Carl Zuckmayer : Engele von Loewen
Inhaltsangabe
Kritik
Angéline Meunier ist beinahe noch ein Kind, als die Deutschen 1914 ihre Heimatstadt Loewen zerstören. Ihr wallonischer Vater gilt als verschollen, ihre flämische Mutter kommt bei der Beschießung von Loewen ums Leben, und das Elternhaus brennt nieder. Angéline, oder Engele von Loewen, wie ihre flämischen Verwandten sie nennen, wird von der Schwester ihrer Mutter notgedrungen aufgenommen, von Tante Rosine Wulverghem, die in dem Dorf Lindeken in Flandern das Wirtshaus „Aux Pommes du Paradis“ betreibt.
Ihr Mann hieß der „schiefe Leopold“, denn er hatte eine lahme Hüfte, und außer zum Tragen des Wassers, das von einem nahen Ziehbrunnen herangeschleppt werden musste, machte sie wenig Gebrauch von ihm. (Seite 424)
Die Deutschen sind inzwischen auch in Lindeken; der Ort gehört zur deutschen Etappe im okkupierten Land. Unter den „kleinen Chargen oder Beamten, die sich in der Etappe einen unentbehrlichen Posten gesichert hatten“, spricht es sich herum, dass die dralle Wirtin zwei derbe, kräftige Töchter in den Zwanzigern hat: Aline und Gezine. Durchs Fenster kommt man nachts leicht hinein zu ihnen.
Auch die Mama, die breithüftige Rosine, hatte noch ihre Frühlingsstunden, die der Etappenfeldwebel Röbig, ein aufgezwirbelter Schnurrbart ohne sonstige Menschenähnlichkeit, mit ihr teilen durfte. (Seite 424)
Rosine Wulverghem hat zwar nichts dagegen, dass ihre Töchter sich mit Männern herumtreiben, sofern sich diese dafür erkenntlich zeigen, aber sie legt Wert darauf, den äußeren Schein zu wahren.
Engele von Loewen hat mit diesen amourösen Verhältnissen nichts zu tun. Das Mädchen gilt als lästige Mitesserin und wird von ihrer Tante als unbezahlte Dienstmagd missbraucht. Unter der Aufsicht ihres Onkels Leopolds muss Engele die schwere Feldarbeit verrichten und darüber hinaus waschen, bügeln und flicken. Als Schlafstatt hat die Tante ihr einen Platz in der Scheune zugewiesen, die sie jeden Abend absperrt, damit nicht einer der Männer auf die Idee kommt, sich an dem Mädchen zu vergreifen.
Tante Rosine, „la patronne“, quittierte jeden Blick verstohlener Bewunderung, der ihrer Nichte galt, mit ihrer höchst explosiven Wut. Dieses Mädchen, das sie als heimatlosen Flüchtling, als „Emigrantin“, aufgenommen hatte und dem sie mit der bloßen Duldung eine Wohltat erwies, hatte brav zu sein und nicht bemerkt zu werden. (Seite 427)
Auf ihrem Vormarsch nach Westen kommt ein Regiment junger deutscher Freiwilliger durch Lindeken. Engele schleppt ihnen auf Geheiß ihrer Tante Wasser vom Ziehbrunnen herbei. Einer der Soldaten ist zu erschöpft, um selbst trinken zu können. Deshalb läuft Engele ins Haus, holt eine Flasche Cidre und flößt ihm ein paar Schlucke davon ein. Die Kameraden warnen ihn vor einem möglichen Giftanschlag, aber er blickt seiner Wohltäterin kurz in die Augen und trinkt.
Der junge Soldat heißt Alexander von H. und ist der Sohn eines hohen preußischen Offiziers. Eigentlich hatte er Musik studieren wollen, sich dann aber in patriotischer Begeisterung zu den Waffen gemeldet. Am Tag nach der Rast in Lindeken wird er leicht verwundet. Er erholt sich, kämpft drei Jahre lang an der Ostfront und kehrt im Sommer 1917 als Leutnant und Kompanieführer nach Flandern zurück.
Die flüchtige Begegnung mit dem belgischen Mädchen hat er nicht vergessen. Als er zwei Wochen Heimaturlaub bekommt, unterbricht er die Heimreise in Lindeken und kehrt im Wirtshaus „Aux Pommes du Paradis“ ein. Aline und Gezine umwerben den jungen deutschen Offizier, aber er beachtet sie nicht weiter. Am anderen Morgen folgt er Engele und ihrem Onkel aufs Feld. Als Leopold, der sich unter einen Baum gelegt hat, schläft, spricht Alexander das Mädchen an. Er bleibt den ganzen Urlaub über in Lindeken und trifft sich jeden Abend heimlich mit Engele am Brunnen. Weil Rosine sich wundert, wieso der deutsche Offizier nicht auf die Reize ihrer Töchter reagiert, spioniert sie ihm nach und findet den Grund heraus, wagt aber kein Wort zu sagen, solange er in ihrem Gasthaus wohnt. Am letzten Abend seines Urlaubs gibt es in Lindeken Fliegeralarm. Die Bewohner hasten in die Schutzstände. Engele jedoch ist in ihrer Scheune eingesperrt. Alexander bricht die Tür auf, um sie in Sicherheit zu bringen, aber dann bleiben sie doch in der Scheune und lieben sich zum ersten Mal.
Einige Zeit später verbringt der Ich-Erzähler – ein Schulkamerad Alexanders – einen dreitägigen Sonderurlaub in Brüssel. Er isst im „Épaule de Mouton“ und geht danach ins Edelbordell „La Gaieté“, wo die Damen nach Mitternacht „im eigenen Haar“ erscheinen. Nur eine junge Frau bleibt angezogen; sie trägt ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid und verkauft Zigaretten aus einem Bauchladen. Als ein betrunkener Rittmeister versucht, sie von hinten zu umarmen, wehrt sie sich, und ihre Umhängekiste kracht mit den Zigaretten zu Boden. Kreischend scharen die Mädchen sich um die beiden. Die schlimme Lysett ohrfeigt den Rittmeister, zieht ihm die Brieftasche heraus und bezahlt der Direktion des Etablissements den Schaden. Dann bittet sie den Ich-Erzähler, ihr dabei zu helfen, das erschrockene Zigarettenmädchen in ihr Zimmer zu bringen. Dort erzählt ihm die junge Belgierin, die von ihren flämischen Verwandten Engele von Loewen genannt wurde, ihre Geschichte.
Alexander musste damals wieder zurück an die Front. Kurz darauf tauchte der deutsche Ortskommandant Lüdemann bei Engele von Loewen in der Scheune auf: Rosine hatte ihm dem Schlüssel überlassen. Engele wehrte sich und warf schließlich die brennende Petroleumlampe ins Heu. Der Ortskommandant sorgte dafür, dass Engele eingesperrt wurde, aber es gelang ihr nach einiger Zeit, zu fliehen. In einer Scheune, in der sie übernachtete, erlitt sie eine Fehlgeburt. Bauern brachten die Fiebernde zu einer Sanitätskolonne, und man sorgte dafür, dass sie in ein Heim für obdachlose Frauen in Brüssel eingewiesen wurde. Die anderen Frauen hatten Mitleid mit ihr, umsorgten und bemutterten sie: Engele von Loewen wurde Schützling und Schutzheilige der Brüsseler Prostituierten. Eine von ihnen sorgte durch ihre guten Beziehungen zu einem Sittenpolizisten dafür, dass Engele als Zigarettenmädchen im „La Gaieté“ angestellt wurde.
Der Ich-Erzähler findet heraus, dass es sich bei Engeles Geliebten um seinen Schulfreund Alexander handelt, und er schreibt ihm. Doch der Leutnant liegt mit einem Lungenschuss im Lazarett, und anschließend erholt er sich ahnungslos in einem Schweizer Sanatorium.
Der Krieg ist inzwischen zu Ende. „La Gaieté“ muss nach dem Abzug der Deutschen aus Brüssel sofort schließen, und die Mädchen werden festgenommen und in ihre Heimatorte abgeschoben.
Eine Springflut von orgiastischem Nationalismus tobte hoch, Befreiungstaumel und Siegestrunkenheit mischten sich mit schierer Rachsucht und Vergeltungswut – und da man sie an den eigentlichen Feinden, die sich verflüchtigt hatten, nicht mehr auslassen konnte, richtete sie sich gegen alle, die wirklich oder angeblich mit ihnen paktiert hatten. (Seite 456)
In Gent hatte man Frauen, die nachweislich Beziehungen mit dem Feind gepflogen hatten, mit abgeschnittenen Haaren nackt durch die Straßen gejagt und einzelne wie die Hexen des Mittelalters von den Brücken hinab in die Kanäle geworfen. (Seite 457)
Wer die erste Hälfte unseres Jahrhunderts durchlebt hat, wird solche finsteren Exzesse in keiner Nation und an keinem Ort des Erdballs für unmöglich halten. Damals aber waren wir noch in dem Wahn befangen, in einer aufgeklärten, vernunftbeherrschten Epoche zu leben, im Zeitalter des Kindes und der Humanität, wir wussten nichts von der Brüchigkeit jener Kruste, die uns von immer schwelenden Höllenfeuern trennt, und hätten solche Geschichten, wären sie nicht schließlich in unserem nächsten Umkreis und an uns selber geschehen, gern ins Zwielicht längst verdämmerter Jahrhunderte verwiesen. (Seite 458)
Engele bringt man zu ihrer Tante nach Lindeken. Rosine und ihre Töchter, die stets den Schein gewahrt hatten, verleumden ihre Verwandte und lenken auf diese Weise von ihren eigenen Umtrieben ab.
Endlich erhält Alexander die Nachricht seines Schulfreundes, dass Engele in Brüssel sei. Sofort reist er in die belgische Hauptstadt, aber „La Gaieté“ gibt es nicht mehr. Da eilt er weiter nach Lindeken – und trifft dort ein, gerade als man Engele auf den Dorfplatz zerrt, um ihr die Kleider herunterzureißen und sie durch eine Schandgasse zu treiben. Alexander wird erkannt. Der Pöbel stürzt sich auf ihn. Jemand wirft ein Hanfseil über einen dicken Lindenast, und Alexander wäre gelyncht worden, wenn nicht zufällig in diesem Augenblick ein Trupp belgischer Frontsoldaten vorbeigekommen wäre. Ein Schuss über die Köpfe hinweg bringt die aufgebrachte Menge zum Einhalten.
Carl Zuckmayers rührende, volkstümliche Liebesgeschichte „Engele von Loewen“ erinnert an das Märchen vom Aschenputtel: Eine mittellose Waise wird von ihrer Tante als Dienstmagd missbraucht und muss hart arbeiten, während die Tante und deren Töchter sich mit Freiern herumtreiben. Doch obwohl die Tante ihre Nichte nachts in einer Scheune einsperrt, kann sie nicht verhindern, dass ein ehrlicher Mann sich in das Mädchen verliebt … – Der neidigen und heuchlerischen Tante und ihren missratenen Töchtern stellt Carl Zuckmayer die Prostituierten entgegen, die Engele uneigennützig bemuttern und sie gegen Übergriffe geiler Männer beherzt verteidigen.
Helmut Käutner verfilmte Carl Zuckmayers Erzählung „Engele von Loewen“ unter dem Titel „Ein Mädchen aus Flandern“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Ein Mädchen aus Flandern – Regie: Helmut Käutner – Drehbuch: Heinz Pauck und Helmut Käutner, nach der Erzählung „Engele von Loewen“ von Carl Zuckmayer – Kamera: Friedl Behn-Grund – Schnitt: Anneliese Schönnenbeck – Musik: Bernhard Eichhorn – Darsteller : Nicole Berger, Maximilian Schell, Viktor de Kowa, Friedrich Domin, Anneliese Römer, Erica Balqué, Fritz Tillmann, Lise Coliny, Nelly Beguin, Jane Brissac, Guillaume Lambrette, Omer Ducarme, Gert Fröbe u.a. -1956; 105 Minuten
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © S. Fischer Verlag
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