Patrick Modiano : Die Kleine Bijou

Die Kleine Bijou
Originalausgabe: La Petite Bijou Gallimard, Paris 2001 Die Kleine Bijou Übersetzung: Peter Handke Carl Hanser Verlag, München 2003 ISBN: 3-446-20272-2, 149 Seiten dtv, München 2013 ISBN: 978-3-423-14243-4, 149 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als die 19-jährige Thérèse in der Pariser Metro eine Frau sieht, die ihre Mutter sein könnte, wühlen traumatische Erinnerungen sie auf. Sie war sieben Jahre alt, als die Mutter sie einer Freundin in Frankreich überließ und sich nach Marokko absetzte. Angeblich starb sie dort. Für Thérèse ist es ein Rätsel, warum ihre Mutter sie im Stich ließ. Wer ihr Vater war, weiß Thérèse ebenso wenig. Ohnehin verunsichert, verwirrt und orientierungslos, gerät sie durch die Begegnung mit der Frau in eine Krise ...
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Kritik

Weil der leise, melancholische Roman "Die Kleine Bijou" in der Ich-Form geschrieben ist, erleben wir die Verwirrung der Protagonistin mit. Patrick Modiano entwickelt die Geschichte zurückhaltend, lakonisch und unsentimental. Vieles wird nur angedeutet, manches ausgespart.
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Im Vorabendgedränge an der Pariser Metrostation Châtelet fällt der 19-jährigen Thérèse eine Frau in einem abgetragenen gelben Mantel auf, die sie an ihre Mutter erinnert. Bei näherem Hinsehen verstärkt sich ihr Eindruck, dass es sich tatsächlich um ihre Mutter handelt, die Frau, die sie vor zwölf Jahren zurückließ, sich nach Marokko absetzte und dort angeblich später starb. Thérèse folgt ihr in die Metro Richtung Château de Vincennes, steigt dann mit ihr in Bérault aus, beobachtet, wie die Frau in einer Telefonzelle ein Gespräch führt und setzt sich anschließend ebenso wie sie in ein Café. Es ist längst dunkel, als sie auf die Straße zurückkommen. Die Frau kauft noch Konserven in einem Lebensmittelladen und betritt dann eine Mietskaserne mit mehreren Eingängen. Nachdem Thérèse herausgefunden hat, wo sie wohnt, kehrt sie um und fährt mit der Metro in der Gegenrichtung nach Hause.

In Thérèses Geburtsurkunde steht als Name der Mutter Suzanne Cardères. Auch ihr Geburtsjahr ist vermerkt: 1917. Sie ist also jetzt um die 50. Der Vater sei unbekannt, heißt es in der Urkunde, und Thérèse hat nie etwas über ihn erfahren.

Suzanne Cardères war nach Paris gekommen, um Ballerina an der Oper zu werden, aber es reichte nur für drittklassige Revuen und ihre Träume zerschlugen sich. Als Thérèse sieben Jahre alt, nannte sich die Mutter – „la boche“, wie hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde – Comtesse Sonia O’Dauyé und rief ihre Tochter statt mit dem Namen nur noch „kleine Bijou“. Damals bekam sie eine Nebenrolle in dem Film „Die Straße der Bogenschützen“, und die kleine Bijou spielte auch am Set ihre Tochter.

Sie hatte es nicht geschafft, Ballerina zu werden, und jetzt, unter einem anderen Namen, spielte sie in einem Film, in den sie mich einbezog wie ein dressiertes Hündchen. Und in diesen Film eingekauft worden war sie, so wurde […] geredet, von dem Mann, von dem niemand wusste, wie er hieß.

Zwei Jahre zuvor hatte sie ihre damals fünfjährige Tochter in ein Pensionat gebracht. Als das Kind einmal vergeblich darauf wartete, abgeholt zu werden, rannte es allein los und wurde beim Überqueren einer Straße von einem Lieferwagen umgefahren. Später besuchte die kleine Bijou das Kolleg Saint-André, aber kurz nach den Dreharbeiten für „Die Straße der Bogenschützen“ setzte die Mutter ihre Tochter mit einem um den Hals gebundenen Zettel an der Gare d’Austerlitz in einen Zug und schickte sie zu ihrer Freundin Frédérique Chatillon nach Fossombronne-la-Forêt. Dort erhielt die kleine Bijou eine Karte ihrer Mutter aus Casablanca. „Sei von Herzen umarmt“, stand da, aber die Mutter hatte nicht einmal ihren Namen daruntergesetzt. Im Zimmer der kleinen Bijou in Fossombronne-la-Forêt hing ein Porträt.

Man hatte mir gesagt: „Es ist das Porträt deiner Mutter.“ Ein Mensch mit Namen Tola Soungouroff hatte es gemalt, in Paris.

Warum die Mutter Frankreich verließ, weiß Thérèse bis heute nicht. Sie erinnert sich nur, im Alter von etwa 13 Jahren eine Bemerkung der Erwachsenen aufgeschnappt zu haben: „Zum Glück hat Sonia Paris rechtzeitig verlassen.“ Aber sie wagte nicht, Frédérique um eine Erläuterung zu bitten.

Thérèse fährt nun an mehreren Abenden um die gleiche Zeit mit der Metro nach Vincennes und setzt sich in das Café, aber erst nach fünf Wochen sieht sie die Frau im gelben Mantel wieder.

Wir näherten uns dem Wohnblock, und wie beim ersten Mal hatte ich nicht die Kraft, sie anzureden.

Statt die Frau anzusprechen, wendet sich Thérèse an die Concierge, die aufgrund der Beschreibung meint, es müsse sich um Madame Boré handeln, Stiege A, Etage 4. Boré – so ähnlich hieß damals ein Mann, der die kleine Bijou ein, zwei Jahre lang jeden Donnerstag mit in seine Autowerkstatt nahm und angeblich der Bruder ihrer Mutter war. Inzwischen denkt Thérèse, dass Jean Bori ihr Vater gewesen sein könnte.

Vor einiger Zeit lernte Thérèse in der Buchhandlung Mattei am Boulevard de Clichy einen Mann Mitte 20 kennen. Mit ihm trifft sie sich nun hin und wieder. Er heißt Moreau-Badmaev. Als sie ihn nach seinem Vornamen fragt, antwortet er:

„Kein Vorname. Nennen Sie mich Badmaev. Oder, wenn es Ihnen lieber ist, Moreau.“

Der Name Badmaev stamme von seinem russischen Vater, den er kaum gekannt habe, erklärt er. Moreau-Badmaev beherrscht eine ganze Reihe von Fremdsprachen und wird von einer Thérèse unbekannten Organisation dafür bezahlt, Radiosendungen in fremden Sprachen zu übersetzen und Zusammenfassungen zu schreiben. Er leiht Thérèse ein Buch mit dem Titel „An den Grenzen des Lebens“.

Auf der Suche nach einem Zimmer stößt Thérèse in den Lokalanzeigen auf die Adresse, die auch in ihrer Geburtsurkunde steht. Damals war da ein Hotel, in dem ihre Mutter wohnte. Ein etwa 50 Jahre alter Mann, der das Gebäude vor einiger Zeit kaufte und die Zimmer in Studios umwandeln ließ, vermietet ihr eines davon, und sie malt sich aus, dass es das Hotelzimmer ihrer Mutter gewesen sein könnte.

Seit einiger Zeit sorgt Thérèse mit wechselnden Halbtagstätigkeiten für ihren Lebensunterhalt. Bei der Agentur André Taylor vermittelt man ihr zwei oder drei Wochen nach dem Abend, an dem sie meinte, ihre Mutter an der Station Châtelet wiedergesehen zu haben, eine Stelle als Kindermädchen bei der Familie Valadier in Neuilly. Das Ehepaar ist Mitte 30 und wohnt mit der siebenjährigen Tochter in einer Villa. Thérèse soll von montags bis freitags je drei Stunden lang auf das Kind aufpassen, das nie mit dem Vornamen gerufen, sondern immer nur „die Kleine“ genannt wird. Die Mutter möchte allerdings nicht mit „Madame“, sondern mit „Véra“ angesprochen werden. Und den Vater der Kleinen soll Thérèse Michel nennen. Thérèse wundert sich darüber, dass auf seiner Geschäftskarte eine andere Adresse steht und es in seinem Arbeitszimmer keine Sitzmöbel gibt.

Am ersten Sonntag nach ihrer Anstellung bei den Valadiers fährt Thérèse erneut nach Vincennes und spricht noch einmal mit der Concierge, die ihr erzählt, Madame Boré habe einen Spitznamen: „Man nennt sie Täusche-den-Tod.“ Die Frau wohne seit mehr als sechs Jahren in diesem Haus. (Vor sechs Jahren lebte Thérèse noch bei Frédérique Chatillon nach Fossombronne-la-Forêt.) Längere Zeit sei sie regelmäßig von einem Nordafrikaner besucht worden. Aber den hat die Concierge schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Als sie klagt, dass Madame Boré mit der Miete in Rückstand sei und ihr persönlich Geld schulde, gibt Thérèse ihr alle Geldscheine, die sie bei sich hat.

Dann geht sie zur vierten Etage in Stiege A hinauf und sieht, dass aus dem kleinen vergoldeten Schild mit der Gravur COMTESSE SONIA O’DAUYÉ ein Papierchen aus einem Schulheft mit nichts als BORÉ geworden ist. Thérèse bringt es nicht fertig, zu klingeln.

Auf dem Heimweg strandet sie in einer an diesem Sonntagabend dienstbereiten Apotheke. Die Apothekerin, die zehn oder fünfzehn Jahre älter als Thérèse ist, lässt sie erst einmal ausruhen, schließt dann die Apotheke und bringt sie nach Hause.

Noch bei niemandem waren mir eine solche Sanftmut und zugleich eine solche Festigkeit begegnet.

Die Apothekerin wundert sich, dass Thérèse keine Vorhänge hat.

Ich habe ihr versichert, ich bräuchte keine Vorhänge. Das einzige, was fehlte, war ein Fauteuil, oder wenigstens ein Stuhl. Doch bis jetzt hatte ja niemand mich besucht.

Auf eine entsprechende Frage der Apothekerin lügt Thérèse, sie studiere am Institut für orientalische Sprachen und übersetze zusammen mit einem Freund ausländische Radiosendungen. Als sie die Apothekerin bittet, über Nacht zu bleiben, damit sie nicht allein bleiben muss, erfüllt ihr diese den Wunsch.

An einem der nächsten Tage dauert es eine Weile, bis Véra Valadier öffnet. Offenbar hat sie nicht mit dem Kindermädchen gerechnet. Die Kleine sei noch im Internat, sagt sie. Nachdem Thérèse einen jungen Mann weggehen sah, hilft sie Véra, das zerwühlte Bett zu richten. Das Tablett mit der geleerten Champagnerflasche und den Gläsern stellt Véra in einen Schrank. Sie sind kaum fertig, da steigt Michel Valadier mit einem Lederkoffer aus einem Taxi.

Bevor Thérèse losgeht, um die Kleine zu holen, drängt das Ehepaar sie, dem Kind den Wunsch nach einem Hund auszureden. Als Thérèse und die Kleine dann vom Internat nach Hause kommen, sind Véra und Michel am Aufbrechen.

„Ja, wir müssen gehen …“
Sie sagte zu der Kleinen:
„Im Kühlschrank ist eine Scheibe Schinken für dich. Ich glaube, heute Nacht kommen wir spät zurück …“
Die Kleine hatte sich mir genähert, und jetzt nahm sie meine Hand und umschloss sie fest, wie jemand, den man im Finstern führen soll.
„Es ist besser, Sie gehen auch“, sagte Véra Valadier zu mir. „Sie muss sich daran gewöhnen, allein zu sein.“

Auf dem Heimweg erinnert sich Thérèse an den schwarzen Pudel, den sie als Kind hatte.

Meine Mutter kümmerte sich nie um ihn, und im übrigen, so denke ich heute, wäre sie unfähig gewesen, sich um einen Hund zu kümmern, so wenig wie um ein Kind. Diesen Hund hatte ihr sicher jemand geschenkt. Für sie war er ein bloßes Accessoire, dessen sie wohl sehr rasch müde wurde.

Die Mutter schrieb die kleine Bijou dann in der Ballettschule ein, und das Kind war jeden Tag von morgens bis abends dort, ohne den Hund mitnehmen zu können. Eines Abends suchte sie vergeblich nach dem Tier, und die Mutter erklärte ihr daraufhin, sie habe den Hund im Bois de Boulogne verloren. Thérèse erinnert sich noch an Fetzen eines Traumes, den sie danach hatte:

LA BOCHE MUSSTE GETÖTET WERDEN AUS RACHE FÜR DEN HUND

Während sich die Apothekerin zwei Tage lang in Bar-sur-Aube aufhält, sucht Thérèse Zuflucht bei Moreau-Badmaev. Der hört ihr zu und ahnt offenbar auch, was sie seit der Begegnung mit der Frau in der Metro aufwühlt.

„Eins verstehe ich nicht. Warum ist Ihre Mutter nach Marokko verschwunden und hat Sie allein gelassen?“
Wie war es sonderbar, jemanden die Fragen stellen zu hören, die man bis dahin nur sich selber gestellt hat …

Weil Thérèse zu verzweifelt ist, um auf das Kind aufpassen zu können, meldet sie sich mit einem Rohrpostbrief bei der Familie Valadier krank.

Als die Apothekerin wieder in Paris ist, verabredet Thérèse sich mit ihr im Café de la Place Blanche. Die Apothekerin bringt Hustensaft und Schlaftabletten mit. Außerdem rät sie ihr zu Vitamin B12-Spritzen. Weil Thérèse sich vor dem Alleinsein fürchtet, begleitet die Apothekerin sie nicht nur nach Hause und verbringt die Nacht bei ihr, sondern lädt sie auch ein, das Wochenende mit ihr in Bar-sur-Aube zu verbringen.

Am nächsten Tag fährt Thérèse wieder zu den Valadiers, aber an dem Haus sind die Fensterläden geschlossen.

Zurück in ihrem Zimmer, schluckt sie alle Schlaftabletten, die sie von der Apothekerin bekam, trinkt Mineralwasser dazu und isst Schokolade.

Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie in einem Krankenhaus. Sie vermutet, dass die Apothekerin sie hergebracht hat.

Lange war ich eingeschlossen gewesen in Eis, und jetzt schmolz es und floss weg. […] Später wurde mir erklärt, es habe keinen Platz mehr gegeben, und so sei ich in den Saal der Frühgeburten gelegt worden. Noch lange habe ich das Brausen der Wasserfälle gehört, als ein Zeichen, dass auch für mich, von diesem Tag an, das Leben begann.

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Als die 19-jährige Thérèse in der Pariser Metro eine Frau sieht, die ihre Mutter sein könnte, wühlen traumatische Erinnerungen sie auf. Sie war sieben Jahre alt und wurde statt mit ihrem Namen „kleine Bijou“ gerufen, als ihre Mutter sie einer Freundin in Frankreich überließ und sich nach Marokko absetzte. Angeblich starb sie dort. Für Thérèse ist es ein Rätsel, warum ihre Mutter sie ihm Stich ließ. Hatte sie sich in der Besatzungszeit mit Deutschen eingelassen? Wer ihr Vater war, weiß Thérèse ebenso wenig. Sie hat nur eine abgebrochene Schulausbildung, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und wohnt in einem kleinen Zimmer. Ohnehin verunsichert, verwirrt und orientierungslos, gerät Thérèse durch die Begegnung mit der Frau in der Metro in eine Krise.

Weil der Roman „Die Kleine Bijou“ in der Ich-Form geschrieben ist, erleben wir mit, wie sich diese Krise im Verlauf weniger Tage verschärft. Mehr als die Protagonistin erfahren wir auch nicht. Für sie und uns bleibt es ein Rätsel, warum Suzanne Cardères alias Comtesse Sonia O’Dauyé ihre Tochter im Stich ließ und ob sie noch lebt oder nicht. Durch die subjektive Perspektive einer durch die Krise dem Alltag entrückten Person mutet „Die Kleine Bijou“ ein wenig surreal und schwebend an.

Die Atmosphäre ist melancholisch. Patrick Modiano entwickelt die Geschichte sehr zurückhaltend, lakonisch und unsentimental. Vieles wird nur angedeutet, manches bleibt ausgespart, nichts wird erläutert. „Die Kleine Bijou“ ist trotz der Verzweiflung der Hauptfigur ein leiser Roman, und Patrick Modiano vermeidet jegliche Effekthascherei.

Peter Handke hat den Roman ins Deutsche übertragen.

Das französische Wort bijou bedeutet übrigens Schmuckstück. In diesem Zusammenhang würde man es wohl mit Schätzchen übersetzen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.