischen Kleinstadt Kirchdorf an der Krems geboren. In Wien studierte er Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung. 2008 debütierte er als Schriftsteller mit dem Roman „Der lange Gang über die Stationen“. Es folgten: „Magdalenaberg“ (2009), „Wiedersehen in Fiumicino“ (2011), „Die Therapie. Ein Stück“ (2011), „Roter Flieder“ (2012), „Schwarzer Flieder“ (2014). „Fremde Seele, dunkler Wald“ kam 2016 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wiedersehen in Fiumicino
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Schwarzer Flieder
Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer

Iwan Bunin - Vera
Unter dem Titel "Vera" sind fünf Erzählungen aus dem Jahr 1912 zusammengefasst. Iwan Bunin beobachtet die Protagonisten, versucht aber nicht, ihr Verhalten zu analysieren. Mit den derben Charakteren kontrastieren edle Pferde und die karge Naturschönheit der Landschaft.
Vera