Morton Rhue : Die Welle

Die Welle
Originalausgabe: The Wave New York, 1981 Übersetzung: Hans-Georg Noack Ravensburger Buchverlag 1984 ISBN 3-473-58008-2, 186 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein junger amerikanischer Lehrer beweist seinen Schülern in einem Experiment, dass die Anfälligkeit für faschistisches Denken und Handeln immer über überall vorhanden ist. Wohlerzogene Schüler aus der Mittelschicht lassen sich so manipulieren, dass sie eine faschistische Gemeinschaft bilden, die einen Konformitätsdruck erzeugt und Nicht-Mitglieder bedroht.
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Kritik

Stilistisch und sprachlich hebt sich der Jugendroman "Die Welle" von Morton Rhue kaum vom Durchschnitt ab, doch das Buch ist lesenswert, weil darin ein 1969 von dem Lehrer Ron Jones in einer High School in Palo Alto, Kalifornien, tatsächlich durchgeführtes Experiment beschrieben wird.
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Ben Ross, ein engagierter Geschichtslehrer an der Gordon High School, zeigt seiner Klasse einen Dokumentarfilm über die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Die meisten Schüler sind betroffen, und einige fragen, wieso auch Deutsche, die keine Anhänger der Nationalsozialisten waren, nichts gegen die Verbrechen einer Minderheit unternahmen. Ben weiß es nicht.

David Collins sagt nach der Filmvorführung zu seiner Freundin und Mitschülerin Laurie Saunders:

„Ich meine nur, das ist doch jetzt alles vorbei. Vergiss es! Es ist einmal geschehen, und die Welt hat etwas daraus gelernt. Es wird nie wieder geschehen.“ (Seite 32)

Am Abend denkt Ben noch einmal über die offenen Fragen zum Nationalsozialismus nach und beschließt, die Klasse in der nächsten Geschichtsstunde durch ein Experiment die Disziplinierung in einer Gemeinschaft erleben zu lassen. Vor dem Unterricht schreibt er an die Wandtafel: „Macht durch Disziplin!“ Ben verlangt von den Schülern, dass sie kerzengerade sitzen und bei jeder Wortmeldung aufspringen. Außerdem müssen sie jede Frage oder Antwort laut und zackig mit „Mister Ross“ beginnen. Verblüfft stellt er fest, dass die Schüler sich nicht gegen die neuen Vorschriften wehren, sondern nach kurzer Zeit begeistert mitmachen. Im Gespräch mit seiner Ehefrau Christy, die ebenfalls an der Gordon High School unterrichtet, wundert er sich:

„Weißt du, ich war überzeugt, sie hätten etwas dagegen, sie würden sich nicht zwingen lassen, wie die Puppen zu sitzen, aufzuspringen und ihre Antworten herauszuschreien. Aber sie haben sich eher so benommen, als hätten sie ihr Leben lang auf so etwas gewartet.“ (Seite 53)

Vor dem Beginn der nächsten Geschichtsstunde rechnet Ben damit, dass die Schüler wie üblich zu spät kommen und er dann erst einmal für Ruhe sorgen muss. Doch sie sitzen ausnahmslos pünktlich, aufrecht und schweigsam an ihren Plätzen. Spontan setzt er das Experiment fort und schreibt an die Wandtafel: „Macht durch Gemeinschaft!“

Da glaubt David, endlich ein Erfolgsrezept für das glücklose Footballteam gefunden zu haben: Disziplin und Gemeinschaft! Er will das Gruppengefühl, das er im Unterricht spürt und das Bewusstsein gesteigerter Energie auf die Sportmannschaft übertragen.

Für die neue Gemeinschaft führt Ben ein Symbol und einen speziellen Gruß ein: einen Kreis mit einer Welle im Zentrum und eine wellenförmige Handbewegung. Einige der Mitgliedskarten, die er verteilt, sind mit einem Kreuz markiert. Die Besitzer dieser Karten, erläutert Ben, sind verpflichtet, ihm jede beobachtete Regelverletzung unverzüglich zu melden.

Die dritte Maxime lautet „Macht durch Handeln!“ Und Ben fordert die Mitglieder der „Welle“ auf, tätig zu werden und neue Mitglieder anzuwerben.

In der neuen Gemeinschaft sind alle gleich, ordnet er an. Tatsächlich rufen die Schüler in der Cafeteria sogar ihren in der Hackordnung bisher ganz unten stehenden Klassenkameraden Robert Billings an den Tisch, denn er gehört wie sie zur „Welle“.

Trotz ihrer Skepsis gegenüber den Neuerungen fühlt auch Laurie sich von der Bewegung mitgerissen und spürt die gemeinsame Kraft. Da möchte sie nicht mit kritischen Bemerkungen stören.

Der Schuldirektor ist irritiert, aber Ben beruhigt ihn:

„Sie müssen verstehen, dass dieses Experiment gar nicht weiter gehen kann als ich es zulasse. Die ganze Grundlage der Welle ist die Idee einer Gruppe, die bereit ist, ihrem Führer zu folgen. Und solange ich damit zu tun habe, kann ich versichern, dass die Sache mir nicht außer Kontrolle geraten wird.“ (Seite 103)

In der von Laurie geleiteten Redaktion der Schülerzeitung trifft ein anonymer Brief ein, in dem berichtet wird, dass jüngere Schüler von älteren gedrängt werden, Mitglied der „Welle“ zu werden. Wer sich – wie der unbekannte Briefeschreiber – weigere, habe Angst.

Als Laurie am Samstagnachmittag zum Footballspiel geht, wird sie von einem Mitschüler aufgehalten: Ohne den Gruß der „Welle“ darf niemand auf die Tribüne.

In einer Sonderausgabe der Schülerzeitung berichtet Laurie über die Gründung der „Welle“ und die alarmierenden Vorfälle. In ihrem Leitartikel warnt sie vor der gefährlichen Bewegung, die jede Freiheit der Meinung und des Denkens unterdrücke. Die Schüler, die erst aus der Schülerzeitung erfahren, dass ein Mitschüler, der sich geweigert hatte, der „Welle“ beizutreten, verprügelt wurde, tun die Berichte als Lügen ab.

Christy drängt ihren Mann, das Experiment abzubrechen, aber Ben weigert sich, denn das wäre seiner Meinung nach unverantwortlich.

„Ich muss sie so weit treiben, dass sie von selbst begreifen. Vielleicht lernen sie so die wichtigste Lektion ihres Lebens.“ (Seite 145)

Weil Laurie noch Artikel für die Schülerzeitung geschrieben hat, ist das Schulhaus menschenleer, als sie zu ihrem Schrank geht. Erschrocken liest sie, was da mit roter Farbe hingesprüht wurde: „Feindin“. Panisch vor Angst rennt sie aus dem Schulhaus. Draußen hat David auf sie gewartet. Er möchte sie von den Vorzügen der „Welle“ überzeugen und von ihrer kritischen Haltung abbringen. Laurie bleibt jedoch bei ihrer Meinung. Ihre Hartnäckigkeit macht David so zornig, dass er sie an den Armen packt und zu Boden schleudert. Das bringt ihn schlagartig zur Vernunft, und er geht mit Laurie, die glücklicherweise nicht ernsthaft verletzt wurde, zu Ben Ross, um die sofortige Auflösung der „Welle“ zu fordern.

Ben hat bereits eingesehen, dass er das Experiment beenden muss, weil es sonst der von beunruhigten Eltern und Lehrern bedrängte Schuldirektor tun würde. Er weiß auch bereits, wie er das Ende herbeiführen wird. Um seinen Plan nicht zu gefährden, verrät er Laurie und David nicht, was er vorhat, sondern bittet sie, ihm zu vertrauen.

Am nächsten Tag beruft Ben eine Mitgliederversammlung der „Welle“ in die Aula ein und behauptet, dass die Bewegung das ganze Land erfasst habe und für eine bessere Gesellschaft mit geringerer Arbeitslosigkeit, weniger Verbrechen und höherer Moral sorgen werde. Dann lässt er zwei auf dem Podium aufgestellte Fernsehgeräte einschalten und kündigt eine Ansprache des nationalen Führers der „Welle“ an. Erwartungsvoll starren die Schüler auf die Mattscheiben. Die flimmern jedoch nur. Unvermittelt werden Dokumentaraufnahmen Adolf Hitlers auf die Leinwand projiziert. Ben macht den Schülern klar, dass sie genau wie die Deutschen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren bereit waren, unkritisch einem Führer zu folgen.

„Ihr kamt euch besser vor als alle anderen außerhalb dieser Aula. Ihr habt eure Freiheit gegen das verschachert, was man euch als Gleichheit vorgesetzt hat. Aber ihr habt die Gleichheit in Vorherrschaft über die Nicht-Mitglieder verwandelt. Ihr habt den Willen der Gruppe über eure eigenen Überzeugungen gestellt, auch wenn ihr dadurch andere verletzen musstet […]
Faschismus, das ist nicht etwas, das nur andere Menschen betrifft. Faschismus ist hier mitten unter uns und in jedem von uns […]“ (Seite 175f)

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Stilistisch und sprachlich hebt sich der Jugendroman „Die Welle“ von Morton Rhue kaum vom Durchschnitt ab, doch das Buch ist lesenswert, weil darin ein 1969 von dem Lehrer Ron Jones in einer High School in Palo Alto, Kalifornien, tatsächlich durchgeführtes Experiment beschrieben wird: Wohlerzogene Schüler aus der Mittelschicht ließen sich so manipulieren, dass sie eine faschistische Gemeinschaft bildeten, die einen Konformitätsdruck erzeugte und Nicht-Mitglieder bedrohte.

Was als bloßes Experiment im Geschichtsunterricht begonnen hatte, war zu einer Bewegung geworden, die sich jetzt auch außerhalb der Klasse fortentwickelte. (Seite 87)

Ron Jones sagte darüber in einem Interview:

„Also, am ersten Tag hatte ich noch alles genau durchgeplant – ich wollte ja eine engagierte Diskussion provozieren und damit dann das Experiment beenden. Als ich am zweiten Tag in die Klasse kam, erwartete ich, dass die Schüler wie immer in ihren Bänken herumlümmeln würden. Aber zu meiner Überraschung saßen alle in dieser merkwürdig disziplinierten Haltung vor mit und baten mich, doch weiterzumachen. Erst wollte ich aufhören, aber dann dachte ich: ‚Mal sehen, wie das weitergeht.'“ („Scholastic Voice“, 18. September 1981; hier: Seite 182)

Morton Rhue ist das Pseudonym eines 1950 in New York geborenen Schriftstellers, der nach dem Literaturstudium als Straßenmusiker durch Europa zog, dann seinen Lebensunterhalt als Journalist verdiente und schließlich mehrere Jugendromane veröffentlichte.

Dennis Gansel verfilmte das Buch „Die Welle“ mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle.

Die Welle – Regie: Dennis Gansel – Drehbuch: Dennis Gansel und Peter Thorwarth, nach dem Buch „Die Welle“ von Morton Rhue – Kamera: Torsten Breuer – Schnitt: Ueli Christen – Musik: Heiko Maile – Darsteller: Jürgen Vogel, Christiane Paul, Frederick Lau, Max Riemelt, Jennifer Ulrich, Jacob Matschenz, Cristina do Rego, Elyas M’Barek, Maximilian Vollmar, Maximilian Mauff, Ferdinand Schmidt-Modrow, Tim Oliver Schultz u.a. – 2008; 105 Minuten

Die Faszination des Faschismus, auf die dann das böse Erwachen folgt, das Kino nicht nur als moralische, sondern auch als pädagogische Anstalt – das hat Gansel auch schon in seinem Elite-für-den-Führer-Drama „Napola“ durchexerziert […]
Was gegen eine Verfilmung der „Welle“ sprach, war dann allerdings erst einmal das Buch selbst. Nicht nur unsagbar erfolgreich, sondern leider auch unsagbar schlecht, eine Art „Hanni und Nanni besiegen den Faschismus“ – und dieser Vergleich tut Enid Blyton noch Unrecht. Egal, fanden Gansel und sein Ko-Autor Peter Thorwart, wir sind sowieso viel hipper, wir nehmen den Mythos des realen Experiments jetzt mal mit und erfinden den Rest dann einfach dazu. So hat diese neue „Welle“ zwar mit ihren Vorläufern wenig zu tun – aber noch viel weniger damit, was sich im April 1967 an der Cubberley High School in Palo Alto, Kalifornien, tatsächlich zugetragen hat. Dass der reale Lehrer von damals, Ron Jones, jetzt mit Gansel & Co. auf Werbetour geht, sagt gar nichts – er ist, wie seine Website zeigt, inzwischen Handlungsreisender in Sachen Selbstvermarktung […] In der Wirklichkeit kam es nicht zu einem Highschool-Massaker mit Toten und Verwundeten, Schusswaffen waren nicht im Spiel, auch andere Formen von Gewalt sind nicht glaubwürdig überliefert. Der Lehrer, der das Experiment begonnen hatte, wurde nicht in Handschellen abgeführt, während ein jugendliches Liebespaar sich erleichtert in die Armen fallen durfte. Das, liebe Sozialkundelehrer, solltet ihr wissen. Diese Gewalt am Ende, die muss das deutsche Kino 2008 schon auf die eigene Kappe nehmen.
[…] Wer aber ausgerechnet damit vor dem Faschismus warnen will, dass er ihn aller Inhalte beraubt; wer die Gefahr ganz unhistorisch und undifferenziert in Nirgendwo verortet; und wer dann auch noch vorgibt, rettende Wachsamkeit zu verbreiten – der ist doch eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung. (Tobias Kniebe, Süddeutsche Zeitung)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2008
Textauszüge: © Ravensburger Buchverlag

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Nuala O'Faolain - Ein alter Traum von Liebe
Nuala O'Faolain erzählt nicht chronologisch, sondern bruchstückhaft in Rückblenden. Ihre erzählerische Stärke beweist sie nicht nur durch die gelungene Montage, sondern v.a. auch durch die unglaubliche Fülle von Details. "Ein alter Traum von Liebe" ist ein trauriger, gefühlvoller Roman.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.