Jan Weiler : Kühn hat zu tun
Inhaltsangabe
Kritik
Am 31. März 1945 hält der nationalsozialistische Chemiker Rupert Baptist Weber den Krieg endgültig für verloren. Mit seiner „Weber Zündhütchen- und Munitionsfabrik“ (WZM) am Westrand von München stellte er nicht nur Munition her, sondern experimentierte auch im großen Stil mit chemischen Waffen. Dabei setzte er Zwangsarbeiter ein und scheute nicht vor Menschenversuchen zurück. An diesem Tag nun lässt er die Akten des Unternehmens in sein Labor bringen, öffnet die Auslässe der Tanks – wodurch 700 Tonnen Gift im Boden versickern –, übergießt alles im Labor mit Petroleum, nimmt eine Zyankali-Kapsel in den Mund und zerbeißt sie, während er gleichzeitig sein Feuerzeug betätigt.
Als der amerikanische Major Clive Divis ein paar Tage später erfährt, dass in der abgebrannten Fabrik des angeblichen bei einem Unfall ums Leben gekommenen NSDAP-Mitglieds Rupert Baptist Weber nur unbrauchbare Munition hergestellt wurde, hält er den Fabrikanten für einen genialen Saboteur. Auf die Idee, dass die Zwangsarbeiter heimlich zu kurze Patronen und andere unschädliche Munition herstellten, kommt er nicht. Es fällt ihm auch nicht auf, dass die Sabotage nur in den letzten sieben Wochen stattfand und nutzlos war, weil bereits keine Transporte mehr an die Front rollten. Der Hollywood-Film „Der gute Nazi“ verbreitet schließlich die Legende über den Fabrikanten, der sich parteitreu gab, um die Kampfkraft der Wehrmacht unbemerkt schwächen und das Kriegsende beschleunigen zu können.
Nachdem sich in den Neunzigerjahren Techno-Clubs in den leer stehenden Hallen eingerichtet hatten und das WZM-Gelände in Münchens Partyszene als angesagt galt, errichtet dort ein Bauunternehmen eine Trabantenstadt, die „Weberhöhe“ mit dem Rupert-Baptist-Weber-Platz im Zentrum.
In dieser Siedlung wohnt 2015 auch Martin Kühn, der 44 Jahre alte Leiter der Münchner Mordkommission, mit seiner Ehefrau Susanne, einer Lehrerin, dem 16-jährigen Sohn Niko und der Tochter Alina, die in Kürze ihren siebten Geburtstag feiern wird. Weil Kühn nur mittlere Reife hat, kann er kaum noch mit einer weiteren Beförderung rechnen. Dr. Hans Globke, der neue Staatsanwalt, sieht das auch so:
„Weil Sie nicht studiert haben. Das macht sie nicht zu einem schlechteren Polizisten, aber es behindert Ihre Chancen. […]
Ich bin, mit Verlaub gesagt, ein Topjurist aus einer Familie von Topjuristen. Und es reizt mich wahnsinnig, von dort in den Abgrund der Gesellschaft zu blicken – auf dass er zurückblicke. Um diesen lehrreichen Blick einnehmen zu können, brauche ich jemanden, der mich dabei quasi festhält, verstehen Sie? Das sind Sie, denn Sie verkörpern gewissermaßen diese Gesellschaft, diesen Bodensatz, nach dem wir immer suchen. Sie sind ein ehemaliger Streifenbeamter mit Realschulabschluss. Jetzt mal lustig: Sie können Yin und Yang nicht von Ernie und Bert unterscheiden.“
Kurz nachdem Martin Kühn den 25 Jahre alten Fitnessberater Roger Kocholsky als Mörder seines Großvaters Albert Kocholsky überführt hat, wird Alinas Mitschülerin Emily Brenningmeyer vermisst, und keine 30 Meter hinter dem Garten der Kühns entdeckt jemand, der seinen Hund ausführt, die Leiche des 83-jährigen Rentners Hermann Otto Beissacker aus Harlaching. Der Mörder knebelte ihn, fesselte ihm die Hände auf den Rücken und fügte ihm mit einem scharfen Messer 15 Schnitte auf der Brust zu, von denen der letzte tödlich war. Seltsamerweise knöpfte der Mörder dem Toten das zunächst geöffnete weiße Hemd zu, nahm ihm die Fesseln ab und entfernte den Knebel.
Martin Kühn hat mit der Aufklärung der Fälle viel zu tun, aber dazu kommen auch noch seine privaten Probleme, beispielsweise Geldsorgen, die Befürchtung, dass der in den Bürgerverein Weberhöhe eingetretene Sohn in die rechtsradikale Szene abrutscht und Alinas Wunsch, zum siebten Geburtstag ein Pony zu bekommen, das die Kühns sich nicht leisten können.
Alina setzte sich zu ihnen und teilte mit, dass sie für das Pony einen rosafarbenen Kunstledersattel brauche. Ohne Sattel und Reithosen sowie Jackett, Reitkappe, Steigbügel, Trensen, eine warme Decke, eine nicht ganz so warme Decke sowie farblich passende Gamaschen und eine Bürste für die Mähne sei so ein Pferd übrigens unnütz, und ob man schon vorher einmal danach gucken könne. Kühn war froh, dass das Telefon klingelte.
Außerdem haben die Nachbarn Rolf und Elisabeth Rohrschmid in ihrem Keller stinkende Flecken entdeckt, die der zu Rate gezogene Baugutachter noch nicht einordnen kann. Kühn schaut nach und bemerkt im Heizungskeller ebenfalls Ausblühungen. Reporter von Spiegel TV tauchen in der Siedlung auf und befragen die Bewohner. Die Journalisten haben von den Flecken erfahren, recherchiert und herausgefunden, dass die Weberhöhe auf dem Gelände einer früheren Fabrik gebaut wurde, in der mit chemischen Kampfstoffen experimentiert worden war. In der Fernsehsendung heißt es, dass der Fabrikant Rupert Baptist Weber kein Saboteur, sondern ein Kriegsverbrecher gewesen sei. Die Bewohner der Weberhöhe treffen sich daraufhin beim Italiener, in der „Trattoria Roberto“ des albanischen Wirts Tico, aber sie glauben nicht, was Spiegel TV behauptete, weder dass es sich bei Rupert Baptist Weber um einen verbrecherischen Nationalsozialisten handelte, noch dass die Weberhöhe auf Nazi-Erde steht.
Heimlich träumt Martin Kühn davon, Sex mit der rothaarigen Nachbarin Martina Brunner zu haben. Bei der Befragung der Bewohner der Weberhöhe im Zuge der Ermittlungen in dem Mord- und dem Vermissten-Fall findet er eine Gelegenheit, mehr über sie zu erfahren. Ihrem Ausweis entnimmt er, dass sie am 13. Januar 1979 in Ulm geboren wurde. Sie erzählt ihm, dass sie Theologie studiert habe und in der Erwachsenenunterhaltung tätig sei. Unter dem Namen Lilith führt sie erotische Telefongespräche, steht für Live-Chats und einen Webcam-Service zur Verfügung.
Martin Kühn schwirrt der Kopf. Er leidet nicht unter einem Burnout, fühlt sich nicht ausgebrannt, sondern randvoll. Die Gedankenflut macht ihm so zu schaffen, dass er sich seinem Nachbarn Dirk Neubauer anvertraut und ihn um Rat fragt. Kühn nimmt an, dass Neubauer psychologisch geschult sei, denn er hat von ihm erfahren, dass er Schulungen für die Kundenberater einer Bank leitet. Es gehe dabei darum, erklärte Neubauer, den Beratern die Bedenken auszureden, die einige von ihnen anfangs haben, wenn es darum geht, den Kunden Anlagen aufzuschwatzen, die sich nur für die Bank rentieren. Dirk Neubauer lebt allein im Nachbarhaus. Seine Frau habe ihn kurz vor dem Umzug verlassen, erzählte er. Das Gespräch mit ihm hilft Martin Kühn allerdings auch nicht wirklich weiter.
Sein drei Jahre jüngerer Freund und Mitarbeiter Thomas Steierer meint:
„Martin, was ist los mit dir? […] Jahrzehntelang bist du völlig ausgeglichen, und jetzt kommst du mir vor wie eine flackernde Glühlampe kurz vorm Durchbrennen.“
Nach ein paar Tagen kehrt Emily zu ihren Eltern zurück. Die Erstklässlerin erzählt, dass sie in der Siedlung zwei Männer gesehen habe. Einer saß vor dem anderen und sagte ihr, der bete und dürfe nicht gestört werden. Dann nahm er sie mit und sperrte sie in einer Wohnung in einem Hochhaus in München ein, aus der sie jetzt fliehen konnte. Emilys Vater, ein IT-Mitarbeiter eines Kochbuchverlags, hat einen Exklusivvertrag mit einer Zeitung geschlossen, um eine eventuelle Lösegeldforderung erfüllen zu können. Er braucht zwar nun nichts zu bezahlen, muss sich aber an den Vertrag halten und die Reporter mit seiner verstörten Tochter reden lassen.
Als es heißt, Emily sei von einem Mann mit weißem Bart entführt worden, gerät der Grieche Kosmas Kolidis unter Verdacht, der einen Schlüsseldienst mit Schuhbar in den Weber-Arkaden betreibt. Allerdings laufen die Geschäfte schlecht, weil die meisten in der Siedlung Sicherheitsschlösser haben und sich nur billige Schuhe kaufen, bei denen sich keine Reparaturen lohnen. Der Bürgerverein Weberhöhe versammelt sich vor dem geschlossenen Geschäft und skandiert ausländerfeindliche Parolen. Die Polizei filmt die Demonstranten, greift aber zunächst nicht ein. Als Martin Kühn erfährt, dass auch sein Sohn dabei ist, will er ihn von dort wegholen, gerät jedoch mit dem Vorsitzenden des Bürgervereins aneinander, dem rechtsradikalen Verwaltungsangestellten Norbert Leitz. Der spuckt ihm ins Gesicht. Reflexartig bricht Kühn ihm mit einem Kopfstoß die Nase. Leitz vergewissert sich daraufhin, dass einer seiner Kameraden die Szene mit dem Handy gefilmt hat. Obwohl Kühn nicht dienstlich da ist, beschlagnahmt er das Smartphone. Währenddessen zertrümmern einige Mitglieder des Bürgervereins die Glastür des Schlüsseldienstes mit einem Stahlpapierkorb und dringen in den Laden ein. Sie finden Kosmas Kolidis. Der Grieche hat sich erhängt. Seine Witwe meint, er habe es wegen Geldnot getan.
Staatsanwalt Dr. Hans Globke geht bei einer Dienstbesprechung davon aus, dass sich der Entführer der Schülerin Emily und Mörder des Rentners Hermann Otto Beissacker selbst richtete. Aber Martin Kühn zählt ihm gleich ein Dutzend Argumente gegen diese Theorie auf. Und dann trifft auch noch ein Erpresserbrief ein. Der stammt allerdings von Schülern, die nicht mitbekommen haben, dass Emily bereits wieder bei ihren Eltern ist. Sie werden bei der vorgetäuschten Geldübergabe verhaftet.
Martin Kühn rechnet damit, dass der Kopfstoß gegen Norbert Leitz Konsequenzen haben wird. Falls man ihm glaubt, dass er privat dort war, um seinen Sohn wegzuholen, könnte er mit einem Disziplinarverfahren und einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung davonkommen. Weil er jedoch das Handy beschlagnahmte, könnten die gegnerischen Anwälte darlegen, dass er dienstlich gehandelt habe. Dann müsste Kühn damit rechnen, aus dem Beamtenverhältnis entlassen zu werden, er würde seine Pensionsansprüche verlieren und hätte nicht einmal Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Ein von der Polizei vor dem Schlüsseldienst gedrehtes Video über Kühns Gewalttat taucht zunächst bei YouTube auf und wird dann auch bei Facebook verbreitet.
Roger Kocholsky zieht sein Geständnis zurück und behauptet, der Kommissar habe ihn gewaltsam zu der Falschaussage gezwungen.
Kühns Mitarbeiterin Ulrike Leininger stellt bei der Überprüfung der in der Nähe des Fundorts der Leiche von Hermann Otto Beissacker Wohnenden fest, dass Dirk Neubauer einen falschen Namen benutzt, vermutlich den eines vor fünfeinhalb Jahren ermordeten Mannes. Bei der Reformbank gibt es keinen Dirk Neubauer. Einige Daten passen auf Sven Schuster. Der schulte allerdings keine Mitarbeiter, sondern arbeitete im Außendienst des Technik-Supports und wurde vor einem halben Jahr entlassen. Sven Schuster wurde am 12. Mai 1969 in Bremerhaven geboren und wuchs in Wittmund auf. Seine Banklehre brach er ab. Als er in einem Callcenter arbeitete, machte er sich einen sadistischen Spaß daraus, Anrufer zu manipulieren. Globke berichtet:
„Unser Schuster hat seine Tätigkeit dazu genutzt, Anrufer regelrecht zu quälen. Eine ältere Dame, die sich über den hohen Stromverbrauch ihres Kühlschranks mokierte, hat er dazu gebracht, sich auf einen Stuhl zu stellen, das Tiefkühlfach ihres Kühlschrankes zu öffnen und die Zunge an die Innenwand des Fachs zu halten. Sie hat dort eine Stunde mit festgefrorener Zunge gestanden, bevor ihr Mann nach Hause kam und sie befreite.“
„Das klingt lustiger, als es ist“, sagte Steierer. „Ein anderer Anrufer musste auf Geheiß von Schuster seinen Wellensittich in die Mikrowelle setzen, weil dies angeblich gut sei gegen irgendeinen Pilzbefall bei dem Vogel, der aber bei 1000 Watt explodiert ist.“
Weil Martin Kühn den von seinem Nachbarn kürzlich ausgeliehenen SUV gründlich reinigte, nachdem er damit mehrere Säcke Blumenerde transportiert hatte, von denen einer aufgeplatzt war, gerät er in Verdacht, Spuren in einem Mordfall beseitigt zu haben.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Kühn bricht zusammen. Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf einer Pritsche der notärztlichen Versorgung des Polizeipräsidiums, und seine Frau beugt sich besorgt über ihn. Er reißt sich die Infusion aus dem Arm und besteht darauf, dass Thomas Steierer ihn und Susanne nach Hause fährt. Dort schläft er ein paar Stunden. Mitten in der Nacht wacht er auf und kann plötzlich wieder klar denken.
Martin Kühn erinnert sich an die Sommerferien 1983. Damals war er zwölf Jahre alt und seine Eltern zelteten mit ihm auf Norderney. Für ihn war es schrecklich langweilig, bis er sich mit dem zwei Jahre älteren Sven anfreundete. Der zeigte ihm am letzten Tag ein Klappmesser. Blitzschnell fuhr Sven ihm mit der scharfen Klinge über die Augenbraue und sah dann zu, wie das Blut über Martins Gesicht lief und dessen weißes T-Shirt sich damit vollsog. Bei seinen Eltern log Martin damals, er sei von einem Traktor gefallen. Und das glaubte er schließlich selbst. Er erkannte Sven Schuster auch nicht wieder, als dieser im Nachbarhaus einzog. Allerdings scheint sein Unbewusstes darauf reagiert zu haben. Martin Kühn fällt nun auch auf, dass Emily eine Brillenträgerin ist, aber keine Brille trug, als sie zu ihren Eltern zurückkehrte. Am nächsten Morgen befragt er Emily dazu, und seine Vermutung bestätigt sich: Der Entführer Sven Schuster hatte Emily die Brille abgenommen und als sie ihn dann beim Rasieren sah, hielt sie den Schaum für einen weißen Bart.
Kühn weiß, wo er Sven Schuster findet. Er holt sein altes Motorrad hervor, fährt nach Norden und setzt mit einer Fähre nach Norderney über. Den Campingplatz gibt es noch, allerdings wurde der Kiosk durch ein Gebäude mit Rezeption und Restaurant ersetzt. Svens Auto steht davor. Er selbst sitzt in einer Sandkuhle.
Seit er Martin Kühn 1983 schnitt, habe er immer wieder Blut auf weißen Hemden sehen müssen, erklärt Sven Schuster.
Es geht um den Stoff. Es geht darum, wie das Blut von unten durch die Baumwolle dringt, wie sich die Fasern vollsaugen, wie sie von dem Blut anschwellen, wie sich das Rot ausbreitet und das Hemd tränkt. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir das gibt.
Dirk Neubauer war eines seiner elf getöteten Opfer. Hermann Otto Beissacker sprach er im Münchner Stadtzentrum an. Dirk Schuster gab sich als Polizist aus und lockte den Rentner mit der Behauptung, seiner Frau sei etwas passiert, zur Weberhöhe, um Kühn durch den dort geplanten Mord ein Zeichen zu geben. Nach der Entlassung hätte er das Haus auf der Weberhöhe aufgeben müssen, aber er wollte das mit Martin Kühn begonnene „Spiel“ mit ihm beenden. Als Emily ihn ertappte, redete er ihr ein, der Rentner bete. Warum er das Kind entführt, aber nicht geschnitten habe, fragt Kühn. Das Mädchen habe nicht ins Schema gepasst, erklärt der Serienmörder. Er versteckte Emily in einer als Unterschlupf gemieteten Wohnung in München.
Als ihn der Kommissar mit vorgehaltener Dienstpistole verhaften will, zieht Sven Schuster das Klappmesser, das Martin Kühn bereits kennt, aus der Tasche und droht, sich die Oberschenkelarterie aufzuschlitzen. Da tauchen die Kollegen Thomas Steierer und Hans Gollinger auf. Der Serienmörder, der sein Leben offenbar beenden will, geht mit dem Messer auf den Kommissar los. Steierer erschießt ihn.
Die Kollegen wussten von Kühns Fahrt durch eine Funkzellenanalyse und folgten ihm mit einem Schulungshubschrauber der Polizei.
Roger Kocholsky verwickelt sich bei seiner Behauptung, Kühn habe ihn tätlich angegriffen, in Widersprüche.
Norbert Leitz wirft zwar Niko Kühn aus dem Bürgerverein Weberhöhe, verzichtet jedoch auf eine Anzeige gegen dessen Vater, und bei der Polizei geht man davon aus, dass Martin Kühn bei dem Vorfall nicht im Dienst war.
„Kühn hat zu tun“ beginnt als Groteske, mutiert dann zum Kriminalroman und zur Gesellschaftssatire, zeigt außerdem Ansätze einer Milieustudie und einer Familiengeschichte. Jan Weiler hat (zu) viel hineingepackt. Er erzählt nicht nur von einem nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, der durch die (klischeehafte) Dummheit der Amerikaner zum heldenhaften Saboteur verklärt wird, sondern auch von der Entführung eines Mädchens und einem Serienmörder, von den privaten Sorgen des Leiters der Münchner Mordkommission, von sensationsgierigen Medien, rechtsgerichteten Gruppierungen, Ausländerfeindlichkeit, von der Skrupellosigkeit der Banken und von Bewohnern einer Münchner Trabantenstadt, die ebenso wie ihr zentraler Platz nach dem Kriegsverbrecher benannt wurde.
Seit einiger Zeit ist es üblich, in Kriminalromanen auch auf das Privatleben der Ermittler einzugehen. In „Kühn hat zu tun“ ist es genauso wichtig wie die Aufklärung des Verbrechens, vielleicht sogar noch wichtiger. Jan Weiler zeichnet einen Kommissar, der sich das von seiner Tochter zum siebten Geburtstag gewünschte Pony nicht leisten kann, der sich Sorgen macht, dass sein 16-jähriger Sohn in die rechtsradikale Szene abrutschen könnte. Zugleich muss Martin Kühn wegen einer Gewalttat befürchten, aus dem Beamtenverhältnis entlassen zu werden und seine Pensionsansprüche zu verlieren.
Gegen Ende zu begreift der 44-Jährige die Ursache der Gedankenflut, die ihm vorübergehend zu schaffen gemacht hat. Die Erklärung, die unmittelbar mit der Aufklärung des Mordfalls zu tun hat, ist allerdings nicht besonders überzeugend. Noch unglaubwürdiger sind Anfang und Ende des Romans „Kühn hat zu tun“. Der Prolog mag als Groteske durchgehen, aber auch im weiteren Verlauf nimmt die Handlung immer wieder abstruse Wendungen an. Dass die Trabantenstadt, in der sich fast alles abspielt, auf einem Boden steht, der von einem nationalsozialistischen Kriegsverbrecher kontaminiert wurde und das Gift sich nun durch die Kellerwände in die Häuser der Bewohner frisst, kann nur symbolisch gemeint sein – und wirkt überambitioniert. Dazu passt, dass ein junger Staatsanwalt in München Hans Globke heißt, wie der Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze von 1935, der von 1953 bis 1963 unter Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramtes war und als graue Eminenz galt.
Verwunderlich ist, dass Jan Weiler bereits auf Seite 163, also in der Hälfte des Buches, unverblümt verrät, wer der Täter ist, dann aber weiter so tut, als handele es sich bei „Kühn hat zu tun“ um einen Whodunit-Thriller.
Einige Szenen in „Kühn hat zu tun“ sind originell, witzig und gut beobachtet. Aber running gags wie „Schnippikäse“ oder ein „Arscharzt“ (Proktologe) sind es gewiss nicht.
Den Roman „Kühn hat zu tun“ von Jan Weiler gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Jan Weiler (Regie: Angela Kübrich, ISBN 978-3-8445-1822-1).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt’s nicht! (Verfilmung)
Jan Weiler: Kühn hat Ärger
Jan Weiler: Der Markisenmann