Patrick Modiano : Unsichtbare Tinte

Unsichtbare Tinte
Encre sympathique Éditions Gallimard, Paris 2019 Unsichtbare Tinte Übersetzung: Elisabeth Edl Carl Hanser Verlag, München 2021 ISBN 978-3-446-26918-7, 141 Seiten Taschenbuch: Deutscher Taschenbuch-Verlag, dtv, München 2022 ISBN 978-3-423-14846-7, 141 Seiten ISBN 978-3-446-26994-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Vor langer Zeit erhielt der in Paris lebende Ich-Erzähler den Auftrag, nach einer verschwundenen jungen Frau zu suchen. Es gelang ihm nicht, viel über Noëlle Lefebvre herauszufinden, und er kündigte nach wenigen Monaten in der Agentur. Aber der Fall lässt ihn nicht los, und er befragt Menschen, die Noëlle Lefebvre kannten ...
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Kritik

Es geht um Suchen, Erinnern und Vergessen. Zugleich veranschaulicht Patrick Modiano die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Er deutet vieles nur an und lässt fast alles offen. "Unsichtbare Tinte" ist ein unspektakulärer und handlungsarmer, kluger, hintergründiger und kunstvoller Roman.
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Der Auftrag

Jean Eyben, „nicht älter als zwanzig“, lässt sich Mitte der Sechzigerjahre bei der Privatagentur von Hutte in Paris probeweise anstellen.

Ich hatte gedacht, diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete. Die Schule des Lebens, sozusagen.

Als erstes soll Jean nach einer jungen Frau namens Noëlle Lefebvre suchen, die spurlos verschwunden ist. Einige Wochen zuvor erteilte der schätzungsweise um die 50 Jahre alte Klient Georges Brainos der Agentur den Auftrag und erklärte, er sei ein Freund der Vermissten. Außerdem übergab er eine Berechtigungskarte für den gebührenfreien Empfang postlagernder Briefsendungen für Noëlle Lefebvre in Paris. Inzwischen hat Hutte ein Karteiblatt über Noëlle Lefebvre angelegt, aber die Informationen sind sehr spärlich. Nicht einmal der Geburtsort ist bekannt; da heißt es nur „ein Dorf in der Umgebung von Annecy, Haute-Savoie“.

Die Gegend kennt auch Jean aus seiner Jugend.

Die Concierge, die er befragt, hat Noëlle Lefebvre seit Wochen nicht mehr gesehen und kann sonst nichts dazu sagen.

Gérard Mourade, der als Statist bei Filmen arbeitet, um die Schauspielschule Paupelix besuchen zu können, behauptet, nach Noëlle sei auch ihr Ehemann Roger verschwunden. Jean, der den Nachnamen nur gesagt bekommt, nimmt zunächst an, er schreibe sich Behaviour, erfährt jedoch 15 Jahre später, dass Béavioure die korrekte Schreibweise ist.

Dass Noëlle Lefebvre verheiratet gewesen sein soll, wusste Jean noch nicht. Gérard Mourade hat von Roger Béavioure einen Schlüssel zur Wohnung des Ehepaars bekommen und nimmt ihn mit. Unbemerkt steckt Jean einen Taschenkalender der Gesuchten ein, den er in einem Geheimfach entdeckt hat. Aber viel ist den Eintragungen nicht zu entnehmen:

Von Januar bis Juni, ein paar Namen, ein paar Adressen, ein paar Orte und Verabredungen.

Im Postamt händigt man Jean, der Noëlle Lefebvres Postlagerkarte vorweist, einen Brief aus. Der Absender, Georges Brainos, erwähnt zwei Männernamen: „Sancho“ und „Paul Morihien“.

Nach ein paar Monaten kündigt Jean in der Agentur. Den Verbleib von Noëlle Lefebvre konnte er nicht aufklären, und der Fall scheint Hutte auch nicht weiter zu interessieren. Das Karteiblatt darüber steckt Jean heimlich ein.

Zeuginnen und Zeugen

Knapp zwei Jahre nachdem Jean die Agentur verließ, kommt er am Lederwarengeschäft Lancel vorbei, in dem Noëlle Lefebvre zuletzt beschäftigt war – und fragt kurzerhand nach ihr. Die Verkäuferin Françoise Steur betrachtete sich als deren Freundin, hat jedoch auch seit zwei Jahren nichts mehr von ihr gehört. Sie verabredet sich mit Jean nach Dienstschluss in einem nahen Café, schlägt dann aber einen Spaziergang vor.

„Komisch“, sagte sie. „Mir ist, als hätte ich Sie mal gesehen mit ihr, im Café von
vorhin … bei Lancel gegenüber …“
„Nein. Sie irren sich.“
„Dann war es jemand, der Ihnen ähnlich sah …“

Weitere acht Jahre später, als er während eines Frisörbesuchs in einem Kinojahrbuch 1970 blättert, stößt er auf ein Foto von Gérard Mourade. Den Impresario, dessen Kontaktdaten angegeben sind, ruft er später an, aber die Agentur hatte ihm lediglich 1969 eine kleine Rolle in dem Stück „La Fin du monde“ am Théâtre Michel vermittelt.

An einem Stadtpalais in Paris bemerkt Jean ein Messingschild mit der Aufschrift „La Caravelle, Immobiliengesellschaft. P. Mollichi“. Den Namen Pierre Mollichi hörte er damals im Zusammenhang mit der Suche nach Noëlle Lefebvre. Er klingelt. Pierre Mollichi klärt ihn darüber auf, dass er Georges Brainos‘ Assistent gewesen sei und inzwischen die Gesellschaft des im letzten Jahr gestorbenen Unternehmers verwalte.

„Die Gesellschaft von Monsieur Brainos unterhielt ursprünglich Kinosäle in Brüssel und sogar einen Handel mit Ersatzteilen für Automobile […]. Anschließend gründete Monsieur Brainos eine Gesellschaft, die das Dancing de la Marine am Quai de Grenelle betrieb und La Caravelle, ein Restaurant im Champs-Élysées-Viertel …
Monsieur Brainos hatte mich zum Geschäftsführer des Dancing de la Marine ernannt, ein Lokal, das er sehr rasch wieder abstieß …“

Im selben Jahr läuft Jean in Paris einem Jugendfreund aus Annecy über den Weg, den er seit zehn Jahren nicht gesehen hat: Jacques B., genannt „der Marquis“. Und er fragt ihn, ob er in Annecy jemand namens Lefebvre gekannt habe. „Ja, klar“, lautet die Antwort: Sancho Lefebvre. Der habe Annecy vor etwa 15 Jahren verlassen, sei älter als sie beide und müsse jetzt um die 40 Jahre alt sein. 1962 oder 1963 gab es Gerüchte, dass Sancho Lefebvre mit einer 20-Jährigen zusammen sei und sie sogar geheiratet habe.

Durch Daniel V., eine Zufallsbekanntschaft, erfährt Jean, dass Sancho eigentlich Serge Servoz-Lefebvre heißt, 1932 in Annecy geboren wurde, ein Spieler ist und ein auffälliges Cabrio fährt. Sancho sei Georges Brainos‘ Sekretär und späterer Partner gewesen, fügt Daniel V. hinzu.

Jean beschleicht ein seltsames Gefühl.

Mir ist, als wäre alles schon geschrieben, mit magischer Tinte. […]
Diese Vorstellung von einer magischen Tinte ist mir erst vor ein paar Tagen gekommen, als ich wieder einmal in Noëlle Lefebvres Taschenkalender blätterte. Unter dem Datum 16. April: „Sancho wiedergesehen, im Caravelle, Rue Robert-Estienne. Ich hätte nicht wieder in dieses Lokal gehen dürfen. Was tun?“ Ich war mir sicher, nie zuvor hatte ich das gelesen, die Seite war früher weiß.

Der Schauspieler

Als Jean ein Schild mit der Aufschrift „Garage du Trocadéro R. Béavioure“ auffällt, betritt er das Büro und vergewissert sich, mit Roger Béavioure zu sprechen. Nach Noëlle Lefebvre gefragt, meint dieser:

„Sie sprechen von einer so fernen Zeit … Und von jemand, den ich nur ganz kurz gekannt habe … Gerade mal drei Monate … Was soll ich dazu noch sagen?“

Eine 20 Jahre jüngere Frau kommt herein. Roger Béavioure sagt ihr, bei seinem Besucher handele es sich um einen Interessenten für einen Oldtimer. Dann geht er mit Jean hinaus.

„Ich habe Noëlle gleich nach ihrer Ankunft in Paris kennengelernt … Sie kam aus der Provinz … von ich weiß nicht mehr welchem Berg … Sie war verheiratet, mit einem älteren Mann … Ich war jung, und was mich beeindruckt hatte, dieser Typ besaß ein amerikanisches Cabrio …“

Gérard Mourade habe eine Weile bei ihm gewohnt, sagt Roger Béavioure.

„Das war ein Spinner … Der erzählte das Blaue vom Himmel … Er hat sich sogar bei der Polizei angezeigt und behauptet, er habe wen umgebracht …“

Da erinnert sich Jean, von Jacques B., dem „Marquis“, nach dem Wiedersehen einen Brief erhalten zu haben, dem ein fünf Jahre alter Zeitungsartikel mit der Schlagzeile „Eingesperrter Schauspieler tötet einen seiner Bewacher“ beilag. In dem Bericht ist von einem André Vernet die Rede, der als Bühnenkünstler den Namen Gérard Mourade verwendete. Inhaftiert war er, weil er sich selbst auf einem Polizeirevier als Mörder angezeigt hatte

Rom

Eine Französin, deren Namen wir nicht erfahren, lebt seit einem vorübergehenden Aufenthalt in Paris seit vielen Jahren in Rom. Sie hat zwar nie eine Familie gegründet, aber einen Sohn in Amerika. Mehrere Stunden pro Woche betreut sie die Galerie „Gaspard de la Nuit“ für den verreisten Besitzer, den ehemaligen Fotografen Gaspard Mugnani.

Den Franzosen, der die Galerie betritt, glaubt sie von früher zu kennen, vermeidet es jedoch, ihn darauf anzusprechen. Im zur Ausstellung gehörenden Depot reicht sie ihm einen Bildband von Gaspard Mugnani. Eine Bildlegende lautet: „Duccio Staderini, Sancho Lefebvre und Giorgio Costa“. Ob sie Sancho Lefebvre gekannt habe, fragt er, und sie erwidert: „Ein wenig. Als ich nach Rom kam, mit neunzehn.“ Sancho sei mit Georges Brainos befreundet gewesen, erzählt der Mann. Die Frau zuckt zusammen: Brainos! Ein Name, den sie vergessen hatte. Georges Brainos besaß das Schloss Chêne-Moreau in Pruniers-en-Sologne. Sie lügt jedoch und behauptet, nie von einem Brainos gehört zu haben.

Auch Erinnerungen waren tief im Eis verborgen geblieben, und dieser Name „Brainos“ hatte genügt, dass sie wieder auftauchten, ein bisschen eingeschleiert durch die Zeit. Daher fragte sie sich, war sie Brainos vor Sancho Lefebvre begegnet, oder hatte Sancho Lefebvre ihr Brainos vorgestellt? Ihr war vielmehr, als habe sie alle beide eines Sommers kennengelernt, im Grand Hôtel in Menthon-Saint-Bernard, wo sie Arbeit gefunden hatte. Auf jeden Fall war es Sancho Lefebvre, der sie davon überzeugte, „ihre Provinz“, wie er sich ausdrückte, zu verlassen, was er selbst ein paar Jahre zuvor schon getan hatte. Und in jenem Sommer hatte sie auch beschlossen, ihren Vornamen zu ändern. Warum aber ausgerechnet Noëlle?

Zuerst vor dem Ort fliehen, wo sie geboren war. Und dann vor Serge, genannt Sancho Lefebvre, fliehen, kurz nachdem sie ihn kennengelernt und eine Weile mit ihm in Rom gelebt hatte. Sich in Paris verstecken. Und nachdem Serge, genannt Sancho Lefebvre, sie gefunden hatte, wieder mit ihm nach Rom fliehen. Und nach seinem Tod in dieser Stadt bleiben, und das war die endgültige Flucht. Eine Flucht ohne Ende.

Erinnerungsbruchstücke bunt durcheinander, und alle gehörten in dieselbe Zeit ihres Lebens. Ein kleines Haus unter Bäumen, neben dem Schloss von Brainos in der Sologne. Im Erdgeschoss ein Raum mit dunkler Holztäfelung, dort stand ein Billardtisch. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Ein Mann hatte sie in Vierzon vom Bahnhof abgeholt, ein gewisser Paul, über den Sancho Lefebvre sagte, er habe „Glückszähne“. Sie hatte Sancho Lefebvre im Schloss von Brainos wiedergetroffen. Und nach einer Weile waren sie dann zu zweit losgefahren im Auto. Sologne. Annecy. Schweiz. Rom. Oder vielleicht Annecy. Côte d’Azur. Rom. Sie wusste nicht mehr, waren sie bei Ventimiglia über die italienische Grenze oder durch die Schweiz. Zurück in Rom, hatte sie diese Stadt nie wieder verlassen.

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Eine Handlung im engeren Sinn weist der Roman „Unsichtbare Tinte“ von Patrick Modiano nicht auf. Stattdessen folgen wir einem Ich-Erzähler, der in der Rückschau versucht, Ereignisse zu rekonstruieren, Verlorenes wiederzufinden. In „Unsichtbare Tinte“ geht es um Suchen, Erinnern und Vergessen. Zugleich veranschaulicht Patrick Modiano die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen nicht nur von anderen Zeugen, sondern auch der eigenen.

Zeugen darf man niemals trauen.

Die Linie eines Lebens verschwindet hinter diesem ganzen Wirrwarr. Wie soll man das Wahre vom Falschen unterscheiden, denkt man an die widersprüchlichen Fährten, die eine Person hinterlässt? Und über sich selbst, weiß man da mehr, wenn ich nach meinen eigenen Lügen und Auslassungen urteile oder nach meinen unbewussten Vergesslichkeiten?

Der Ich-Erzähler versucht immer wieder vergeblich, Ordnung in seine Nachforschungen zu bringen und eine chronologische Reihenfolge einzuhalten, damit Erinnerung und Vergessen nicht durcheinandergeraten. Schließlich gibt er auf:

Ich glaube, es ist besser, ich lasse meiner Feder freien Lauf. Ja, die Erinnerungen kommen mit dem Kritzeln der Feder. Man darf sie nicht erzwingen […].

Ich habe mich nie an eine chronologische Reihenfolge gehalten. Sie hat für mich nie existiert. Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich in einer Art Transparenz […].

Und wenn ich dieses Buch immer weiter schreibe, dann einzig und allein in der vielleicht trügerischen Hoffnung, eine Antwort zu finden. Ich frage mich: Braucht es wirklich eine Antwort? Ich fürchte, hat man einmal alle Antworten gefunden, dann wird das Leben hinter einem zuschnappen wie eine Falle, mit dem Schlüsselgeklirr von Gefängniszellen.

Der Titel „Unsichtbare Tinte“ bezieht sich darauf, dass der Erzähler den Eindruck hat, dass in Noëlle Lefebvres Taschenkalender auf zuvor leeren Seiten nach einiger Zeit Eintragungen auftauchen. Er vermutet, dass sie mit Geheimtinte geschrieben wurden. Darüber hinaus meint der Autor:

Das bestärkte mich in der Vorstellung, wenn du manchmal Gedächtnislücken hast, so stehen alle Einzelheiten deines Lebens irgendwo geschrieben, mit magischer Tinte.

Patrick Modiano deutet vieles nur an und lässt fast alles offen. „Unsichtbare Tinte“ ist ein unspektakulärer und handlungsarmer, kluger, hintergründiger und kunstvoller Roman. Bemerkenswert ist, dass der Nobelpreisträger im letzten Viertel unvermittelt die Perspektive wechselt, von einem männlichen Ich-Erzähler in Paris zu einer Frau in Rom, deren Namen wir nicht erfahren. Der Teil aus ihrem Blickwinkel ist in der dritten Person Singular verfasst.

Den Roman „Unsichtbare Tinte“ von Patrick Modiano gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Walter Kreye.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Martin Walser - Ein sterbender Mann
Der Protagonist äußert sich in Briefen, Mails, Postings, Selbst­ge­sprächen ... Eingestreut sind auch Texte anderer Figuren. Daraus ergibt sich eine heterogene Mixtur selbst­ironischer, tragikomischer, sarkas­tischer, grotesker, satirischer Passa­gen: "Ein sterbender Mann" von Martin Walser.
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