Jan Weiler : Der Markisenmann

Der Markisenmann
Der Markisenmann Originalausgabe Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 ISBN 978-3-453-27377-1, 336 Seiten ISBN 978-3-641-28590-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als die 15-jährige Kölner Gymnasiastin Kim ihren sechs Jahre jüngeren Halbbruder schwer verletzt, schieben die Eltern sie in den Sommerferien zum leiblichen Vater nach Duisburg ab, den Kim bisher nur von einem alten Urlaubsfoto kannte. Erst jetzt erfährt sie, warum ihre Mutter nicht mit Ronald, sondern mit dessen Schulfreund Heiko verheiratet ist …
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Kritik

In seinem tragikomischen Roman "Der Markisenmann" erzählt Jan Weiler eine ebenso skurrile wie rührende Vater-Tochter- bzw. Coming-of-Age-Geschichte mit märchenhaften Zügen: leichte Unterhaltung zum Wohlfühlen.
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Vorgeschichte in Köln-Hahnwald

Köln, Juli 2005. Kim Papen, eine 15-jährige Gymnasiastin, lebt mit ihrer Mutter Susanne, ihrem Stiefvater Heiko Mikulla und ihrem sechs Jahre jüngeren Halbbruder Geoffrey im Kölner Villenviertel Hahnwald. Ihren leiblichen Vater kennt sie nur von einem 1988 in Plitvice geknipsten Urlaubsfoto. Die Eltern trennten sich, als Kim zweieinhalb Jahre alt war, und Ronald Papen hat nie Unterhalt gezahlt.

Heiko Mikulla, der Susanne kurz vor Geoffreys Geburt heiratete, ist als Investor reich geworden und stellt das auch prahlerisch zur Schau. Während Geoffrey zum Stolz der Familie gehört, fühlt Kim sich als Schwarzes Schaf der Familie.

Als drei andere Paare zu einem Grill-Abend eingeladen sind, Heiko mit großer Geste an einem monströsen Gerät hantiert und Geoffrey mit zwei brennenden Gartenfackeln angetanzt kommt, greift Kim zur Brennspiritus-Flasche. Im nächsten Augenblick steht ihr Halbbruder in Flammen. Heiko lässt die Grillzange fallen, reißt seinen Sohn mit und stürzt sich mit ihm in den Pool.

Während Geoffreys Brandverletzungen im Krankenhaus behandelt werden, muss Kim in eine geschlossene Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Nach sechs Wochen wird Kim von ihrer Mutter abgeholt und erfährt, dass die Familie noch am selben Tag nach Miami in den Urlaub fliegt. Aber statt zum Flughafen bringt Susanne ihre Tochter zum Bahnhof, denn Kim soll die Sommerferien bei ihrem Vater Ronald Papen in Duisburg verbringen.

Sommerferien in Duisburg-Meiderich

Am Bahnhof in Duisburg holt ein unscheinbarer Mann Kim mit einer Schrottkiste ab, die er als „Papen-Mobil“ bezeichnet. Er fährt mit ihr in den Stadtteil Meiderich. In der Nähe des Rhein-Herne-Kanals wohnt er in einer Lagerhalle und hat für seine Tochter ein Bett in eine fensterlose Abstellkammer gestellt. Es gibt weder Fernsehen noch WLAN. Benachbart sind eine Spedition, eine Autowerkstatt und eine Reihe von Schrottplätzen.

In der teilweise als Wohnraum eingerichteten Lagerhalle sind Stoffe und Gestänge zum Bau von Markisen gestapelt. Die habe er bei der Wiedervereinigung aus Restbeständen der DDR übernommen. Er verkaufe sie seit 14 Jahren im Ruhrgebiet inklusive Montage und lebenslanger Wartung. Kim findet die beiden Stoffe noch hässlicher als alles andere hier.

Am Abend stellt Ronald seine Tochter den Wirt Kurt und den Stammgästen in „Rosi’s Pilstreff“ vor: dem Automechaniker Lütz, dem Frührentner „Oktopus“ und Achim von der Spedition. (Später erfahren wir, dass „Oktopus“ ein verarmter baltischer Aristokrat namens Günther Maria von Goddenthow ist.) Auf einem der Schrottplätze hat Kim bereits einen 14-Jährigen kennengelernt, der mit seinen Eltern in der zwei Kilometer entfernten Ratingsee-Siedlung wohnt. Alik (eigentlich: Malik) Cherif. Bei seiner Mutter Katharina handelt es sich um eine Russlanddeutsche aus Tomsk; sein Vater Amin stammt aus Tunis. Vor 15 Jahren lernten sich die Eltern als Putzkräfte kennen. Inzwischen arbeitet Amin Cherif als Schichtleiter einer Autowaschanlage.

Alik überredet Kim, mit ihm am Wasser eine Bar zu bauen und mit Hilfe des Wirts Klaus zu betreiben. Von da an sitzen die Stammgäste aus „Rosi’s Pilstreff“ im „Meiderich Beach Club“.

Markisen-Geschäfte im Ruhrgebiet

Nach einer Woche beginnt Kim, ihren Vater auf seinen Touren im Ruhrgebiet zu begleiten. Bald schon denkt sie sich immer neue Lügen aus, die verhindern sollen, dass ihr Vater schon gleich an der Wohnungstüre abgewiesen wird. Mal bittet sie, die Toilette benutzen zu dürfen, dann weckt sie Neid auf Nachbarn mit einer Markise oder warnt vor Hautkrebs. Ronald sträubt sich zunächst dagegen, aber nachdem er innerhalb weniger Tage so viele Markisen verkauft hat, wie sonst in einem Jahr, lenkt er ein:

„Also werden wir die Verkaufsstrategie den Erfordernissen einer schwierigen Marktlage moderat anpassen.“

Erfolgreich behaupten sie beispielsweise, für Markisen sei eine Luxussteuer geplant. Nur der Bestand sei davon ausgenommen.

Beim Ehepaar Tolksdorf stoßen sie auf ungewohntes Interesse. Aber dann bietet Hartmut Tolksdorf ein Gegengeschäft an: Statt den Kaufpreis für die Markise zu zahlen, würde er Ronald die 1000 Euro für die Aufnahme in das Vertriebssystem der Firma Sunpower erlassen. Dabei geht es um Skinbooster und andere angeblich im Weltraum getestete Präparate mit reißendem Absatz. Jeden Monat übernehme man Ware und biete sie mit enormer Gewinnspanne zum Kauf an. Außerdem könne Ronald selbst neue Mitglieder der Sunpower-Familie anwerben, an deren Einnahmen er dann auch beteiligt wäre. Kim sieht auf dem Weg zur Toilette, dass das Kinderzimmer mit Kartons der Firma Sunpower überquillt und schützt dann Bauchschmerzen vor, um ihren Vater aus der Wohnung zu befreien.

Lebensbeichte

Am 1. August feiert Kim ihren 16. Geburtstag.

Kurz vor dem Ende der Sommerferien bringt Kim ihren Vater endlich dazu, über die Vergangenheit zu reden. Zu ihrer Verblüffung berichtet er, dass Heiko von Kindheit an sein bester Freund gewesen sei. Sie wuchsen in Beelitz-Fichtenwalde südwestlich von Berlin auf. 1986 lernten sie Susanne kennen. Ronald war zu schüchtern, um ihr eine Liebeserklärung zu machen, aber dann ertappte er sie und Heiko in flagranti und fühlte sich von da an als fünftes Rad am Wagen.

Heikos Vater Ernst Mikulla war Handwerker und weigerte sich, seinen selbstständigen Betrieb aufzugeben. Deshalb war er politisch verdächtig, ebenso wie Ronalds Eltern, ein in den Beelitzer Heilstätten praktizierendes Ärzte-Ehepaar. Nach einem gemeinsamen Urlaub des befreundeten Trios 1988 in Jugoslawien erzählte Heiko seinem Freund, dass er eine Aufforderung der Stasi zur Ausspähung von Ronalds Eltern zurückgewiesen habe. Kurz darauf, im Oktober 1988, tauchte die Stasi bei der Familie Papen auf, aber auch Ronalds Vater lehnte jede Kooperation ab. Es war Ronald, der sich dann als IM zur Verfügung stellte, zum einen, um seine Eltern zu schützen, aber auch, um seinen Rivalen Heiko auszuschalten. Aufgrund der Aussagen wurde Heiko in die Untersuchungshaftanstalt der Stasi in Hohenschönhausen gebracht.

Susanne wusste das nicht, und Ronald erzählte ihr die Lüge, sein Freund sei in den Westen geflohen. Im Wirrwarr der Gefühle hatten die beiden einen One-Night-Stand, durch den Susanne schwanger wurde. Heiko kam im Juli 1989 frei. Ronald sah ihn in Beelitz und erschrak. Mit der Lüge, dass seine Verhaftung aus politischen Gründen zu befürchten sei, überredete er die hochschwangere Freundin, mit ihm über Ungarn nach Österreich zu fliehen. Dort brachte Susanne am 1. August Kim zur Welt.

Sie und Ronald lebten mit dem Kind in Köln in einer Zweckgemeinschaft zusammen – bis 1992 Heiko auftauchte. Er war einer der ersten, die das Stasi-Unterlagen-Gesetz vom November 1991 genutzt hatten, um in seine Akte zu schauen. Dort entdeckte er Ronalds Lügen über ihn vom Oktober 1988. Heiko passte ihn auf der Straße ab, drohte damit, Susanne die Wahrheit zu sagen, falls er nicht verschwinden würde. Immerhin bot er ihm eine Lagerhalle in Duisburg samt einem Warenbestand aus dem ehemaligen VEB Sonnenschein in Luckau an. Das Gebäude und die Markisen hatte er nach der Wende günstig übernommen, dann aber festgestellt, dass sich damit keine Geschäfte machen ließen.

Nachspiel

Mit gemischten Gefühlen lässt sich Kim von ihrem Vater nach Köln zur Familie zurückbringen.

Die Eltern haben beschlossen, sie in ein Internat in Süddeutschland zu schicken. Zunächst protestiert Kim, aber dann schließt sie mit Heiko einen Deal: Sie fügt sich, und dafür schickt er zwei Strohmänner nach Duisburg, die den gesamten Markisenstoff aufkaufen. Damit lässt Heiko die Sitzmöbel der neuen mexikanischen Restaurantkette überziehen, die er nun aufbaut: „Fidel Gastro“.

Ronald stirbt im Alter von 52 Jahren an Herzversagen. Kurz zuvor hat er bei der Reparatur einer der im Sommer 2005 verkauften Markisen die letzte seiner Ersatzschrauben aufgebraucht. Mit seinem Tod erlischt die „lebenslange Garantie“.

Kim, die inzwischen Schauspielerin geworden ist, finanziert mit dem Geschäftsanteil an „Fidel Gastro“, den Heiko ihr geschenkt hat, den Umbau der von ihrem Vater geerbten Halle in ein Improvisations-Theater. Die gastronomische Leitung vertraut sie Alik an, der fünf Jahre zuvor „Rosi’s Pilstreff“ von Kurt übernommen hat.

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In seinem Roman „Der Markisenmann“ erzählt Jan Weiler eine rührende Vater-Tochter- bzw. Coming-of-Age-Geschichte. Der Gegensatz zwischen der Patchwork-Familie, in der Kim gewissermaßen in Wohlstandsverwahrlosung aufwächst und der Lebensweise ihres leiblichen Vaters könnte kaum größer sein. Als die 15-Jährige sich jedoch von ihren Vorurteilen löst, gefällt es ihr, die Sommerferien bei ihrem bisher unbekannten Vater Ronald zu verbringen, einem unscheinbaren Mann, der im Ruhrgebiet Klinken putzt, um Markisen zu verkaufen („Markisenmann“). Kim fühlt sich in ihrer Familie als Schwarzes Schaf, und auch bei Ronald handelt es sich um einen Außenseiter. Beide versuchen, mit ihren Schuldgefühlen fertigzuwerden, Ronald seit 17 Jahren, Kim seit wenigen Wochen.

In die Handlung hat Jan Weiler auch noch einen Rückblick auf die DDR und deren Auflösung eingebaut.

Erzählt wird die Geschichte von Kim in der Ich-Form, und zwar in der Rückschau der 32-Jährigen.

„Der Markisenmann“ ist ein ein tragikomischer Roman mit skurrilen und märchenhaften Zügen, leichte Unterhaltung zum Wohlfühlen.

Es gibt dazu einen Sound-Track, der über einen QR-Code abgerufen werden kann.

Den Roman „Der Markisenmann“ von Jan Weiler gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Lisa Hrdina.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Jan Weiler / Wilhelm Heyne Verlag

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