Martin Suter : Lila, Lila
Inhaltsangabe
Kritik
David und Marie
David Kern ist 23 Jahre alt und verdient seinen Lebensunterhalt als Kellner in der vor einem Jahr eröffneten Lounge-Bar Esquina in einer Schweizer Kleinstadt.
Eines Abends taucht dort Marie Berger auf, und David verliebt sich auf den ersten Blick in die ein Jahr ältere Frau, die sich als Dekorateurin durchschlägt und das Abitur nachholt, um Literatur studieren zu können. Dass Marie soeben ihre Beziehung mit einem Wirtschaftsstudenten beendete, kann David nicht wissen. Und Marie ahnt nichts von den Gefühlen, die ihr der schüchterne Kellner entgegenbringt; sie beachtet ihn nicht weiter. Bald fühlt sie sich wohl in einer Clique, die sich regelmäßig im Esquina trifft. Ein paar Mal schläft sie mit dem Wortführer Ralph Grand, der mit seinem Wissen über Literatur prahlt und von einer Karriere als Schriftsteller träumt, aber von Übersetzungen lebt.
Das Manuskript
Bei einem Trödler kauft David einen Nachttisch. Die Schublade klemmt. Als er sie aufbricht, findet er darin das vergilbte Manuskript eines Romans vor: „Sophie, Sophie“ von Alfred Duster. Der erste Satz lautet:
Das ist die Geschichte von Peter und Sophie. Lieber Gott, lass sie nicht traurig enden.
Es ist die in den Fünfzigerjahren spielende Geschichte einer unglücklichen Liebe. Der von Sophie verlassene Protagonist Peter Landwei nimmt sich am Ende das Leben, indem er absichtlich mit dem Motorrad in die Felswand neben dem Rotwandtunnel rast.
Peter schaltete in den höchsten Gang und fuhr mit Vollgas auf die Tunneleinfahrt zu. Sie war in eine Felswand gesprengt, die sich wie eine Mauer quer über das Tal legte. Tagsüber, bei guter Sicht, war sie als Mauseloch aus fünfhundert Meter Distanz zu sehen. Die Autofahrer gingen bei ihrem Anblick unwillkürlich vom Gas, als fürchteten sie, das kleine Loch nicht zu treffen.
Dabei konnte man die Einfahrt zum Rotwandtunnel nicht verfehlen. Auch nachts nicht.
Es sei denn, man tat es absichtlich, wie Peter Landwei.
Und dieser Peter Landwei – das war ich.
David ist zu Tränen gerührt. Noch in der Nacht scannt er die Seiten ein, lässt sie über ein Texterkennungsprogramm laufen und trägt die handschriftlichen Korrekturen des Autors nach. Dann druckt er das Manuskript aus, passt Marie im Esquina ab, als sie von der Toilette kommt und bittet die angehende Literaturstudentin, sich den Text anzusehen. Marie ist überrascht, denn sie hätte nicht erwartet, dass der unauffällige Kellner schreibt.
„Darf ich dir einmal etwas zu lesen geben?“
„Was?“
„Ein Manuskript.“
„Was für ein Manuskript?“
„Ein Versuch. Du sagst mir einfach, wie du es findest.“
„Du schreibst?“
„Ein bißchen. Darf ich es dir geben?“
Kurz nachdem Marie den Roman „Sophie, Sophie von David Kern“ in einem Zug gelesen hat, trifft sie sich mit dem vermeintlichen Autor in einer Paninoteca. Sie ist von dem Manuskript begeistert und drängt ihn, dafür einen Verlag zu suchen. David, dem es nur darauf ankam, Marie zu beeindrucken, hat allerdings nicht vor, „Sophie, Sophie“ zu veröffentlichen.
Ungewollte Schriftsteller-Karriere
Ohne es mit David abzusprechen, schickt Marie das Manuskript an den Draco-Verlag in Frankfurt am Main.
Einige Zeit später ruft sie David an. Es sei etwas Verrücktes passiert, sagt sie, und verabredet sich mit ihm. Der Lektor des Draco-Verlags reichte das Manuskript an den Kubner-Verlag weiter, und der Verleger Uwe Everding beauftragte die freie Lektorin Karin Kohler, es zu prüfen. Die 52-Jährige glaubt nun, dass sich daraus ein Bestseller machen ließe.
Erschrocken erkundigt sich David nach der Herkunft des Nachttisches und erfährt, dass er aus einem Mietshaus der verstorbenen Frieda Wetz stammt. Karl Wetz, der die Erbengemeinschaft vertritt, hat den Namen Alfred Duster noch nie zuvor gehört.
Wetz überlegte. „In den Fünfzigerjahren wohnte ich auch dort, das Haus gehörte meinen Eltern. Duster sagten Sie?“ Er schüttelte den Kopf.
„Vielleicht ein Untermieter?“, half David.
„Duster? – Nein. Duster sagt mir nichts.“
„Und Landwei? Peter Landwei?“
Wetz schaute in sein Lampendickicht [seines Elektrogeschäfts] hinauf. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. „Bis in die Sechzigerjahre wohnten in der Nummer zwölf immer die gleichen vier Familien. Und keine hieß Duster oder Landwei. Und in den Mansarden wohnten immer Italiener. Mit einer Ausnahme. Aber der hieß nicht Landwei, der hieß Weiland. Er verunglückte tödlich mit dem Motorrad.“
Der Kubner Verlag veröffentlicht den Roman unter dem Titel „Lila, Lila“. Widerstrebend lässt David sich auf Lesereisen ein. Die Resonanz ist gering – bis der Literaturpapst Joachim Landmann eine hymnische Rezension über das Buch schreibt und es zum Bestseller werden lässt.
Jacky Stocker
Mit seinen Lesungen füllt David nun Säle. Beim Signieren hört er jemand sagen: „Für Alfred Duster, bitte.“ Er blickt auf und sieht einen alten Mann vor sich, der ihm ein Exemplar von „Lila, Lila“ hinhält.
Als sie sich am nächsten Tag in einem Restaurant beim Frühstück gegenübersitzen, sagt Jakob („Jacky“) Stocker, er habe den Roman „Sophie, Sophie“ unter dem Pseudonym Alfred Duster geschrieben, nachdem er 1959 aus Paris zurückgekommen war. Es handele sich um die wahre Geschichte seines Vormieters Peter Weiland, der aus Liebeskummer mit dem Motorrad in den Tod raste. Das Original-Manuskript warf David zwar weg, aber Jacky erklärt ihm, er habe einen Durchschlag aufbewahrt. Damit erpresst er den Betrüger dazu, die Einnahmen aus „Lila, Lila“ mit ihm zu teilen. Jacky, der zuletzt im Männerheim Sankt Josef übernachtete, quartiert sich für 5000 Franken pro Monat im Hotel Waldgarten ein und betrinkt sich von nun an mit edlem Wein statt mit Fusel.
Auf der Frankfurter Buchmesse gibt Jacky sich als Davids Literaturagent aus und verhandelt nicht nur mit dem Verleger Uwe Everding, sondern auch mit Klaus Steiner vom Draco Verlag und Jens Riegler, dem Cheflektor von Luther & Rosen, über einen Vertrag für das zweite Buch. Karin Kohler, die den Erfolgsautor zukünftig parallel zu ihrer Lektorentätigkeit vertreten wollte, ist entsetzt und spricht mit Marie, die Jacky ebenso wenig leiden kann. Aber David bestätigt, dass Jacky sein Agent sei. Von dessen Verhandlungen über ein weiteres Buch ahnt er allerdings nichts.
Luther & Rosen, der Verlag, der das höchste Garantiehonorar geboten hat, erhält den Zuschlag und überweist den Vorschuss an den „Literaturagenten“, der sich vornimmt, David bei Gelegenheit über die Geschäftsentwicklung zu informieren und dann dessen Anteil weiterzuleiten. Aber noch nicht einmal von den letzten Akontozahlungen des Kubner-Verlags hat der Autor bisher etwas abbekommen.
Krise
Marie zweifelt inzwischen an ihrer Liebe zu David und stellt ihn vor die Wahl, sich zwischen ihr und Jacky zu entscheiden.
David hat ihr versprochen, die für Ende Dezember angesetzte Lesung im Grand Hotel Fürstenhof in Bad Waldbach mit Gala-Dinner und Musikuntermalung durch das Wolfgang Quartett abzusagen, damit sie den Jahreswechsel auf den Malediven verbringen können. Aber er bringt es nicht fertig, sich Jacky zu widersetzen. Als dieser sich angetrunken gegen die morsche Balkonbrüstung seines Hotelzimmers im vierten Stockwerk lehnt, spielt David mit dem Gedanken, ihn in die Tiefe zu stoßen. Aber die Gelegenheit verstreicht ungenutzt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Spoiler
Vor seinem nächsten Besuch im Hotel nimmt David sich vor, das Versäumte nachzuholen und Jacky zu ermorden. Als er von der Rezeption zum Aufzug geht, kracht es.
Später wird rekonstruiert, was in diesen Minuten geschah. Jacky lehnte betrunken an der Balkonbrüstung, als der Concierge anrief, um David anzumelden. Um ins Zimmer zu gehen, stieß Jacky sich vom Geländer ab. Dabei zerbrach es. Er stürzte rückwärts vom Balkon in eine aufgespannte Markise.
Im Stadtspital stellt sich heraus, dass Jacky vom Hals abwärts gelähmt ist.
Am Tag bevor er an Lungenversagen stirbt, gesteht er David, dass „Sophie, Sophie“ nicht von ihm war. Er hatte den Selbstmörder Peter Weiland gekannt und dessen halbfertiges Manuskript gelesen. Als er dann im Männerheim zufällig „Lila, Lila“ in die Hand bekam, wusste er, dass David Kern nicht der Autor war und nutzte die Gelegenheit, ihn zu erpressen.
Nach der Beerdigung lädt Rosa Pichler, die Schwester des Verstorbenen, zum Leichenschmaus in ein Restaurant ein und lässt sich dabei nicht lumpen, denn sie hätte nie gedacht, dass sie einmal so viel Geld von Jacky erben würde.
Marie trennt sich von David. In seiner Wohnung, die immer stärker verwahrlost, beginnt er nun doch einen Roman zu schreiben. Der erste Satz lautet:
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Das ist die Geschichte von David und Marie. Lieber Gott, laß sie nicht traurig enden.
„Lila, Lila“ ist eine kurzweilige Mischung aus Tragikomödie und Melodram mit Thriller-Elementen und satirischen Seitenhieben nicht nur auf den Literaturbetrieb. Es geht um Liebe und Lüge, Sein und Schein.
Ob das alles realistisch ist, spielt keine Rolle, denn die innere Logik stimmt. Martin Suter entwickelt die Handlung weitgehend chronologisch. Indem er in „Lila, Lila“ mehrmals die Perspektive wechselt, zeigt er uns einige Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln. Eine ganze Reihe von amüsanten Einfällen sorgt für eine unterhaltsame Lektüre. Deren besonderer Reiz ist die Verschachtelung und Spiegelung der Geschichten von Peter und Sophie, David und Marie.
Den Roman „Lila, Lila“ von Martin Suter gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Daniel Brühl (Regie: Gabriele Kreis).
Alex Buresch (Drehbuch) und Alain Gsponer (Regie) verfilmten die Buchvorlage: „Lila, Lila“. Dabei veränderten sie den Schluss und fügten ein Happy End hinzu, das es bei Martin Suter nicht gibt.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Diogenes Verlag
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