Alex Capus : Léon und Louise

Léon und Louise
Léon und Louise Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-446-23630-1, 315 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Alter von 17 Jahren kommt Léon Le Gall 1918 nach Saint-Luc-sur-Marne und verliebt sich dort in die gleichaltrige Louise Janvier. Bei ihrem ersten gemeinsamen Ausflug geraten sie in einen Luftangriff, werden schwer verletzt und getrennt. Zehn Jahre später sieht Léon die Totgeglaubte in Paris wieder. Er ist inzwischen verheiratet und Vater. Sie entsagen einander. Erst als die Deutschen einmarschieren und Louise Frankreich verlässt, schreibt sie Léon einen Brief ...
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Kritik

Alex Capus vermeidet in "Léon und Louise" jede Effekthascherei. Stilsicher schreibt er in einer leisen, poetischen Sprache. Elegant und unaufdringlich arbeitet er mit Komik und Humor.
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Serge Le Gall wurde kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 vom Gymnasium relegiert, weil er Opium konsumiert hatte. Statt Akademiker wurde er Gefängniswärter im Zuchthaus von Caen. Dort wollte er eine Gefangenenrevolte ohne das übliche Massaker beenden, aber einer der Aufständischen spaltete ihm mit einer Axt den Schädel.

Léon, einer seiner Söhne, wächst in Cherbourg auf. 1918 meldet sich der knapp Achtzehnjährige beim Bürgermeister zum Arbeitsdienst. Der schaut in eine Liste des Kriegsministers und schickt ihn als Morseassistenten zu Antoine Barthélemy, dem Bahnhofsvorsteher von Saint-Luc-sur-Marne, obwohl Léon gar nicht morsen kann.

Beim Radfahren wird Léon von einem gleichaltrigen Mädchen überholt, an dessen Fahrrad der Kettenschutz klappert. Weil sie ihm nicht mehr aus dem Sinn geht, hofft er, sie wiederzusehen und geht jeden Abend ins Café du Commerce. Nach fünf Wochen und drei Tagen kommt sie tatsächlich herein, um Zigaretten zu kaufen. Léon spricht sie an, und sie erkennt ihn wieder, aber sie lässt sich nicht von ihm nach Hause bringen.

Sie heiße Louise Janvier, erzählt ihm der Wirt. Im Frühjahr 1915 kam sie wie Léon über das Stellenvermittlungsprogramm des Kriegsministers nach Saint-Luc-sur-Marne, und zwar als Bürogehilfin des Bürgermeisters. Eigentlich sollte sie nur Kaffee kochen und Botengänge erledigen, aber sie brachte sich aus eigener Initiative das Maschineschreiben bei und tippt nun auch Briefe. Ebenfalls aus eigenem Antrieb sucht sie statt des Bürgermeisters die Angehörigen gefallener Soldaten auf und überbringt ihnen die traurige Nachricht.

Nachdem Léon ihr heimlich den Kettenschutz repariert hat, beschwert sie sich bei ihm, denn die Familien, zu denen sie als Unglücksbotin kommt, hören jetzt das Fahrrad nicht mehr nahen und werden von ihr überrascht. Léon montiert ihr daraufhin eine Klingel an die Lenkstange.

Auf einem Fahrradausflug über Nacht ans Meer begleitet sie ihn.

Aber ihr Glück ist nicht von langer Dauer, denn während sie zurückfahren, werden sie auf halber Strecke zwischen Le Tréport und Saint-Luc von einem deutschen Flugzeug beschossen.

Léon kommt in einem Lazarett wieder zu sich. Kanadische Sanitäter vom Roten Kreuz haben ihn gerettet. Aus Sorge um Louise kehrt er gegen ärztlichen Rat nach Saint-Luc zurück, bevor er sich von seinen Verletzungen erholt hat. Louise sei bei dem Luftangriff ums Leben gekommen, heißt es. Und sein Arbeitsplatz musste inzwischen neu besetzt werden. Der Bürgermeister vermittelt ihm eine in der Liste des Kriegsministers ausgeschriebene Stelle als Fernmeldespezialist bei der Police Judiciaire in Paris.

1921 wird Léon ins forensische Labor der Police Judiciaire versetzt.

Zwei Jahre später heiratet er seine Freundin Yvonne. Ihr erstes Kind wird 1924 geboren und erhält den Namen Michel. Im Herbst 1928 ist Yvonne erneut schwanger.

An Louise denkt Léon jeden Tag.

Während einer Metro-Fahrt am 17. September 1928 glaubt er, sie in der Station Saint-Sulpice im gegenüber haltenden Zug zu sehen. Kurz bevor die Züge auseinander fahren, schaut sie herüber. Zu Hause in seiner Drei-Zimmer-Wohnung erzählt er Yvonne davon. Ihr ist längst klar, dass Léon nicht sie, sondern Louise liebt, aber sie weiß auch, dass es ihm nie in den Sinn kommen würde, sie zu verlassen. Das ließe sein Ehrgefühl nicht zu.

Es dauert einige Zeit, bis Léon seine Jugendliebe wiederfindet und sich mit ihr im Café de Flore verabredet.

Ein Weinhändler aus Metz hatte die Schwerverletzte 1918 nach Amiens ins Frauenhospital gebracht. Nach einer Notoperation lag sie in der Station der hoffnungslosen Fälle. Erst ein halbes Jahr nach Kriegsende konnte sie das Krankenhaus verlassen. Sie kehrte sofort nach Saint-Luc-sur-Marne zurück, wo sie erfuhr, dass Léon ebenfalls gerettet worden war. Der Bürgermeister verriet ihr allerdings weder, dass Léon nach ihr gefragt hatte, noch welche Stelle er ihm vermittelt hatte. Und eine Adresse kannte er ohnehin nicht. – Inzwischen arbeitet Louise als Stenotypistin bei der Banque de France.

Ein einziges Mal schlafen Léon und Louise miteinander. Dann entscheidet Louise, dass sie ihr bisheriges Leben unverändert weiterführen, sich also nicht mehr sehen werden. Sie verlangt von Léon auch, dass er ihr nicht vor der Banque de France auflauert.

Léon hält sich an die Abmachung, und es wird elf Jahre, acht Monate und dreiundzwanzig Tage dauern, bis er wieder von Louise hört.

Im Februar 1929 kommt Yvonne mit Yves nieder.

Drei Monate später erliegt Léons achtundfünfzig Jahre alte Mutter auf dem Fischmarkt von Cherbourg einem Hirnschlag.

Ein Vierteljahr nach der Geburt seines Enkels Robert im April 1932 geht Léons Vater nach vierzig Jahren Schuldienst in Pension. Zehn Tage später lässt er sich einen Sarg kommen, führt mit Rizinusöl ab, zieht ein frisches weißes Nachthemd an, legt sich in den Sarg, schluckt eine tödliche Dosis Barbiturate und schließt den Deckel [Suizid].

Yvonne übernimmt es, das Domizil des Schwiegervaters in Cherbourg zur Ferienwohnung umzufunktionieren. Während ihres Aufenthalts dort lernt sie einen Mann namens Raoul kennen und schläft an drei aufeinander folgenden Abenden mit ihm. Dann kehrt sie nach Paris zurück. (Den Seitensprung wird sie Léon erst kurz vor ihrem Tod beichten.)

Auf der Heimfahrt nach Paris machte sie sich bittere Vorwürfe und fragte sich, ob sie den Ehebruch aus Rache für Léons Affäre mit der kleinen Louise begangen hatte oder aus weiblicher Eitelkeit und Furcht vor dem Altwerden; denn aus Gründen purer Lust, das hätte sie spätestens nach dem ersten Mal wissen müssen, wäre es die Mühe nicht wert gewesen.

Léon wird im Januar 1938 zum stellvertretenden Laborleiter des Wissenschaftlichen Dienstes der Police Judiciaire befördert.

Als die Deutschen 1940 einmarschieren, wird Léon von einem Clochard, dem er jeden Tag fünfzig Centimes gibt, angesprochen.

„Ich bin unverschämt, aber in der Not …“
„Ich habe Ihnen doch heute Morgen schon etwas gegeben, erinnern Sie sich?“
„Das ist es ja gerade, Monsieur, deshalb bitte ich Sie um Nachsicht und erlaube mir, mich höflich bei Ihnen zu erkundigen …“
„Was wollen Sie denn […]“
„[…] Kurzum, ich wollte Sie fragen: Werden sie mir morgen früh auch wieder fünfzig Centimes geben?“
„Was für eine Frage!“
„Und übermorgen?“
„Sie sind mir ja einer […]“
„Und nächste Woche, Monsieur? Werde ich auch nächste Woche und in einem Monat täglich fünfzig Centimes von Ihnen bekommen?“
„Jetzt reicht’s aber, was erlauben Sie sich!“ Léon fühlte sich in seiner zuverlässigen Gutmütigkeit verhöhnt und wandte sich zum Gehen.
„Monsieur Le Gall, bitte nur noch eine Sekunde! Ich bin mir meiner Unverschämtheit bewusst, aber die Not zwingt mich dazu.“
„Was ist denn los, Mann, nun sprechen Sie schon.“
„Na ja, die Nazis sind doch jetzt hier.“
„Das habe ich gesehen.“
Léon nickte.
„Sehen Sie, Monsieur Le Gall, deswegen muss ich fort und kann nicht bleiben.“
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Zum Busbahnhof Jaurès, da fahren Busse nach Marseille und Bordeaux.“
„Und?“
„Falls Sie mir ein Darlehen geben wollten auf die Münzen, die Sie mir in nächster Zeit geben würden …“

Am nächsten Tag gibt Léon dem Clochard 400 Francs.

Am 14. Juni 1940 schreibt Louise an Bord des Hilfskreuzers „Victor Schoelcher“ im Hafen von Lorient einen Brief an Léon. Sie teilt ihm mit, dass sie wegen des Krieges nach Übersee unterwegs sei.

Drei Tage später läuft das Schiff aus und schließt sich einem Konvoi von drei zu Goldtransportern umfunktionierten Passagierdampfern an. Das Gold soll nach Kanada in Sicherheit gebracht werden. Aber nach dem Waffenstillstand verlangen sowohl das Vichy-Regime als auch die von Charles de Gaulle geführten Freifranzosen das Gold. Weil eine Überquerung des Atlantiks angesichts der Drohung mit Torpedo-Angriffen zu gefährlich wäre, läuft der Konvoi am 4. Juli in Dakar ein. Von dort wird das Gold mit der Bahn ins Landesinnere gebracht. Und Louise verschlägt es ebenfalls nach Médine am Ufer des Senegal.

In der Zwischenzeit, am 23. Juni, sah Léon Hitler, Albert Speer, Hermann Giesler und Arno Breker in einer Limousine vorbeifahren.

Hätte Léon an jenem Morgen eine Pistole bei sich gehabt, dachte er später oft, und wäre die Pistole geladen und entsichert und er selbst in der Lage gewesen, diese einigermaßen zielsicher zu bedienen, und hätte er in diesem Augenblick die nötige Geistesgegenwart aufgebracht und keine Zeit vertrödelt mit ethisch-moralischen Erörterungen über christlich-abendländische Handlungsmaximen, so hätte er vielleicht eine Tat von welthistorischer Bedeutung vollbracht. So aber stand er nur staunend da mit seinen Baguettes unter dem Arm, und die zwei oder drei Sekunden währende Begegnung hatte weder auf sein weiteres Leben noch auf jenes des Führers die geringste Auswirkung.

Bevor die Deutschen einmarschierten, hatte Léon mitgeholfen, im Service des Étrangers in Paris ein paar Millionen Karteikarten über Juden, Kommunisten, Freimaurer und andere von den Nationalsozialisten verfolgte Personengruppen auszusortieren. Einer der Kähne, mit denen die Karteikarten weggebracht wurden, gerät im Juli in die Hände der Deutschen. Und weil ein großer Teil durch die Feuchtigkeit kaum noch zu gebrauchen ist, lässt der Polizeipräfekt sie von den Beamten der Police Judiciaire abschreiben.

SS-Hauptsturmführer Helmut Knochen leitet die Aktion. Er drängt Léon echten arabischen Mokka aus einer italienischen Mokkakanne auf und schickt ihm regelmäßig Nachschub. Léon stellt die Dosen jedoch in einen Schrank, denn er will von den Besatzern nichts geschenkt bekommen und zieht es vor, seinen Kriegskaffee weiterhin aus gerösteten Eicheln zuzubereiten.

Knochen behandelt ihn höflich, auch als er herausfindet, dass Léon beim Abschreiben der Karteikarten 73 Prozent Fehler macht, während die durchschnittliche Fehlerzahl nur bei 11,9 Prozent liegt. Léon schreibt zum Beispiel Yaruzelskj statt Jaruzelsky und Rue de l’Avione statt Rue des Moines. Knochen weist ihn darauf hin:

„Sie gehen gewiss mit mir darin einig, dass in der Verwaltung kleinste Fehler verheerende Auswirkungen haben können, nicht wahr?“

Der Hauptsturmführer lässt ihm eine helle Lampe aus Deutschland hinstellen und erwähnt nebenbei, dass er Kameraden habe, die bei so einer Fehlerquote von Sabotage und Hochverrat ausgingen.

„Es gibt da bei denen, unter uns gesagt, ein paar wirklich schlimme Hitzköpfe, denen ich nicht bei Nacht in einer dunklen Gasse begegnen möchte. Wissen Sie, was die mit Saboteuren machen? Zuerst so allerlei, und dann bringen sie sie nach Drancy und stellen sie an die Wand. Oder sie schmeißen sie gefesselt in die Seine. Oder lassen sie mit Genickschuss im nächsten Straßengraben liegen. Kriegsrecht. Die dürfen das.“
„Ich verstehe.“
„Heißblütige junge Spunde sind das. Nicht alle sehr gut erzogen, was soll man machen. Aber keine Sorge, Monsieur Le Gall, in diesem Haus hier bestimme vorläufig noch ich, wo’s langgeht. Und ich sage, man muss den Leuten gute Arbeitsbedingungen bieten, wenn sie gute Arbeit leisten sollen.“

Erst nach einiger Zeit wird der inzwischen zum Standartenführer beförderte Knochen deutlicher:

„Natürlich sind Sie zu feige für richtige Sabotage, Sie spielen nur so ein bisschen Résistance, dass es keinem wehtut. Sie wollen, dass Ihr Gewissen stillhält, und deshalb machen Sie absichtlich Fehler wie ein Schulbub.“

Weil auch Yvonne es ablehnt, den Kaffee der Deutschen zu trinken, verkauft Léon die zwei, drei Dutzend Dosen, die sich angesammelt haben, nach und nach auf dem Schwarzmarkt. Das Geld, das er dafür bekommt, sammelt er ungezählt in der verschließbaren Schublade seines Schreibtisches im Büro. Er hört sich nach Leuten um, die unverschuldet in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind und schickt ihnen Geld. Statt seinen Namen anzugeben, fälscht er amtliche Schreiben und tarnt die Sendungen als Nachzahlung von nichtgeleisteten Kinderzulagen, Steuerrückvergütung, Nachzahlung einer Fahrtkostenpauschale, Witwen-Ergänzungsleistung, Entschädigung für Einquartierung von Kriegsvertriebenen und so weiter.

Anfang Februar 1942 wendet sich Jules Caron aus der Buchhaltung an ihn. Er habe Gerüchte gehört, sagte er, denen zufolge Léon Geld verteile. Um sich mit seiner Familie aus Frankreich absetzen zu können, will er sein Boot „Fleur de Miel“ verkaufen. Léon ist bereit, ihm das benötigte Geld zu schenken, aber Caron legt ihm die Schlüssel für die Pinasse auf den Schreibtisch. Die „Fleur de Miel“ liege im Arsenal-Hafen, sagt er, und müsse regelmäßig gewartet werden.

Von da an verbringt Léon die Mittagspausen auf dem Hausboot. Nicht einmal Yvonne erzählt er davon. Sie findet zwar auch das heraus, spricht ihn jedoch nicht darauf an.

Louise schreibt am 24. Dezember 1940 und im Juli 1943 aus Médine. Sie gibt offen zu, mit dem verheirateten Funker Giuliano Galiani zu schlafen. Die Affäre werde nur so lange dauern, wie sie in Afrika ausharren müssen.

1944 wird Léon auf der Straße wieder von Martin angesprochen. Der frühere Clochard ist ordentlich gekleidet und riecht nicht mehr nach Rotwein. Er bringt Léon die 400 Francs zurück – und übergibt ihm das restliche Geld aus der Schublade seines Schreibtisches. Martin gehört den Forces françaises libres (FFL) an. Man wisse von dem Kaffee und dem Boot, sagt er, und Heißsporne in den Reihen der FFL könnten ihn deshalb für einen Kollaborateur halten. Er rät Léon, auf der Stelle für einige Zeit aus Paris zu verschwinden und übergibt ihm Bahnfahrkarten für die ganze Familie nach Bordeaux.

So kommt es, dass Léon und Yvonne mit dem zwanzigjährigen Michel, dem fünfzehnjährigen Yves, dem zwölfjährigen Robert, der sechsjährigen Muriel und dem drei Jahre alten Nachzügler Philippe den Sommer in Lacanau verbringen.

Aus den Nachrichten erfahren sie am 25. August 1944 von de Gaulles Einzug in Paris.

Am 26. September 1944 kehrt die Familie Le Gall nach Paris zurück.

Louise muss noch ein weiteres Jahr im Senegal ausharren. Erst am 30. September 1945 läuft die „Île de Cléron“ mit 346 Tonnen Gold von Dakar nach Toulon aus.

Nachdem Louise in Paris beim Frisör war, geht sie zu Léons Adresse. Sie weiß nicht einmal, ob er und seine Angehörigen den Krieg überlebt haben. Yvonne ist allein zu Hause.

„Ach, wissen Sie, am liebsten sitze ich einfach hier am Fenster in der Sonne wie eine Stubenkatze. Wenn ich müde bin, schlaf ich, und wenn ich Hunger habe, esse ich. Eigentlich habe ich ständig Hunger und bin dauernd müde. Wenn ich grad nicht schlafe.“

Sie empfiehlt Louise, Léon statt in der Wohnung auf dem Hausboot zu besuchen und verrät ihr, wo die „Fleur de Miel“ zu finden ist. Von da an treffen Léon und Louise sich jeden Tag auf dem Boot, aber Yvonne kann sich darauf verlassen, dass ihr Ehemann pünktlich zum Abendessen in den Kreis der Familie zurückkehrt. Sie legt Wert darauf, dass über das Liebesverhältnis nicht geredet wird.

Yvonne wollte sich ihre katzenhafte Zufriedenheit in ihrem sonnenbeschienenen Sessel nicht verderben lassen und verbat sich unnötig offene Worte, die ohnehin nur zu unwürdigen Dramen, falschen Versöhnungen und geheuchelten Treueschwüren geführt hätten. Dabei forderte sie keineswegs das Aufrechterhalten eines falschen Scheins, denn sie war im Frieden mit sich und Léon und dem Leben.

Michel wird 1947 Hilfsmechaniker bei Renault. Yves meldet sich 1949 zur Armee. Im Jahr darauf zieht Robert aus, um eine Landwirtschaftsschule im Burgund zu besuchen. Muriel lässt sich ab 1952 in einer Klosterschule bei Chartres zur Lehrerin ausbilden. Léon und Yvonne bleiben mit Philippe zurück.

Philippe lernt im September 1960 ein junges Mädchen aus der Schweiz kennen, das nach Oxford unterwegs ist, um dort zu studieren. Neun Monate später, am 23. Juli 1961, wird das erste ihrer vier Kinder geboren. Dieser Sohn wird später die Geschichte seines Großvaters erzählen.

Zwei Monate vor seiner Geburt spürte Yvonne eine Geschwulst am Hals. Léon drängte sie, zum Arzt zu gehen, aber sie weigerte sich. Sie stirbt nach kurzer Zeit.

Auf den Tag ein Jahr nach Yvonnes Beerdigung trafen sich Louise und Léon frühmorgens um sieben am Arsenal-Hafen […] Sie waren nun beide zweiundsechzig Jahre alt, ein gesundes, glückliches und schönes Paar.
Louise hatte Käse, Brot und Schinken mitgebracht, er hatte Wasser, Cidre und Rotwein dabei.
„Bist du sicher, dass der Kahn nicht untergeht?“, fragte Louise.
„Ganz sicher“, sagte Léon. „Ich habe den Rumpf alle zwei Jahre geputzt und frisch gestrichen, wie Caron es mir aufgetragen hat. Und der Motor ist tipptopp.“
„Dann lass uns gehen, es ist endlich Zeit.“
Sie gingen an Bord, verstauten die Vorräte in der Kabine und starteten den Motor. Dann machten sie die Leinen los, legten ab und fuhren aus dem Hafenbecken hinaus auf die Seine und flussabwärts dem Ozean entgegen.

Am 16. April 1986 versammeln sich Léons vier Söhne, die Tochter, die Schwiegertöchter und zwölf Enkel in Notre Dame. Die Kathedrale ist viel zu groß für die Trauergemeinde. Dass der Trauergottesdienst hier stattfindet, ist Léons letzter Scherz. Obwohl er gar nicht gläubig war, hatte er seine Kinder „für den Fall, dass er jemals sterben sollte“, auf eine lateinische Totenmesse mit viel Weihrauch in Notre Dame eingeschworen.

Der Kirchendiener zündet Kerzen an. Die Trauergäste warten auf den Geistlichen. Weit hinter ihnen kreischt eine Seitentüre in den Angeln. Eine kleine Frau stöckelt nach vorne.

„Wer ist das?“
„Gehört die Frau zu uns?“
„Still, man kann euch hören.“
„Gehört die zur Familie?“
„Oder ist das vielleicht …?“
„Glaubst du?“
„Ach woher.“
„Bist du ihr nicht einmal im Treppenhaus …“
„Ja, aber da war’s ziemlich dunkel.“
„Hört auf zu gaffen.“
„Wo nur der Pfarrer bleibt?“

Das klackende Stakkato der kleinen Schritte bewegt sich „ohne jedes Ritardando oder Accelerando mit dem regelmäßigen Taktschlag eines Metronoms“ auf den Sarg zu. Die Frau küsst den Toten auf die Stirn und legt ihre Wange an Léons wächsernes Haupt. Nach einer Weile löst sie sich von ihm, nimmt eine Fahrradklingel aus ihrer Tasche, betätigt sie zweimal und legt sie lächelnd in den Sarg. Dann blickt sie die Trauernden der Reihe nach an, bevor sie durch den Mittelgang nach hinten stöckelt und die Kathedrale verlässt.

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Die ungewöhnliche Liebesbeziehung, um die sich der Roman „Léon und Louise“ von Alex Capus dreht, beginnt 1918 und endet 1986. Ausführlich wird vor allem die Zeit von 1940 bis 1945 geschildert. Da spiegelt sich in den persönlichen Erlebnissen von Yvonne, Léon und Louise die Zeitgeschichte: die deutsche Besatzung Frankreichs, die Befreiung durch Charles de Gaulle und die Jagd der Freifranzosen auf Kollaborateure. „Léon und Louise“ lässt sich als Plädoyer für Anstand und Toleranz verstehen.

Erzählt wird die Geschichte von Léons Enkel, der wohl mit Alex Capus gleichzusetzen ist. „Léon und Louise“ beginnt mit dem Ende, dem Trauergottesdienst für Léon Le Gall am 16. April 1986 in der Kathedrale Notre Dame in Paris. Vom zweiten Kapitel an entwickelt sich die Handlung chronologisch vom Kennenlernen bis zu einem Bootsausflug von Léon und Louise im Jahr 1962. (Die letzten Jahrzehnte werden übersprungen.)

Alex Capus vermeidet jede Effekthascherei. Stilsicher schreibt er in einer leisen, poetischen Sprache. Elegant und unaufdringlich arbeitet er mit Komik und Humor. Zugleich evoziert er eine heiter-melancholische Grundstimmung.

Den Roman „Léon und Louis“ von Alex Capus gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen (Regie: Anna Hartwich, München 2011, 6 CDs, ISBN 978-3-86717-698-9).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.