Alex Capus : Königskinder
Inhaltsangabe
Kritik
Tina und Max
Tina und Max lernten sich vor 26 Jahren in Basel kennen.
Dann hatten sie eine gemeinsame Wohnung bezogen und ohne erkennbare Planung in unregelmäßigen Abständen einvernehmlich eine ganze Anzahl Kinder gezeugt […]
Nachdem sie nun ihren Jüngsten in eine Hotelfachschule im Berner Oberland gebracht haben, wählen sie für den Rückweg nicht die öde Schnellstraße über Thun und Bern, sondern die abwechslungsreiche Strecke über den Jaunpass. Dazu müssen sie allerdings mit ihrem Kleinwagen eine Schranke umfahren, denn wegen des starken Schneefalls ist der Pass nachts gesperrt. Sie wissen, dass sie etwas Unvernünftiges tun, aber irgendwann ist es zu spät zum Umkehren. Unbeschadet schaffen sie es hinauf. Bei der Abfahrt ins Greyerzerland bleiben sie jedoch im Schnee stecken, und weil es in dieser Gegend kein Mobilfunknetz gibt, können Tina und Max keine Hilfe rufen. Also richten sie sich darauf ein, die Nacht im Auto zu verbringen und hoffen, dass die Schneefräse sie am Morgen aus ihrer Lage befreit.
Max, der im Greyerzerland geboren wurde und aufgewachsen ist, erzählt Tina eine Geschichte, um die Zeit zu vertreiben.
Jakob
Jakob Boschung wird 1757 ganz in der Nähe als Sohn armer Bauern geboren. Als seine drei jüngeren Geschwister und die Eltern innerhalb eines Winters sterben, muss er zu kinderlosen Verwandten in einem anderen Tal. Weil sich der Onkel als Sadist erweist, flieht Jakob in die hoch gelegene Melkhütte seiner Eltern.
Im Frühjahr schickt der reiche Bauer Magnin im Greyerzer Unterland, der nichts von den Todesfällen in der Familie Boschung erfahren hat, wie gewohnt eine Kuhherde zur Sommerung auf die Alm mit der Melkhütte: 31 Milchkühe und 19 Kälber. Ohne viel Worte übernimmt Jakob die Aufgabe, für die Tiere zu sorgen und Käse aus der Milch herzustellen. Sieben Jahre lang geht das so. Er verlässt die Alm nur, um die Herde beim Abtrieb im Herbst zu begleiten und sich von Magnin den Lohn auszahlen zu lassen.
Jakob und Marie
Im September 1779 ist es wieder soweit. Diesmal bleibt Jakob im Tal und arbeitet für den Käse-Großhändler Druez, der zu dieser Jahreszeit einen zusätzlichen Gehilfen benötigt. Dem Bauern Magnin entgeht nicht, dass der barfüßige „Alpentrampel“ seine Tochter Marie-Françoise bei jeder Gelegenheit anglotzt und die 19-Jährige die Blicke erwidert. Da brüllt er und droht mit dem Stock.
Dann kommt Marie eines Abends nicht von einem Ausflug zurück, den sie mit ihrer besten Freundin Mathilde, der verwaisten Nichte des Pfarrers, angeblich zum Nüsse-Sammeln unternahm.
Der Bauer schäumt vor Wut, denn eigentlich weiß er schon Bescheid, auch wenn er es noch nicht wahrhaben will.
Jakob führt Marie zu seiner Melkhütte, und als der Bauer mit seinen Knechten und sechs berittenen Landskechten heraufkommt, weicht das Liebespaar nach dem Vorbild der Gämsen weiter nach oben aus. Die Männer ziehen zwar wieder ab, aber auf Dauer haben Marie und Jakob keine Chance. Nach ein paar Tagen machen sie sich deshalb an den Abstieg.
Trennung
Nachdem Marie zu ihrer Familie zurückgekehrt ist, meldet sich Jakob am 8. Oktober 1779 in der Zähringerstadt Freiburg und verpflichtet sich für acht Jahre als Söldner. Das französische Regiment Waldner, dem er zugeteilt wird, ist in Cherbourg für den Fall stationiert, dass die Engländer angreifen. Weil das aber nicht geschieht, bleibt Jakob ein Krieg erspart, und nach dem Ende seiner Dienstzeit verlässt er das Militär am 1. November 1787 im Rang eines Korporals.
Bauer Magnin versucht inzwischen, eine Ehe für Marie zu arrangieren und lädt ausgewählte Bewerber mit ihren Vätern ein. Aber Marie will keinen anderen als Jakob und verlässt sich darauf, dass er zu ihr zurückkommt.
Kurzes Glück
Im November 1787 ist es so weit: Der Korporal Jacques Bosson logiert im Hotel de la Couronne in Greyerz und lädt am nächsten Tag Marie und Mathilde zu einer Kutschfahrt ein.
Danach erklärt Marie ihrem Vater, dass sie den Winter mit Jakob auf der Alm verbringen werde.
„Ich bin volljährig und kann tun und lassen, was ich will. Über die möglichen Folgen bin ich mir im Klaren, ich werde sie geduldig tragen. Nach Ostern komme ich wieder, dann sehen wir weiter.“
Montreuil
König Ludwig XVI. schenkt seiner jüngsten Schwester Élisabeth Philippe Marie Hélène de Bourbon 1783 zum 19. Geburtstag das Landgut Montreuil in der Nähe des Schlosses von Versailles. Dort richtet sie einen Bauernhof ein, der Notleidende ernähren soll. Weil aber die zwölf Schweizer Kühe kaum Milch geben, bittet sie ihren Bruder, einen Freiburger Kuhhirten zu beschaffen.
So kommt es, dass Jakob und Marie in ihrer Idylle auf der Alm im Frühjahr 1788 von zwei Soldaten in rotweißen Infanterieuniformen aufgescheucht werden. Sie haben Befehl von Benjamin Von der Weid, dem Kommandanten der dritten Kompanie im Regiment Waldner, den Korporal Jacques Bosson auf Wunsch des Königs von Frankreich nach Versailles zu bringen.
Während Marie nach Hause zurückkehrt, macht sich Jakob auf die Reise.
Als er sich dem Schloss von Versailles nähert, wundert er sich über die Verwahrlosung und den Gestank. (Später begreift er, dass es für den 10.000 Menschen umfassenden Hofstaat nur eine oder zwei funktionierende Toiletten gibt.)
Schloss Versailles stinkt aufs Land hinaus wie ein gigantisches Scheißhaus.
Ein Torwächter, dem der 31-Jährige seinen Marschbefehl vorweist, meint:
Kracht alles zusammen hier. Die haben kein Geld mehr. Leben Tag für Tag auf Pump. Sind alle pleite. Bankrott. Abgebrannt. Erledigt.
— Sogar der König?
— Der sowieso.
Im Gegensatz zum Schloss ist das Gut gepflegt. Jakob übernimmt die Kuhherde in Montreuil und erreicht, dass sich die Milchleistung in wenigen Wochen verdoppelt. Er freundet sich mit Josephini an, dem letzten verbliebenen Sopranisten an der Königlichen Oper, der allein im Haus der Kastraten auf der anderen Straßenseite wohnt.
Das Leben in Montreuil ist angenehm, aber Jakob sehnt sich nach Marie. Madame Élisabeth entgeht nicht, dass ihr Schweizer Kuhhirte traurig ist. Als sie begreift, was ihm fehlt, bittet sie im Frühjahr 1789 ihren Bruder erneut um einen Gefallen: Marie-Françoise Magnin soll kommen.
Benjamin Von der Weid sucht den reichen Bauern auf. Dessen 29 Jahre alte Tochter ist rasch reisefertig, und der Hauptmann bringt sie nach Freiburg. Am 15. April 1789 lässt er ihr einen Pass ausstellen und bucht zwei Plätze in der Postkutsche.
Zwei Wochen später trifft er mit Marie in Versailles ein – und die Bauerntochter wundert sich über den Puppenstuben-Hof in Montreuil.
Am 26. Mai 1789 heiratet sie Jakob in der Kirche von Saint-Symphorien. Und bald darauf erwarten die beiden ein Kind.
Revolution
Tag und Nacht strömen aus dem ganzen Land Bauern, Bürger, Landadlige und Priester nach Versailles, um mit dem König über die Brotpreise und die Steuerlast zu sprechen. Ein hungriger Pöbel randaliert seit Wochen.
Am 5. Oktober 1789 marschieren 6000 Marktfrauen, Wäscherinnen, Köchinnen, Putzfrauen und andere Lumpenweiber von Paris nach Versailles, einige mit provozierend entblößten Brüsten. Sie verlangen Brot, und weil der König ihnen keines geben kann, zwingen sie ihn und seine Familie, mit nach Paris zu kommen.
Das Ende der Geschichte
Ebenso wie das übrige Gesinde verlassen Marie und Jakob Montreuil. Die Kühe nehmen sie mit ins Greyerzerland, wo sie den kleinen Bauernhof „La Léchère“ erwerben und ihre Tochter Marguerite am 19. März 1790 geboren wird.
In Paris endet Madame Élisabeth ebenso wie ihr königlicher Bruder und ihre Schwägerin Marie Antoinette unter der Guillotine.
Marie stirbt im Alter von 75 Jahren, Jakob ein paar Monate nach ihr. Der Bauernhof existiert noch bis zu einem Brand im Jahr 1903.
Am nächsten Morgen
Am nächsten Morgen kommt die Schneefräse herauf. Möglicherweise sieht der Fahrer den eingeschneiten Toyota Corolla jedoch nicht, denn er fährt vorbei und schüttet das Auto vollends zu. Weil sich die Türen nicht mehr öffnen lassen, können Tina und Max nur durchs Beifahrerfenster ins Freie klettern.
Auf der geräumten Passstraße gehen sie hinunter. Bald kommt ihnen ein Streifenwagen der Freiburger Kantonspolizei entgegen. Die zwei Polizisten wissen bereits, dass sie auf der abgesperrten Passstraße steckengeblieben sind und nehmen sie erst einmal mit, um im Revier ein Protokoll wegen der Ordnungswidrigkeit aufzunehmen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In seinem Roman „Königskinder“ erzählt Alex Capus eine in eine Rahmenhandlung eingefügte Geschichte über Marie-Françoise Magnin, eine Tochter des reichsten Bauern im Greyerzerland, und dem mittellosen Waisen Jakob Boschung. Die märchenhafte Liebesgeschichte spielt vor und während der Französischen Revolution im Greyerzerland und in Versailles. Francis Reusser hat sie in seinem von dem Singspiel „Pauvre Jacques“ von Sewrin und Alissan de Chazet (1807) bzw. Carlo Boller und Fernand Ruffieux (1947) angeregten Kinofilm „Jacques et Françoise“ (1991) auch schon erzählt.
Der Roman „Königskinder“ ist voller Gegensätze. Da sind Marie und Jakob, die für reich und arm stehen, das stinkende, rußgeschwärzte, verwahrloste Schloss Versailles und das gepflegte Landgut Monteuil, die trotz des Staatsbankrotts verschwenderisch lebende Hofgesellschaft und die hungernde Bevölkerung, nicht zuletzt das Liebespaar aus dem 18. Jahrhundert und das wegen einer unvernünftigen Entscheidung auf einem Schweizer Alpenpass im Toyota Corolla eingeschneite Ehepaar.
Sowohl die Rahmenhandlung als auch die Binnengeschichte sind heiter, und Alex Capus reißt uns mit seiner Erzählfreude mit, auch wenn er mitunter am Kitsch entlang schrammt.
Den Roman „Königskinder“ von Alex Capus gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag
Alex Capus: Léon und Louise
Alex Capus: Eine Frage der Zeit
Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
Alex Capus: Das Leben ist gut
Alex Capus: Susanna
Alex Capus: Das kleine Haus am Sonnenhang