Monika Helfer : Schau mich an, wenn ich mit dir rede!

Schau mich an, wenn ich mit dir rede!
Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Originalausgabe Jung und Jung Verlag, Salzburg / Wien 2017 ISBN 978-3-99027-094-3, 179 Seiten ISBN 978-3-99027-155-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, beobachtet in der U-Bahn eine Mutter mit ihrer Tochter, gibt ihnen Namen und denkt sich einen Schwarz-Weiß-Film dazu aus, in dem Sonja von Milan geschieden ist, die Tochter Vev in seiner neuen Patchwork-Familie lebt und ihre Mutter Halt an einem Mann aus der Halbwelt findet.
mehr erfahren

Kritik

In ihrem artifiziellen Roman "Schau mich an, wenn ich mit dir rede!" zeigt uns Monika Helfer, was nach einer Scheidung in den beiden neuen Partnerschaften geschehen kann. Die Darstellung ist verknappt, distanziert, emotionslos und zersplittert.
mehr erfahren

Eine Geschichte in Schwarz-Weiß

Eine Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, beobachtet in der U-Bahn eine Mutter mit ihrer Tochter.

Die Mutter neigte sich zu dem Mädchen hinüber und sagte: „Und? Wie ist das so mit dem Papa? Mag er dich noch?“

[…]
„Wie heißt deine neue liebe, liebe Mama? Ich vergesse ihren Namen immer, weil er so blöd ist.“
[…]
Nun riss die Frau das Kind am Ärmel. „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
[…]
„Und du? Du? Du? Magst du ihn immer noch, deinen lieben, lieben Vater? Ich will es wissen. Ich weiß schon, nichts darf ich, aber etwas wissen wollen darf ich wohl. Oder wollt ihr mir das auch noch verbieten?“
[…]
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
[…]
„Ob du deinen Vater immer noch magst, mehr will ich doch gar nicht wissen.“
Das Mädchen wischte sich die Augen, weinte aber nicht.
„Wobei!“, rief die Mutter aus, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen. „Die Frage lautet ja wohl, ob er dich immer noch mag. Jetzt, wo du noch zwei Halbschwestern hast, giltst du sicher gar nichts mehr.“
Und nun sagte das Mädchen: „Doch, schon, sie sind nett.“
„Ah, nett! […] Die sind nett. […] Viel netter als deine Mama zu dir. Viel, viel netter, hab ich recht?“
Jetzt liefen dem Mädchen Tränen aus den Augen. […]
„Und deine neue nette Mama, verwöhnt sie dich? Kocht jeden Tag, und Nachspeise dazu, und der Papa wird immer dicker. Der wird einmal richtig fett werden, richtig fett. Und du wirst auch richtig fett, weil du nach ihm kommst.“

Die Beobachterin malt sich einen Schwarz-Weiß-Film aus.

Die Mutter könnte Sonja heißen. […]
Die Tochter will ich Vev nennen, ein Kosename, abgeleitet von Genoveva.

Die Scheidung

Als Sonja und Milan noch verheiratet waren und am Donaukanal in Wien spazieren gingen, zerriss sie plötzlich ihr Kleid und sagte dann zu zwei Passanten, Milan habe versucht, sie zu vergewaltigen. Daraufhin schlugen die beiden fremden Männer den zu unrecht Beschuldigten zusammen, während Sonja wegrannte.

Seit fünf Jahren sind Sonja und Milan geschieden. Milan hatte die Scheidung eingereicht, aber nicht aus eigenen Antrieb, sondern weil seine abwechselnd Antidepressiva, Beruhigungs- und Aufputschmittel schluckende Frau ihn darum gebeten hatte.

„Bitte, reich du die Scheidung ein. Ich weiß nicht, wie das geht. Tu mir den Gefallen.“

Die Erziehungsberechtigung für die gemeinsame, inzwischen zehn- oder elfjährige Tochter Genoveva („Vev“) wurde ihm zugesprochen. Einmal im Monat trifft Vev sich mit Sonja.

Der Vater gab ihr Geld, Vev sollte seine Exfrau zum Essen einladen.

Patchwork-Familie

Milan stammt aus reichem Haus und hat nie länger als ein paar Monate eine berufliche Tätigkeit ausgeübt. Als er Sonja damals seiner Mutter vorstellte, fragte sie, ob er keine andere gefunden habe. Sie steckt ihm noch immer Geldkuverts zu, obwohl Milan inzwischen mit einer Krankenschwester zusammenlebt und nicht auf die finanzielle Unterstützung seiner Mutter angewiesen wäre.

Natalia („Nati“) hat zwei Töchter aus ihrer konfliktreichen Ehe mit einem Mann, der inzwischen mit einem anderen zusammenlebt: Fritzi ist erst 4 Jahre alt, Maja neun Jahre älter. Nati und Milan lernten sich bald nach seiner Scheidung im Krankenhaus kennen, als er dort wegen eines psychischen Zusammenbruchs behandelt wurde. Sie beendete daraufhin ihre Affäre mit dem in sie verliebten Turnusarzt Peter Niedermeier. Sonja stalkte ihren Ex-Mann, aber Nati fing die zum Teil mit Kot beschmierten Briefe ab und warf sie weg. Ein Jahr nach der Scheidung legte sich Sonja auf den Fußabstreifer seiner Wohnung. Danach verbrachte sie einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik.

Milan mietet zusätzlich zu seiner Wohnung die leerstehende nebenan und lässt beide durch einen von seinen Eltern finanzierten Umbau zusammenlegen. Dann zieht Nati mit ihren Töchtern zu ihm und Vev.

Milan mag Natis Töchter nicht, Maja noch weniger als die kleine Fritzi, und er bezweifelt, dass er mit Nati die Frau fürs Leben gefunden hat, aber er arrangiert sich mit der Situation.

Er war rundum zufrieden mit Nati, was natürlich noch lange nicht hieß, dass sie die Richtige war.

[…] kam Milan sein Alltag ziemlich sorgenfrei vor. Er genoss das. Er nahm in Kauf, dass er Nati nicht liebte, ebenso wenig wie ihre Kinder. Die er nicht nur nicht liebte, sondern geradezu hasste.

The Dude

Sonja wohnt mit einer putzwütigen jungen Frau zusammen. Die Sozialarbeiterin, die einmal in der Woche nach ihnen sieht, ist von der Sauberkeit beeindruckt.

Die 30-Jährige begegnet einem Mann, der sich „The Dude“ nennt und Sonja durch Aussehen und Auftreten beeindruckt. Einer Bettlerin legt er einen 100-Euro-Schein hin. Und er nimmt Sonja mit in seine Wohnung.

Er trug sie in sein Bett. Sie schlief ein, und als sie erwachte, lag sie auf seinem nackten haarigen Arm und dachte, ab jetzt ist er mein Riese. The Dude brachte Tee und Salamibrote. Er stellte einen Heizstrahler neben ihre Füße. Zwei Männer kamen herein, wahrscheinlich aus einem anderen Zimmer. Es waren Freunde, die bei ihm wohnten, weil sie nichts Eigenes hatten. Die Männer starrten Sonja an, als wäre sie eine Erscheinung, und The Dude erklärte, diese da sei ab jetzt seine Lady.

Als Vev bei ihrer Mutter zu Besuch war, lagen Menschen, die sie nicht kannte, um das parfümierte Bett herum. Auf dem Boden lagen sie, nur die Mama durfte im Bett liegen […].
Alle waren alkoholisiert oder zugedröhnt, der Geruch machte Vev unglücklich.

The Dude schleift die betrunkenen Männer aus der Wohnung und legt sie im Treppenhaus nebeneinander auf den Boden. Dann schließt er die Tür.

Er drehte Sonja auf den Rücken, sie schlug die Augen auf wie eine Schlafpuppe.

Er geht mit Sonja zum Sozialamt. Dort erklären die beiden, dass sie sich verlobt haben und zusammen wohnen. Die Beraterin lässt daraufhin Sonja ein Formular ausfüllen und schärft ihr ein, sich einmal pro Woche bei ihr zu melden.

The Dude bringt Sonja von den Tabletten weg und versorgt sie stattdessen mit Marihuana, das er für eine gute Medizin hält.

Als er fünf Jahre alt war und noch Eric hieß, saß er hinter seiner Mutter und deren Bruder im Auto. Der Onkel verursachte einen Verkehrsunfall, den nur Eric überlebte. Weil sein Vater, ein Kaufmann, viel unterwegs war, kam Eric zur reichen Witwe eines Adeligen, einer entfernten Verwandten, die sich aber nicht um ihn kümmerte, sondern das dem Personal überließ. Der durchtriebene Sohn der Hausangestellten zeigte dem einige Jahre jüngeren Eric „die wichtigsten Tricks fürs spätere Leben“.

Vor fünf Jahren las The Dude in der Zeitung von Elmar Ganter, einem arbeitslosen Obdachlosen, der ein zehnjähriges Mädchen aufgefangen hatte, das aus dem Fenster gefallen war. Weil das den Dude beeindruckte, nahm er den Retter des Kindes in seiner Wohnung auf und beschäftigte ihn beispielsweise mit Botengängen.

Elmar, der sich nur noch „Glatzkopf“ rufen lässt, kennt seine Eltern nicht, denn er wurde als Säugling in eine Babyklappe gelegt.

Der Glatzkopf schaute immer noch unglücklich. Er war vor der Wohnungstür aufgewacht, wo ihn The Dude zusammen mit den anderen hingelegt hatte. Neben seinen beiden Kollegen war er aufgewacht, die hatten noch geschnarcht. Er wusste, The Dude wollte ein neues Leben beginnen, und darin würde für ihn kein Platz mehr sein. Jedenfalls nicht, wenn er weiter so soff. Und auch wenn er nicht mehr soff, wenn The Dude in seinem neuen Leben keine Verwendung für ihn hätte, dann hätte er dort keinen Platz.

Ein Baumeister stiehlt Geld aus dem Safe eines türkischen Auftraggebers und übersieht dabei die Überwachungskamera. Als ihn der Bestohlene zur Rede stellt, glaubt der Dieb, gute Karten zu haben, weil er annimmt, dass es sich um Schwarzgeld handelt, aber der Türke zeigt ihn an und kann die Herkunft des Geldes nachweisen. Weil der Baumeister auf dem Video nicht klar zu erkennen ist, bittet er The Dude, ihm ein Alibi zu verschaffen, und der gibt daraufhin bei der Polizei zu Protokoll, er sei mit dem Beschuldigten zur Tatzeit in Graz gewesen. Im Gegenzug darf The Dude mit Sonja in eine schöne große Dachwohnung ziehen und braucht nur einen symbolischen Betrag als Miete zu bezahlen.

Die Trafikantin

Milan fängt eine Affäre mit einer Trafikantin an. Sie heißt Maria. Die Eltern hatten sie Ria gerufen, in der Schule nannte man sie Mary, und später wurde sie zu Mizzi. Es ist die zwölfte Frau, mit der er kopuliert hat. Die neunte war Sonja, die elfte Nati.

Wunschkind

Nati weiß, dass Milan kein weiteres Kind möchte. Aber sie wünscht sich eines. Deshalb denkt sie darüber nach, sich von einem Kerl schwängern zu lassen und das Kind Milan unterzuschieben.

Der Mann würde vom Ergebnis nie etwas erfahren; er wird glauben, nicht Vater zu sein – ähnlich wie Milan, nur umgekehrt.

Weil sie ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem Fremden für zu riskant hält, fällt ihre Wahl auf Dr. Traxler. den Chefarzt in der Kardiologie.

Dr. Traxler sperrte die Tür auf und sagte: „Ich will ehrlich sein, ich bin nicht verheiratet. Nicht mehr. Seit einigen Wochen bin ich geschieden. Ich habe eine erwachsene Tochter. Sie lebt in Berlin.“

Einige Wochen später beschließt Nat, doch kein weiteres Kind zu wollen und geht noch einmal in die Kardiologie hinauf.

„Herr Dr. Traxler“, sagte sie, „ich schlage vor, wir beide vergessen, was gewesen ist.“
Dr. Traxler verbeugte sich leicht vor ihr. Er wirkte nicht überrascht. „Danke, Natalie“, sagte er, „das ist sehr entgegenkommend von Ihnen. Ich hätte gern den gleichen Vorschlag gemacht, aber ich dachte, das geziemt sich nicht für mich.“

Einladung

Milan erhält einen langen handschriftlichen Brief von Sonjas neuem Lebensgefährten.

Liebe Freunde,
schon bald wäre angesagt zu sagen, liebe Verwandtschaft, womit schon ein guter Teil dessen, was gesagt werden soll, gesagt ist. […]

The Dude kündigt seine Eheschließung mit Sonja an.

Sonja, Vev und ich möchten dich, Milan, deine neue Frau und ihre beiden Töchter zu einem Abendessen einladen, das sich gewaschen hat. Niemand muss kochen, niemand muss aufräumen, das wird alles erledigt. Ich werde eine Cateringfirma beauftragen […]. Es wäre mir eine große Freude, euch eine Limousine zu schicken, damit die Sache auch ein bisschen nach Hollywood aussieht […].

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

In ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ zeigt uns Monika Helfer, was nach einer Scheidung in den beiden neuen Partnerschaften geschehen kann. Sonja findet Halt an einem Mann aus der Halbwelt, der mit ihr einen Neuanfang plant, aber ihr fauler Ex-Mann Milan arrangiert sich nur oberflächlich mit seiner neuen Patchwork-Familie und lässt sich treiben.

Parallel dazu geht es in „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ um Menschen, die als Kinder nicht gewollt waren ‒ Elmar Ganter fand man in einer Babyklappe ‒ und später in der Gesellschaft als nutzlos gelten.

Monika Helfer betont gleich zu Beginn und auch später noch mehrmals, dass es sich bei der erzählten Geschichte um Fiktion handelt. Eine Ich-Erzählerin denkt sich einen Schwarz-Weiß-Film aus.

Ich stellte mir vor, die Brüder Ethan und Joel Coen würden Regie führen, der Film wäre ein Gegenstück zu The Big Lebowski mit Jeff Bridges. Mit welcher Schauspielerin würden sie die Frau besetzen? Mit Julianne Moore? Oder mit Frances McDormand, der schwangeren Polizistin aus Fargo? Eher nicht. Ich würde den Brüdern zu Scarlett Johansson raten. Wie ich sie in The Man Who Wasn’t There gesehen habe. In einer Nebenrolle – Birdy, die leider wenig talentierte Klavierschülerin. Am liebsten wäre mir, alle Farben würden aus der Geschichte ausgetrieben. Eine Schwarzweiß-Geschichte – wie der Film mit Scarlett Johansson und Billy Bob Thornton, der den Ed Crane spielt. Der Autounfall. Birdy hat sich an Ed herangemacht, der verliert die Gewalt über sein Auto. Ein Rad des Wagens wird abgerissen. In Zeitlupe rollt es über die Leinwand …

Sonjas neuen Lebensgefährten benennt Monika Helfer nach dem von Jeff Bridges in „The Big Lebowski“ gespielten Althippie Jeff Lebowski: „The Dude“. Aber mit Filmen der Brüder Coen hat „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ sonst nichts zu tun.

Man kann Monika Helfers artifiziellen Roman als Parodie lesen, denn in vielen Szenen schwingt Ironie mit, und vor allem ein Charakter wie Milan wirkt tragikomisch. Die Sprache ist verknappt, distanziert und emotionslos. Manches deutet Monika Helfer in „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ nur an oder lässt es ganz aus (literarische Ellipsen). Die 35 kurzen Kapitel sind nicht chronologisch angeordnet, Übergänge fehlen, und die Darstellung ist bewusst zersplittert. Einfach macht es Monika Helfer den Leserinnen und Lesern damit nicht.

„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Jung und Jung Verlag

Monika Helfer: Bevor ich schlafen kann
Monika Helfer: Die Bagage
Monika Helfer: Vati
Monika Helfer: Die Jungfrau
Monika Helfer: Löwenherz

Milena Michiko Flašar - Ich nannte ihn Krawatte
Unaufdringlich erzählt Milena Michiko Flašar eine ernste, anrührende und tiefgründige Geschichte. "Ich nannte ihn Krawatte" ist ein poetisches Buch; das gilt sowohl für die ausgewogene Komposition als auch für die virtuose Sprache.
Ich nannte ihn Krawatte

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.