Monika Helfer : Bevor ich schlafen kann
Inhaltsangabe
Kritik
Ein Unglück kommt selten allein
Josefine („Josi“) war zehn Jahre alt, als ihre Mutter starb. Der Vater, der mit einem bis zum Knie amputierten linken Bein aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war, leitete bis zum Tod seiner Frau ein Kriegsopfer-Erholungsheim im Großen Walsertal; er holte die Matura nach, studierte Welthandel und wurde Beamter. Als Witwer zog er mit der Tochter nach Feldkirch und erhielt dort eine Stelle bei der Gemeindebücherei in Frastanz. Josi zog nach der Reifeprüfung nach Wien, um Medizin zu studieren.
19 Jahre nachdem ihr Vater in der Bücherei in Frastanz einen Herzinfarkt erlag, erfährt die inzwischen am Otto-Wagner-Spital in Wien praktizierende Psychiaterin bei einer Routine-Mammografie, dass sie an Brustkrebs erkrankt ist. Der Chirurg schlägt ihr Ziernarben in Form siebenzackiger Sterne vor, aber sie besteht auf kreuzförmigen Narben.
Josi ist seit 18 Jahren mit Tomas Bartok verheiratet, dessen Eltern 1956 aus Ungarn geflohen waren. Sie wohnen in Wien-Hütteldorf, wo Tomas ein Fitness-Center betreibt. Der 23-jährige Sohn Bruno möchte Maler werden, und die drei Jahre ältere Tochter Karla arbeitet in der Requisite des Theaters der Jugend.
Kurz nach der Brustoperation erfährt Josi, dass Tomas seit einem Jahr eine Liebesbeziehung mit dem Deutsch- und Mathematiklehrer Edgar hat. Daraufhin verlässt sie das gemeinsame Haus in Hütteldorf, zieht vorübergehend ins Hotel „Ananas“ und mietet dann eine Wohnung im 8. Bezirk.
Als sie vor der Scheidung noch einmal nach Hütteldorf kommt, versichert Tomas:
„Wir werden immer deine Freunde sein, Josi, Das weißt du.“
Da reißt sie die Pfanne vom Tisch, in der Edgar soeben einen Fisch im Gemüseberg zubereitet hat, und schleudert sie gegen die Wand der frisch renovierten Küche.
Neuorientierung
Bereits nach der Krebs-Diagnose beantragte Josi die Versetzung in den Vorruhestand. Darüber ist noch nicht entschieden, als sie kündigt und ihre Tätigkeit als Psychiaterin nach 25 Jahren beendet.
Einigen ihrer unglücklichen Anorexie-Patientinnen riet sie, sich vorzustellen, eine Rolle in einem Film oder Roman zu spielen. Josi befolgt nun den eigenen Rat. Bei einem Schneider namens Brunelli in den Tuchlauben im 1. Bezirk lässt sie sich einen Stresemann anfertigen. Von nun an trägt Josi Herrenanzüge.
Edgar, der über mehr Empathie als Tomas verfügt, bucht für Josi ein zwei Wochen dauerndes Seminar des Schriftstellers Michael Köhlmeier über griechische Sagen auf der Ägäis-Insel Hydra und überredet sie mit Hilfe von Karla und Bruno, die Reise anzutreten. Karla bringt ihrer Mutter rechtzeitig vorher drei weitere Herrenanzüge aus dem Fundus des Theaters der Jugend mit.
Nach der Ankunft im Hotel „Hera“ auf Hydra erfährt die 23-köpfige Gruppe von der Reiseführerin Barbara Schnell, dass an diesem Tag Alexis Lentos ertrunken ist, der einzige Sohn des Hoteliers und Verlobte der Rezeptionistin.
Michael Köhlmeier logiert mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem Haus oberhalb des Hotels. Weil im Hotel nicht ausreichend Zimmer verfügbar sind, müssen einige der Seminarteilnehmer in einem weiteren Haus einquartiert werden. Josi zieht es vor, in einer kleinen Dachkammer des Hotels zu wohnen. Allerdings lässt sich die Klimaanlage nicht abstellen und sorgt dafür, dass es in dem Zimmer so kalt wie in einem Cola-Automaten ist. Deshalb schleppt Josi die Matratze ins Bad, wickelt sich in Decken ein und schläft mit dem Kopf auf dem Rand der Duschtasse.
Sie freundet sich mit Paula Köhlmeier an, der zwölfjährigen Tochter des Schriftsteller-Ehepaars, und lernt auch ihren zwei Jahre jüngeren Bruder Lorenz flüchtig kennen.
Unter den Seminarteilnehmern sind zwei augenscheinlich befreundete Ehepaare: Beck und Lorber. Josi denkt beim Anblick des über 1.90 Meter großen Wiener Apothekers Max Lorber an Ernest Hemingway.
Als sie ihm etwas von der defekten Klimaanlage sagt, versucht er, sie zu reparieren, denn weder den Vater noch die Verlobte des Ertrunkenen wollen sie damit in der Trauer stören. Weil Max Lorber mit seinem Schweizer Messer im Zimmer nichts auszurichten vermag, geht er mit Josi in den Keller und sucht die zentrale Regulierung der Klimaanlage. Dort zwickt er mit einer im Werkzeugschrank gefundenen Zange ein Stromkabel durch.
Die Gäste beschweren sich, weil überall die Klimaanlage ausgefallen ist. Während die Gruppe beim Schwimmen ist, zieht Josi in ein anderes Hotel und reist am nächsten Morgen vorzeitig ab.
Mit der Aufforderung „Find mich in Wien“ verabschiedete sie sich von Max, und für Paula schrieb sie ihre Adresse auf.
Zurück in Wien
Josi weiß zwar, dass sich die Apotheke des Ehepaars Lorber in der Kettenbrückengasse befindet, aber sie meldet sich dort nicht, denn sie will von Max gefunden werden.
Zwei Tage nach der Rückreise der Gruppe erhält Josi allerdings Besuch von Eva Beck statt von ihm. Sie schlägt Josi unverblümt eine lesbische Affäre vor.
Nichts Tiefes, das zwei Leben in Unordnung bringen könnte, einfach nur Sex.
Darauf lässt Josi sich nicht ein.
Einige Wochen später hört sie nach einem Einkaufsbummel Stimmen in ihrer Wohnung. Es sind Karla und Paula. Die Zwölfjährige saß im Treppenhaus vor Josis Tür, als Karla zufällig vorbeikam, um nach ihrer Mutter zu sehen. Die Gymnasiastin ist mit ihrer Schultheater-Gruppe für ein paar Tage aus Vorarlberg nach Wien gereist.
Josi erzählt Paula von ihrem Liebeskummer.
Am Abend steht Max Lorber mit einem Rosenstrauß vor der Tür. Paula ist bei ihm. Sie nahm ein Taxi zur Kettenbrückengasse und sprach den Apotheker an, als er gerade zusperren wollte.
Nach dem kurzen Besuch wartet Josi tagelang vergeblich auf einen Anruf von Max.
Längst hätte sie wegen des Brustkrebses bei einer Nachuntersuchung sein sollen, aber sie beschließt, keinen entsprechenden Termin mehr zu vereinbaren.
Es soll kommen, was kommen soll. Mehr als die Brust lasse ich mir nicht ab- oder herausschneiden. Der Gedanke, dass sie jederzeit sehr gut in der Lage sein würde, sich auf unauffällige Art das Leben zu nehmen, erfüllte sie abermals mit einer fast heiligen Heiterkeit. Sie dachte: Ich bin frei.
Und dann ist Max plötzlich wieder da.
Keine Viertelstunde später lagen sie im Bett.
Beim Frühstück schlägt er vor, für zwei Tage in die Wachau zu fahren. Sein Gepäck befindet sich bereits im Auto, das er am Vorabend um die Ecke geparkt hat.
Nach dem Ausflug muss Josi wieder lange warten. Einmal sieht sie Max zufällig am Naschmarkt mit einer anderen Frau, die auch nicht seine Ehefrau ist. Drei Tage später steht er mit einem Koffer in der Tür. Offiziell sei er zehn Tage geschäftlich in Berlin, erklärt er. Um nicht gesehen zu werden, bleibt er in Josis Wohnung.
Josi muss nach ein paar Tagen an die frische Luft. Als sie zurückkommt, sitzen Max, Edgar und Tomas zusammen und rauchen einen Joint.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In ihrem Roman „Bevor ich schlafen kann“ denkt Monika Helfer sich in eine ungewöhnliche Frau hinein. Kurz nach einer Krebsdiagnose und Brustamputation lässt sie sich scheiden, weil ihr Ehemann bereits seit einem Jahr eine Liebesbeziehung mit einem Lehrer hat. Die schonungslose, sarkastische Psychiaterin befolgt nun selbst einen Rat, den sie ihren Patientinnen gab und stellt sich vor, eine Rolle in einem Film oder Roman zu spielen. Dazu erfindet sie sich neu, trägt Herrenanzüge und kündigt ihre Anstellung. Josi ist eine „zwischen Depression und Dynamit aufgespannte Frau“, die sich noch weniger als zuvor an gesellschaftliche Normen hält. Zornig und trotzig sucht sie sich einen Liebhaber. Monika Helfer versteht es, diese komplexe, widersprüchliche Romanfigur lebendig werden zu lassen.
Verblüffend ist, dass die Protagonistin nicht nur dem Schriftsteller Michael Köhlmeier und dessen Familie begegnet, sondern sich auch mit der zwölfjährigen Tochter Paula anfreundet. Dazu muss man wissen, dass Monika Helfer seit 1981 mit Michael Köhlmeier verheiratet ist. Die Tochter Paula kam 2003 im Alter von 21 Jahren durch einen Unfall bei einer Wanderung zur Burgruine Alt-Ems ums Leben. Monika Helfer hat „Bevor ich schlafen kann“ ihrem Mann Michael und den vier Kindern Oliver, Undine, Lorenz und Paula gewidmet.
Der Titel bezieht sich auf ein Zitat aus dem Gedicht „Stopping by Woods on a Snowy Evening“ des amerikanischen Dichters Robert Frost, das Josi und Paula als Siegel ihrer Freundschaft verwenden:
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Des Waldes Dunkel zieht mich an, doch muss zu meinem Wort ich stehn und Meilen gehn, bevor ich schlafen kann und Meilen gehn, bevor ich schlafen kann.
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag
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