Roberto Saviano : Gomorrha
Inhaltsangabe
Kritik
Während der Kran ihn auf das Schiff hievte, trudelte der Container, als schwimme er auf der Luft. Der Spreader, der ihn am Kran hält, konnte die Bewegung nicht stoppen. Die schlecht verriegelten Öffnungen sprangen plötzlich auf, und Dutzende von Körpern fielen heraus. Sie sahen aus wie Schaufensterpuppen. Doch beim Aufprall auf den Boden barsten die Köpfe, als wären es echte Schädel. Und es waren Schädel. Aus dem Container regnete es Männer und Frauen. Auch einige Kinder. Tot. Tiefgefroren, übereinandergepackt, hineingeschichtet wie Heringe in die Dose. Die Chinesen, die ewig leben. Die Unsterblichen, die ihre Papiere vom einen zum anderen weiterreichen. Hier also waren sie gelandet. Die Leichen, über die die wildesten Gerüchte umgingen, es hieß, sie würden in Restaurants verkocht, auf den Grundstücken um die Fabriken herum vergraben, in den Krater des Vesuv geworfen. Da waren sie. Zu Dutzenden purzelten sie aus dem Container, um den Hals Schildchen mit ihrem Namen. Alle hatten Geld beiseite gelegt, um sich in ihren Heimatorten in China begraben zu lassen. Ein Teil des Lohnes war einbehalten worden als Garantie für die Rückreise, als Tote. Ein Platz im Container und eine Grube in einem Fleckchen chinesischer Erde. (Seite 11)
Mit dieser reißerischen Szene beginnt Roberto Saviano sein Buch „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“. Im Hafen von Neapel, so referiert er, werden pro Jahr offiziell 1,6 Millionen Tonnen Waren aus China gelöscht, in Wirklichkeit mindestens eine halbe Million Tonnen mehr. Da 60 Prozent der Güter an der Zollkontrolle vorbeigeschleust werden, rechnet man mit 400 Millionen Dollar, die dem italienischen Fiskus pro Jahr entgehen.
Um Informationen zu sammeln, gibt Roberto Saviano in einer Hafenkneipe vor, eine Wohnung zu suchen. Daraufhin nimmt ihn ein Chinese namens Xian Zhu mit in eine Mietskaserne, die er von den Bewohnern nach und nach zu einem Warenlager umbauen lässt: Die Männer reißen die Wände heraus, um Platz für Kartons zu schaffen. Einmal ist Saviano dabei, als Xian Zhu mehrere Motorboote zu einem im Golf von Neapel ankernden Frachter schickt. Kartons, die Turnschuhe enthalten, werden in Netzen vom Schiff heruntergelassen, mit den Booten an Land gebracht und dort von Lieferautos übernommen.
Zwischen Neapel und Caserta gibt es den sogenannten „Las-Vegas-Gürtel“. Er heißt so, weil dort mitten im Nirgendwo Siedlungen wuchern. Im „Las-Vegas-Gürtel“ gibt es Gemeinden, in denen über 40 Prozent der Bevölkerung schwarzarbeiten, vor allem in der Texilindustrie. Früher beherrschten die zum „System“ – d. h. zur Camorra – gehörenden Clans von Secondigliano (Stadtteil im Nordosten von Neapel) dieses Geschäft. Italienische Modehäuser lassen – so Roberto Saviano – ihre Kollektionen in Schwarzarbeit nähen. Angeblich zeigte sich Angelina Jolie bei einer „Oscar“-Verleihung in einem in Arzano schwarzgeschneiderten weißen Hosenanzug.
Er [der Schwarzarbeiter Pasquale] arbeitete an Kleidern und Modellen, die direkt von den Modeschöpfern kamen. Modelle nur für seine Hand. (Seite 42)
Das System versorgt den großen internationalen Bekleidungsmarkt, das Universum der italienischen Mode in aller Welt. (Seite 51)
In das Geschäft mit der Haute Couture drängen inzwischen Chinesen. Roberto Saviano begleitet Xian zu einer Auktion: Unternehmer, die selten mehr als zehn Arbeiter beschäftigen – mehr als die Hälfte davon Frauen – versuchen sich gegenseitig in Preis und Lieferfrist zu unterbieten, um die ausgerufenen Aufträge für das Schneidern einer bestimmten Anzahl von Kleidungsstücken zu bekommen.
Die chinesischen Fabriken in China verdrängten die chinesischen Fabriken in Italien vom Markt. So brachen Prato, Rom und die Chinatowns in ganz Italien kläglich zusammen: sie waren so schnell gewachsen, dass der Verfall noch rasanter vor sich ging. Nur auf einem einzigen Weg konnten sie sich retten: die Arbeiter mussten lernen, für die Haute Couture zu arbeiten und in Italien höchste Qualität zu liefern. Sie mussten von den Italienern, von den Kleinstunternehmern in Las Vegas lernen und statt Hersteller von Massenware in Süditalien zu Ansprechpartnern für die italienischen Stilisten werden. An die Stelle der italienischen Schwarzarbeit treten, deren Logik, deren Platz und deren Sprache übernehmen. Die gleiche Arbeit, nur zu einem geringeren Preis und ein paar Arbeitsstunden mehr. (Seite 44)
Die Clans der Camorra betreiben überall in Europa, Süd- und Nordamerika legale eigene Textilgeschäfte. Sie haben auch die Tourismus-Branche, das Transportwesen und die Bauindustrie unterwandert. Das „System“ hat sich zu einem globalen Wirtschaftsimperium entwickelt.
In den Achtzigerjahren war die Nuova Camorra Organizzata von Raffaele Cutolo eine Art Riesenkonzern unter zentraler Führung. Dann kam die Nuova Famiglia von Carmine Alfieri und Antonio Bardellino, ein Zusammenschluss wirtschaftlich autonomer, durch gemeinsame operative Interessen verbundener Familien, aber als Ganzes immer noch ein Ungetüm.
Heute hingegen hat die Flexibilisierung der Wirtschaft bewirkt, dass kleine Gruppen von Bossen als Manager mit Hunderten von Geschäftspartnern, die genau beschriebene Aufgaben zu erfüllen haben, das ökonomische und soziale Gefüge bestimmen. Eine horizontale Struktur, flexibler als die Cosa Nostra, durchlässiger für neue Bündnisse als die ‚Ndrangheta und in der Lage, immer wieder neue Clans aufzunehmen, neue Strategien zu entwerfen, neue Märkte zu erobern […]
Trotz dieser Neustrukturierung der Clans ist die Camorra gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder die größte kriminelle Organisation Europas. Auf jeden sizilianischen Mafioso kommen zwei kampanische Camorristen, auf jedes Mitglied der ‚Ndrangheta sogar acht. (Seite 58f)Nie war die Kriminalität im Wirtschaftsleben eines Gebiets so omnipräsent und erdrückend wie in den letzten zehn Jahren in Kampanien. Anders als die sizilianischen Mafiosi brauchen die Clans der Camorra die Politiker nicht, hier sind es die Politiker, die das System dringend brauchen. (Seite 61)
Schutzgelderpressungen gelten längst als veraltet. Stattdessen zwingt die Camorra den Einzelhändlern Lieferungen bestimmter Hersteller auf – aber diese gibt es zu besonders günstigen Preisen. Dadurch haben auch die kleinen Geschäftsleute einen Vorteil. Außerdem streckt die Camorra den Ladenbesitzern Geld vor, damit diese bei den Großhändlern bar bezahlen können und auf diese Weise bessere Konditionen bekommen. Gerät ein Einzelhändler mit der Rückzahlung der Kredite in Verzug, übernimmt der Clan gegebenenfalls den Laden, lässt jedoch den bisherigen Besitzer wegen seiner Erfahrung als Geschäftsführer weitermachen. Nach Aussagen eines Kronzeugen im Jahr 2004 wurde die Hälfte der Läden in Neapel heimlich von der Camarra geführt.
Rentnern, Angestellten und Kleinunternehmern bieten die Clans in Secondigliano hohe Renditen, wenn sie ins Kokain-Geschäft investieren. Einige von ihnen müssen allerdings auch Drogen in ihren Wohnungen deponieren, denn wie bei den Umschlaggütern im Hafen von Neapel auch, bevorzugt das organisierte Verbrechen dezentrale Lager.
Der Gewinn im Drogenhandel lässt sich durch billige Beimengungen steigern. Neue Verschnitte werden an Heroinsüchtigen – sogenannten Visitors – ausprobiert. Roberto Saviano beobachtet es auf einem Platz vor einer Fabrik in der Gegend von Miano, einem Vorort von Neapel. Ein junger Junkie lässt sich zum Versuchskaninchen machen – und stirbt beinahe daran, was den Mafioso nicht weiter beunruhigt (Seite 88ff).
Die Hauptstadt der unternehmerischen Macht der Camorra sei Casal di Principe in der Provinz Caserta, meint Roberto Saviano. Neben dem Kokain-Handel und dem Baugewerbe bilde die illegale Müllentsorgung das Rückgrat der Geschäfte. Das Dreieck Giugliano – Villaricca – Qualiano heiße im Volksmund Feuerland, weil dort immer wieder Mülldeponien abgebrannt werden. Wenn Bauern wegen der giftigen Substanzen im Boden und in der Luft nicht mehr weiterwissen, kaufen ihnen die Clans die Felder zu einem Spottpreis ab und eröffnen neue Mülldeponien. Eine entscheidende Rolle spielen die Stakeholder, die zwar nicht den Clans angehören, aber zwischen den Abfallerzeugern und den von der Camorra beherrschten Müll- und Transportunternehmen vermitteln.
Der Marktpreis für die ordnungsgemäße Beseitigung von Giftmüll variiert zwischen einundzwanzig und zweiundsechzig Cent pro Kilo; denselben Service bieten die Clans schon für neun bis zehn Cent pro Kilo an. (Seite 351)
Müllentsorgung kostet Geld, doch kein italienischer Unternehmer hält es für notwendig, dafür zu bezahlen. (Seite 350)
Der Landstrich, der vom Krebsgeschwür der illegalen Giftmüllentsorgung am schlimmsten betroffen ist, umfasst die Gemeinden Grazzanise, Cancello Arnone, Santa Maria La Fossa, Castelvolturno und Casal di Principe mit einer Fläche von fast dreihundert Quadratkilometern sowie die Gemeinden Giugliano, Qualiano, Villaricca, Nola, Acerra und Marigliano, die zur Provinz Neapel gehören. Nirgendwo sonst in der gesamten westlichen Welt lagert mehr illegaler Abfall und Giftmüll. Das Geschäft mit dem Müll spülte innerhalb von vier Jahren vierunddreißig Milliarden Euro in die Taschen der Clans und ihrer Mittelsmänner. Ein Markt mit einer Zuwachsrate von 29,8 Prozent in den letzten Jahren, vergleichbar nur mit dem Wachstum des Kokainmarkts. (Seite 342)
Geliebte und Ehefrauen von inhaftierten oder getöteten Clan-Mitgliedern wurden schon immer versorgt (mesata). Neu ist, dass Frauen sich zunehmend aktiv in die Geschäfte des organisierten Verbrechens einschalten. Während es früher die „kulturelle Rückständigkeit […] mit sich brachte, dass Frauen nicht angerührt wurden“ (Seite 177), gilt dies inzwischen nicht mehr: Die Patin Immacolata Capone wurde im März 2004 in Sant’Antimo erschossen.
Sie soll sich übrigens so gekleidet haben wie Uma Thurman in „Kill Bill“. Auch die Männer orientieren sich laut Roberto Saviano an Vorbildern aus dem Kino. So ließ sich Walter Schiavone, der Bruder des Paten Francesco Schiavone, „Sandokan“, in Casal di Principe eine Villa errichten, wie er sie in „Scarface“ gesehen hatte.
Nachdem der in Casal di Principe geborene Priester Giuseppe Diana – Don Peppino Diana – die Pfarrei San Nicola di Bari in Casal di Principe übernommen hatte, erhob er seine Stimme gegen die Camorra und ließ an Weihnachten 1991 den Aufruf „Per amore del mio popolo non tacerò“ (Aus Liebe zu meinem Volk werde ich nicht schweigen) verteilen. Am 19. März 1994, seinem Namenstag, wurde der Fünfunddreißigjährige in der Sakristei seiner Kirche erschossen. Roberto Saviano ist überzeugt, dass der damals in Granada residierende Pate Nunzio De Falco den Mordauftrag gab und von Giuseppe Quadrano ausführen ließ. Das Fluchtauto soll von Mario Santoro gefahren worden sein.
Auch wenn die Paten sich katholisch geben und vor allem an florierenden Geschäften interessiert sind, mit denen sie ihre Macht gegenüber Konkurrenten ausbauen können, kommt es nach wie vor zu mörderischen Kriegen zwischen Clans der Camorra. Eine Welle der Gewalt begann mit der Ermordung von Ferdinando Bizzarro am 26. April 2004.
Am 20. Oktober 2004 werden Fulvio Montanino und Claudio Salerno […] von vierzehn Kugeln durchsiebt. (Seite 98)
Am 30. Oktober 2004 kommen sie zu Salvatore De Magistris nach Hause […] Mit einem Prügel werden dem Mann Arme und Beine gebrochen, das Nasenbein zertrümmert […] Einen Monat später erliegt er seinen schweren Verletzungen.
Am 2. November wird Massimo Galdiero auf einem Parkplatz umgebracht. Das Ziel war sein Bruder Gennaro, angeblich ein Freund von Raffaele Amato. Am 6. November ist in der Via Labriola Antonio Landieri an der Reihe […] (Seite 101)Am 24. November 2004 wird Salvatore Abbinante ermordet. (Seite 109)
Am 27. November wurde Giuseppe Bencivenga umgebracht. Am 28. wurde Massimo de Felice erschossen, und am 5. Dezember war Enrico Mazzarella an der Reihe. (Seite 112)
Am 18. Dezember wird Pasquale Galasso […] hinter dem Tresen einer Bar ermordet. Dann stirbt am 20. Dezember Vincenzo Iorio in einer Pizzeria. Am 24. erschießen sie den vierunddreißigjährigen Giuseppe Pezzella […] Am 27. Dezember wird Emanuele Leone mit einem Kopfschuss niedergestreckt. Er war einundzwanzig Jahre alt. Am 30. Dezember schlagen die Spanier zurück: sie töten den sechsundzwanzigjährigen Antonio Scafuro und verwunden seinen Sohn am Bein. (Seite 118)
Am 15. Januar schießen sie Carmela Attrice mitten ins Gesicht. (Seite 120f)
Am 19. Januar wird der fünfundvierzigjährige Pasquale Paladini ermordet. Acht Schüsse. In die Brust und in den Kopf. Wenige Stunden später schießen sie dem neunzehnjährigen Antonio Auletta in die Beine. (Seite 135)
In der Nacht des 21. Januar, in der Cosimo Di Lauro verhaftet wurde, fand man die Leiche von Giulio Ruggiero. Man fand ein ausgebranntes Auto, eine Leiche hinter dem Lenkrad. Ein Körper ohne Kopf. Der lag auf der Rückbank. (Seite 141)
Der sechsundzwanzigjährige Dario Scherillo wurde am 26. Dezember 2004 auf seinem Motorrad ins Gesicht und in die Brust geschossen, die Mörder ließen ihn liegen, sodass das ganze Hemd blutdurchtränkt war. (Seite 145)
Am 29. Januar wird Vincenzo De Gennaro ermordet, am 31. Januar Vittorio Bevilacqua in einer Salumeria. Am 1. Februar werden Giovanni Orabona, Giuseppe Pizzone und Antonio Patrizio massakriert. (Seite 131)
Am 5. Februar ist Angelo Romano an der Reihe. Am 3. März wird Davide Chiarolanza in Melito erschossen. (Seite 153)
Eigentlich braucht man die Toten nicht zu zählen, um die Geschäfte der Camorra zu verstehen, eigentlich sagen sie am wenigsten aus über ihre reale Macht, doch sie sind die sichtbarste Spur und lösen die unmittelbaren Reaktionen aus. Ich mache die Rechnung auf: 1979 hundert Tote, 1980 hundertvierzig, 1981 hundertzehn, 1982 zweihundertvierundsechzig, 1983 zweihundertvier, 1984 hundertfünfundfünfzig, 1986 hundertsieben, 1987 hundertsiebenundzwanzig, 1988 hundertachtundsechzig, 1989 zweihundertachtundzwanzig, 1990 zweihundertzweiundzwanzig, 1993 hundertzwanzig, 1994 hundertfünfzehn, 1995 hundertachtundvierzg, 1996 hundertsiebenundvierzig, 1997 hundertdreißig, 1998 hundertzweiunddreißig, 1999 einundneunzig, 2000 hundertachtzehn, 2001 achtzig, 2002 dreiundsechzig, 2003 dreiundachtzig, 2004 hundertzweiundvierzig, 2005 neunzig. (Seite 146f)
„Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ ist eine zum Buch aufgeblasene Reportage. Roberto Saviano berichtet, dass sich „das System“ – die Camorra – zu einem globalisierten, horizontal strukturierten Wirtschaftsimperium entwickelt hat. Leider konzentriert er sich nicht darauf, sondern widmet beispielsweise ein ganzes Kapitel mit 33 Seiten dem von Michail Timofejewitsch Kalaschnikow entwickelten Sturmgewehr. Die Camorra soll zwar nebenbei Waffenhandel betreiben, aber die Kalaschnikow hat mit dem Thema des Buches kaum etwas zu tun. Wenig erhellend ist auch eine drei Seiten lange Liste der von Camorra-Paten getragenen Spitznamen (Seite 69ff). Ähnliches gilt für die Aufzählung von Morden auf den Seiten 98 bis 153. Überhaupt bombardiert uns Roberto Saviano in „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ mit viel zu vielen Namen, zumal wir über die meisten Personen nichts weiter erfahren.
Die Darstellung ist unsystematisch, um nicht zu sagen verworren. Geschwätzig und sprunghaft wechselt Roberto Saviano die Themen. Dieser Impetus – das muss man ihm zugutehalten – erklärt sich zum Teil dadurch, dass er die Leser nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln will.
Oft, so scheint es, überfällt ein ungesteuertes, von Empörung und Wut entfachtes Mitteilungsbedürfnis den Autor, lässt ihn Namen, Plots, Geschichten, Zahlen und Ereignisse in verwirrenden Abfolgen ausbreiten. Sein Stil steht dem Blog näher als der informativen Sozialreportage, ist hastig, hochfahrend und manchmal ein bisschen reißerisch. (Dieter Richter, Süddeutsche Zeitung)
Wer von „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ Insiderwissen und spektakuläre Enthüllungen erwartet, wird enttäuscht sein. Bis auf ein paar eigene Beobachtungen verwendet Roberto Saviano allgemein zugängliches Material. Entsprechend gering ist der Erkenntnisgewinn beim Lesen des Buches. Dazu kommt, dass die teilweise abenteuerlich klingenden Behauptungen nicht nachprüfbar sind, weil Roberto Saviano keine Quellen angibt. (Ein paar vage Hinweise wie „nach Aussagen eines Kronzeugen im Jahr 2004“ sind dafür kein Ersatz.) Und um mit dem Buch arbeiten zu können, fehlt ein Register.
Manche Absätze sind so verschwurbelt, dass man sie kaum versteht.
Ich bin nicht sicher, ob es wichtig ist, zu beobachten und wirklich dabei zu sein, um die Dinge zu kennen, aber es ist wichtig, dabei zu sein, damit die Dinge dich kennen. (Seite 89)
Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich kenne das Fundament, auf dem die Wirtschaft ruht, und ich kenne ihren Geruch. Den Geruch von Sieg und Erfolg. Ich weiß, woher das Geld kommt. Ich weiß. Und die Wahrheit, wird sie ausgesprochen, macht keine Gefangenen, denn sie reißt alles mit sich fort und macht aus allem einen Beweis. Gegenbeweise und Beweisaufnahmeverfahren sind überflüssig. Die Wahrheit registriert, vergleicht, sieht hin, hört hin. Sie fällt keinen Urteilsspruch, gegen keinen Angeklagten in einem Käfig, und kein Zeuge widerruft seine Aussage. Niemand wird Kronzeuge. Ich weiß, und ich habe Beweise. Ich weiß, dass sich die komplexen Theorien der Wirtschaftslehrbücher letzendlich in ganz materielle Dinge verwandeln, ihre Fraktale mutieren zu Stahl, Zeit und Kontrakten. Ich weiß. Die Beweise sind auf keiner Festplatte gespeichert, die irgendwo vergraben ist. Ich habe keine kompromittierenden Videos, die in unzugänglichen Bergdörfern versteckt sind. Ich besitze keine hektografierten Geheimdienstdokumente. Die Beweise sind unwiderlegbar, denn sie sind parteiisch, gesehen, mit eigenen Augen, erzählt mit Worten und gehärtet in Gefühlen, gegen die Kugeln und Knüppel nichts ausrichten können. Ich sehe und höre, ich beobachte und rede […] Ich weiß, und ich habe Beweise. (Seite 257f)
Viele der ohnehin überflüssigen Vergleiche und Metaphern in „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ sind verunglückt.
Ich habe nur punktuelle Erinnerungen an diesen Tag. Erinnerungen, gefleckt wie das Fell eines Dalmatiners. (Seite 266)
Die Schiffe kommen an und steuern im Golf auf das Hafenbecken zu wie die Jungen zu den Zitzen des Muttertieres, nur dass sie nicht saugen sondern ausgesaugt werden. (Seite 12)
Ein biblisches Gleichnis drängt sich auf, der Hafen ähnelt dem Nadelöhr, durch das anstelle des Kamels Schiffe ziehen. Buge, die sich kreuzen, riesige Frachter, die in Reih und Glied draußen auf die Einfahrt in den Golf warten, beim Manövrieren das Ächzen der Hecks, der eisernen Aufbauten, der Bordwände und Bolzen, wenn sie sich in das enge neapolitanische Loch zwängen. Wie in einen Anus, dessen Schließmuskel sich unter großen Schmerzen weitet. (Seite 14)
Savianos Ehrgeiz, auf literarischem Niveau zu schreiben, führt zu stilistischen Entgleisungen.
Die chinesischen Waren unterlaufen die zeitliche Dimension, in der der Zoll seine Kontrolle durchführen kann. Rasend schnell. Eine Minute nach der anderen Minute wird hier niedergemacht. Ein Massaker von Minuten, ein Blutbad von Sekunden. (Seite 13)
Ich nahm einen undefinierbaren Geruch an mir wahr. Wie wenn sich der Gestank von schlechtem Fett von einem Imbissstand in den Mantel hängt […] Du kannst zigmal duschen, stundenlang mit Badesalzen und duftenden Schaumbädern in der Wanne die Haut einweichen: der Geruch geht nicht weg. Nicht weil er ins Fleisch eingedrungen ist wie der Schweiß der Vergewaltiger, sondern du merkst allmählich, dass du ihn längst in dir hattest, als käme er von einer Drüse, die bisher nie angeregt worden war, einer schlummernden Drüse, die plötzlich diesen Geruch absondert, ausgelöst nicht so sehr von Angst, sondern von einer Ahnung der Wahrheit. (Seite 165)
Matteo Garrone verfilmte das Buch von Roberto Saviano: „Gomorrha, Reise in das Reich der Camorra“. Dabei kondensierte er den Inhalt zu fünf Geschichten: (1) die Geschichte von Totò, (2) die Geschichte von Don Ciro und Maria, (3) die Geschichte von Franco und Roberto, (4) die Geschichte von Pasquale, (5) die Geschichte von Marco und Ciro.
Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra – Originaltitel: Gomorra – Regie: Matteo Garrone – Drehbuch: Maurizio Braucci, Ugo Chiti, Gianni Di Gregorio, Matteo Garrone, Massimo Gaudioso und Roberto Saviano, nach dem Buch „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ von Roberto Saviano – Kamera: Marco Onorato – Schnitt: Marco Spoletini – Darsteller: Toni Servillo, Gianfelice Imparato, Maria Nazionale, Salvatore Cantalupo, Gigio Morra, Salvatore Abruzzese, Marco Macor, Ciro Petrone, Carmine Paternoster u.a. – 2008; 135 Minuten
Stefano Sollima, Claudio Cupellini und Francesca Comencini verfilmten das Buch „Gomorrha, Reise in das Reich der Camorra“ von Roberto Saviano für eine zwölfteilige Fernsehserie.
Originaltitel: Gomorra – Regie: Stefano Sollima, Claudio Cupellini, Francesca Comencini – Drehbuch: Leonardo Fasoli, Roberto Saviano, Stefano Bises, Giovanni Bianconi, Ludovica Rampoldi, Maddalena Ravagli – Kamera: Paolo Carnera, Michele D’Attanasio – Schnitt: Patrizio Marone – Darsteller: Salvio Esposito, Walter Lippa, Fortunato Cerlino, Marco D’Amore, Maria Pia Calzone u.a. – 2014, 12 x 55 Minuten
Roberto Saviano wurde am 22. September 1979 als Sohn eines Arztes und einer Lehrerin in Neapel geboren. Nach dem Philosophie-Studium an der Universität Neapel wurde er Journalist und Schriftsteller. Roberto Saviano beschäftigt sich vor allem mit dem organisierten Verbrechen und ist Mitglied des Osservatorio sulla Camorra e l’Illegalità.
Wegen seines Buches „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ soll Roberto Saviano Morddrohungen erhalten haben. Nachdem sich Umberto Eco („Baudolino“) im italienischen Fernsehen besorgt geäußert hatte, gestand das Innenministerium in Rom Roberto Saviano ab Oktober 2006 Personenschutz zu. Angeblich bleibt er nicht länger als zwei Tage an einem Ort. Im Oktober 2008 appellierten die sechs Nobelpreisträger Dario Fo („Bezahlt wird nicht), Michail Gorbatschow, Günter Grass, Rita Levi-Montalcini, Orhan Pamuk und Desmond Tutu an die italienische Regierung, noch mehr für Roberto Savianos Sicherheit zu tun.
2007 veröffentlichte Roberto Saviano das Buch „Il contrario della morte“ („Das Gegenteil von Tod“, Übersetzung: Friederike Hausmann und Rita Seuß, Carl Hanser Verlag, München 2009, 72 Seiten, ISBN 978-3-446-23335-5, 10 €).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag