Michel Houellebecq : Vernichten

Vernichten
Anéantir Flammarion, Paris 2022 Vernichten Übersetzung: Stephan Kleiner, Bernd Wilczek DuMont-Buchverlag, Köln 2022 ISBN 978-3-8321-8193-2, 621 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während des Präsidentschaftswahlkampfes im Mai 2027 in Frankreich und den Vorbereitungen dazu finden rätselhafte Hacker- und Terroranschläge statt. Als enger Mitarbeiter des Ministers Bruno Juge ist Paul Raison in die Ermittlungen und politischen Vorgänge eingebunden. Als sein verwitweter Vater in der Provinz einen Schlaganfall erleidet und gepflegt werden muss, kommen er und seine Geschwister nach langer Zeit wieder zusammen. Seine zehn Jahre lang nur noch auf dem Papier bestehende Ehe wird zwar gerettet, aber kurz darauf erfährt Paul, dass er unheilbar krank ist ...
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Kritik

Der Roman "Vernichten" zerfällt in drei Handlungsstränge, und Michel Houellebecq versucht gar nicht, sie zusammenzuführen. Die Charaktere der Romanfiguren werden nicht ausgeleuchtet, und es ist auch keine psychologische Entwicklung erkennbar. Belangloses lädt Michel Houellebecq mit Pseudo-Bedeutung auf. "Vernichten" ist ein formal anspruchsloser, melancholischer Roman. Manche Feuilletonisten glauben in der gelangweilten Attitüde eine neue Art der von Michel Houellebecq gewohnten Provokationen zu sehen, denn er konterkariert damit die Erwartungen der Leserinnen und Leser.
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Terrorismus

Im November 2026 taucht im Internet ein Video auf, das zeigt, wie der amtierende französische Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltsminister guillotiniert wird. Bruno Juge ist jedoch nicht tot; es handelt sich um einen verblüffend gut gemachten Deep Fake. Bastien Doutremont von der Direction générale de la sécurité intérieure (DGSI) konstatiert:

„Erstens: Wir haben es mit einem Angriff von Unbekannten zu tun. Zweitens: Sie können digitale Spezialeffekte realisieren, die von den besten Spezialisten auf dem Gebiet für unmöglich gehalten werden. Drittens: Die Rechenleistung, die sie aufwenden können, ist unerhört, sie übersteigt alles bisher Bekannte. Viertens: Ihre Motive sind unbekannt.“

Einige Zeit später ist im Internet zu sehen, wie ein 400 Meter langes auf der Route Shanghai – Rotterdam verkehrendes Container-Schiff vor der Küste von A Coruña in die Luft gesprengt wird. Und dieses Mal handelt es sich nicht um einen Fake. Die zehnköpfige Besatzung erhielt eine Viertelstunde zuvor eine Warnung und konnte sich retten. Einen ähnlichen Anschlag auf ein Containerschiff der China Ocean Shipping Company vor der Küste der Maskarenen melden die Täter seltsamerweise nicht im Netz, und die Öffentlichkeit erfährt davon auch nichts.

Der nächste Anschlag erfolgt gegen das Unternehmen Cryos in Dänemark, den Weltmarktführer im Spermienhandel. Die Anlage wird durch einen Brandanschlag komplett zerstört. Diesmal posten die Täter wieder etwas im Internet, aber kein Video, sondern ein Foto, und das auf mehreren gehackten Pornoseiten. Sie nennen auch die Primzahlen 1039 und 5261. Es stellt sich heraus, dass es sich dabei um die Aktenzeichen eines Samenspenders und einer mit seinem Sperma befruchteten lesbischen Kundin handelt.

Doutremont und sein Vorgesetzter, Kommissar Martin-Renaud, der Chef der DGSI, gehen davon aus, dass die Täter stets dieselben sind, können sich aber auch nach monatelangen Ermittlungen und Beratungen mit der National Security Agency (NSA) in den USA noch immer nicht erklären, wer hinter den Anschlägen steht und welches Ziel damit verfolgt wird.

Später werden sie erfahren, dass auch der Betrieb des Hightech-Unternehmens Neutrino, eines Pioniers der Neuroinformatik, in der nordwestirischen Stadt Donegal durch einen Brandanschlag zerstört wurde und dabei drei Mitarbeiter ums Leben kamen.

Familiengeschichte

Édouard Raison hatte vor 40 Jahren beim französischen Nachrichtendienst angefangen und war in leitende Positionen aufgestiegen. Seit zehn Jahren ist der inzwischen 77-Jährige im Ruhestand und hat sich auf sein Haus im zur Gemeinde Villié-Morgon gehörenden Weiler Saint-Joseph-en-Beaujolais 50 Kilometer nördlich von Lyon zurückgezogen. Seine Frau Suzanne, eine Restauratorin, stürzte vor acht Jahren – ein halbes Jahr vor ihrer Verrentung – bei Arbeiten am Turm der Kathedrale von Amiens vom Gerüst. Die Haushaltshilfe Madeleine, die Édouard Raison damals einstellte, ist jetzt trotz des Altersunterschieds von 20 oder 25 Jahren seine Lebensgefährtin.

Im Dezember 2026 erleidet Édouard Raison einen Schlaganfall und wird nach Lyon ins Krankenhaus Saint-Luc gebracht. Die im Arras lebende Tochter Cécile trifft als erste aus der Familie in Lyon ein. Ihr älterer Bruder Paul folgt so rasch wie möglich.

Paul Raison ist als enger Mitarbeiter des Ministers Bruno Juge mit den rätselhaften Terroranschlägen und Videobotschaften befasst. Er und seine Frau Prudence, beide ENA-Absolventen und Finanzinspektoren, gehen auf die 50 zu. Paul schätzt, dass sie seit zehn Jahren kein Sexualleben mehr haben. Sie gehen sich aus dem Weg, schlafen nicht nur getrennt, sondern haben auch im Kühlschrank je eine reservierte Hälfte. Während Prudence einem Neopaganismus anhängt und an Reinkarnation glaubt, würde Paul sich als Agnostiker bezeichnen. Bei seiner Schwester Cécile handelt es sich dagegen um eine überzeugte Katholikin.

Im Alter von 19 Jahren lernte Cécile den Juristen Hervé kennen. Die beiden sind glücklich verheiratet. Hervé, der zuletzt als angestellter Notar beschäftigt war, ist seit einigen Monaten arbeitslos. Die beiden ziehen nun zu Madeleine ins Elternhaus, und Cécile fängt bei einem Start-up-Unternehmen an, das über die Website Marmilyon.org Köche bzw. Köchinnen für Privatfeiern vermittelt. (Einige Zeit später bekommt Hervé eine Anstellung als Versicherungsmakler im Beaujolais.)

Cécile und Hervé, die beide zu den Wählerinnen und Wählern des Rassemblement National gehören, haben zwei Töchter. Deborah, die ebenso wenig wie ihre Mutter studieren wollte, schlägt sich mit wechselnden Jobs durch. Anne-Lise promoviert inzwischen an der Sorbonne über Autoren der französischen Dekadenz und finanziert ihr Studium durch eine Verlagstätigkeit. (Das glaubt zumindest die Familie.)

Nachdem Édouard Raison aus dem Koma erwacht ist, erklärt die Chefärztin den Familienangehörigen, dass der gelähmte Patient zwar nicht reagieren, aber hören und sehen könne. Sie findet für ihn rasch einen freien Platz in der von Dr. Leroux medizinisch vorbildlich geleiteten Abteilung für PVZ-MCS-Patienten im Klinikum Belleville-en-Beaujolais. Am 30. Dezember wird Édouard Raison dorthin verlegt.

Paul holt seinen deutlich jüngeren Bruder Aurélien Raison, dessen Ehefrau Indy und den etwa neunjährigen Sohn Godefroy vom Bahnhof Mâcon-Loché ab. Indy schreibt als Gesellschaftsjournalistin für die Zeitschrift „Marianne“. Weil sie sich in Kalifornien künstlich befruchten ließ und dabei bewusst einen afroamerikanischen Samenspender wählte, ist das von einer Leihmutter ausgetragene Kind schwarz, und jeder sieht, dass Aurélien nicht der leibliche Vater sein kann.

Aurélien war gelangweilt, seine Frau langweilte ihn, sein Sohn langweilte ihn, und vermutlich war es schon seit Jahren so, dass er sich mit dem, was ihm als Familie diente, unablässig langweilte.

Aurélien Raison, der Nachkömmling unter den Geschwistern, studierte an der École de Condé in Paris und wurde Restaurator wie die Mutter. Seit zehn Jahren arbeitet er für die Abteilung Kulturerbe und Architektur im Kulturministerium. Der Generaldirektor Jean-Michel Drapier beauftragt ihn mit der Restaurierung der stark verschlissenen Wandteppiche der Margareta von Ungarn im Schloss Germolles nahe Chalon-sur-Saône, besteht allerdings darauf, dass er an drei Tagen pro Woche weiter im Schloss Chantilly arbeitet und gesteht ihm für die Arbeitstage im Schloss Germolles keine Aufwandsentschädigung zu.

Am 1. März 2027 hat Aurélien einen Termin bei seinem Scheidungsanwalt.

Aurélien hatte natürlich nicht sofort gemerkt, dass er ein Stück Scheiße geheiratet hatte und obendrein ein habgieriges Stück Scheiße, das ist etwas, was man nicht sofort erkennt, es dauert mindestens einige Monate, um zu begreifen, dass man in der Hölle leben wird und dass es sich nicht um eine simple Hölle handelt, die Höllenkreise sind zahlreich, er war im Laufe der Jahre in immer neue, immer erdrückendere, immer schwärzere und stickigere Schichten eingesunken, die bitteren Worte, die sie Abend für Abend wechselten, waren jedes Mal ein wenig mehr mit blankem Hass aufgeladen. […] Seit zwei oder drei Jahren spielte Aurélien mit dem Gedanken, sie umzubringen […].

Für Cécile kommt die Scheidung ihres Bruders zwar nicht unerwartet, aber eine Bemerkung überrascht sie schon:

„Ich bin nie unfruchtbar gewesen. Sie hat sich das ausgedacht. Ich habe nie verstanden, warum sie einen anderen Spender wollte.“

Wahlkampf

Aufgrund einer Verfassungsreform im Jahr 2008 muss bei der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 2027 ein Wechsel stattfinden, denn nach zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden darf der derzeitige Staatspräsident erst beim übernächsten Mal, wieder kandidieren.

Ein halbes Jahr vor der Wahl gilt der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltsminister Bruno Juge als aussichtsreichster Bewerber, aber der Präsident sorgt dafür, dass seine Partei nicht den seriösen Politiker aufstellt, sondern ein Leichtgewicht, den TV-Moderator Benjamin („Ben“) Sarfati, denn in fünf Jahren will er ins Amt zurückkehren, und Sarfati wird in der Zwischenzeit nur eine Galionsfigur sein. Der Präsident strebt die Abschaffung des Premierministers und die Vereinigung beider Ämter an. Zugleich soll die Macht des Parlaments eingeschränkt werden. Dazu meint Bruno Juge gegenüber seinem Vertrauten Paul Raison:

„Es hat etwas Postdemokratisches, wenn du so willst, aber das machen jetzt alle so, anders funktioniert es nicht mehr, die Demokratie als System ist tot, sie ist zu langsam, zu schwerfällig.“

Bruno hatte sich nie mit seinen politischen Überzeugungen hervorgetan, er war die extreme Verkörperung des Experten, der seine Akten kannte […].
Die menschliche Welt schien ihm aus selbstsüchtigen kleinen, nicht miteinander verbundenen Kackwürsten zu bestehen, manchmal kamen die Würste in Bewegung und kopulierten nach ihrer Art, jede auf ihre Weise, daraus folgte die Existenz neuer, ganz kleiner Kackwürste. […] Seit einigen Jahren allerdings kopulierten die Kackwürste in geringerer Anzahl, sie schienen gelernt zu haben, einander zurückzuweisen, sie nahmen den Gestank der anderen wahr und schoben einander angewidert beiseite, ein Aussterben der menschlichen Art erschien mittelfristig vorstellbar. Blieben noch andere Schweinereien wie die der Schaben und der Bären, aber man kann nicht alles gleichzeitig regeln, dachte Paul. Im Grunde hatte er nichts gegen de Zerstörung einer Samenbank einzuwenden. Die Idee, Sperma zu kaufen und sich ganz allgemein einem Fortpflanzungsprojekt zu widmen, dem nicht einmal sexuelle Begierde, Liebe oder ein gleichwertiges Gefühl als Vorwand diente, erschien ihm ehrlich gesagt widerwärtig.

Der Minister, der als starker Mann der Regierung eine wichtige Rolle im Wahlkampf der Präsidentenpartei spielt, wird von Solène Signal beraten, der Leiterin der Consulting-Agentur Confluences. Als persönliche Betreuerin stellt sie Raksaneh ab, eine iranisch-stämmige Frau Mitte 20. Sorgen bereitet ihr, dass Bruno und Évangélines Juge dabei sind, sich nach 25 Jahren Ehejahren scheiden zu lassen.

Paul Raison, der eng in den Wahlkampf seines Vorgesetzten eingebunden wird, fällt auf, dass es sich bei der Jahreszahl 2027 um eine Primzahl handelt.

Ehegeschichte

Als der Boiler in seinem Badezimmer defekt ist, weicht Paul in das seiner Frau aus, die schon vor ihm ins Ministerium gegangen ist und legt ihr einen Zettel mit einer Erklärung bzw. Entschuldigung hin.

Einige Zeit später hakt sie sich auf dem gemeinsamen Weg zum Ministerium unvermittelt bei ihm ein.

Prudence muss in die Bretagne. Ihre Mutter kam bei einem Autounfall in Vannes ums Leben, und ihr Vater liegt nun im Krankenhaus zur Beobachtung. Sie nimmt den TGV nach Auray und fährt von dort zu ihrem Elternhaus in Larmor-Baden mit Blick über den Golf von Morbihan und auf die Île aux Moines. Ihre Schwester reist aus Vancouver an. Priscilla ist mit einem englischsprachigen, in der Ölindustrie beschäftigten Kanadier verheiratet, will sich aber jetzt scheiden lassen und nicht mehr nach Kanada zurückkehren, sondern mit den beiden Töchtern zum Vater ins Elternhaus ziehen.

Während Prudence noch in der Bretagne ist, will Paul sich auf den ersten Geschlechtsverkehr mit ihr seit zehn Jahren vorbereiten und wendet sich deshalb an einen Escort-Service im Internet. Seine Wahl fällt auf eine 23-jährige Studentin, die sich „Mélodie“ nennt. Auf dem Foto ist nur ihr Körper zu sehen, nicht jedoch ihr Gesicht. In der Wohnung, in der sie ihn empfängt, ist es dunkel. Erst während der Fellatio fällt ein Lichtschein auf ihr Gesicht, und – obwohl er sie seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hat – erkennt Paul seine Nichte Anne-Lise. So finanziert sie also ihr Studium. Die Eltern dürfen davon nichts erfahren.

Altenpflege

Madeleine schlief seit Wochen im Klinikum Belleville-en-Beaujolais, um bei Édouards Pflege helfen zu können. Eine Gewerkschaftsfunktionärin sieht darin einen Verstoß gegen die Vorschriften und besteht darauf, dass Madeleine nur noch zeitweise als Besucherin bei ihrem Lebensgefährten sein darf.

Kurz darauf wird Dr. Leroux nach Toulon versetzt, und der nicht nur für die PVZ-MCS-Abteilung, sondern auch für das Altenpflegeheim und die Tagesklinik zuständige Verwaltungsdirektor leitet eine Umstrukturierung zur Personaleinsparung ein. Die für Édouard Raison zuständige schwarze Pflegerin Maryse ‒ die inzwischen ein Liebesverhältnis mit Aurélien Raison hat ‒ wird ins Altenheim versetzt und befürchtet, dass sich die Versorgung der Patienten im PVZ-MCS-Bereich drastisch verschlechtern wird.

Die Familie beschließt deshalb, Édouard nach Hause zu holen und setzt sich im März 2027 in Lyon mit Aktivisten einer von einem Milliardär belgischer Abstammung in Oregon gegründeten Bewegung zur Bekämpfung von Mord in Krankenhäusern in Verbindung. Paul fragt den Gesprächspartner, warum er sich in der Organisation engagiere, und Brian antwortet:

„Am einfachsten lässt es sich wohl damit erklären, dass mir schon sehr früh bewusst war, dass unsere Gesellschaft ein Problem mit dem Altwerden hat und dass es ein schwerwiegendes Problem ist, das zur Selbstzerstörung führen könnte.“

Nachdem die Familie ein Krankenpflegebett und einen Rollstuhl besorgt hat, riskiert Maryse ihre Anstellung, indem sie Édouard Raison im Rollstuhl zum Kleintransporter der Aktivisten bringt.

Obwohl sie dabei von der Gewerkschaftsfunktionärin gesehen wurde, bleibt eine Anzeige aus. Aber Indy greift den Fall auf, schreibt einen Zeitungsartikel über Édouard Raisons angebliche Entführung und prangert Paul Raison als Geldgeber der Aktion an.

Maryse droht die Kündigung. Damit verlöre sie aber auch die Aufenthaltserlaubnis, und Aurélien kann sie nicht heiraten, solange er nicht von Indy geschieden ist. Er erhängt sich.

In der Wahlkampfzentrale in Paris bricht Panik aus. Zur Schadensbegrenzung lässt sich Paul „aus persönlichen Gründen“ in den einstweiligen Ruhestand versetzen.

Präsidentschaftswahlen

Bei der Präsidentschaftswahl am 16. Mai 2027 erhält der von Bérengère de Villecraon beratene 27 Jahre alte Kandidat des Rassemblement National, ein Stadtrat von Orange, der an der École des hautes études commerciales de Paris studiert hatte, 27 Prozent der gültigen Stimmen. Ben Sarfati folgt mit 20 Prozent. Zwischen den beiden wird die Stichwahl am 30. Mai entscheiden.

Vor dem zweiten Wahlgang torpedieren die Terroristen bei den Balearen ein mit 500 afrikanischen Migranten überladenes abgedriftetes Schiff. Die Überlebenden der Explosion, die nicht rasch ertrinken, werden mit Salven aus automatischen Waffen ermordet. Die Täter filmen das alles und posten das Video im Internet.

Aus Pietät wird der Wahlkampf ausgesetzt.

Bei der Stichwahl gewinnt Ben Sarfati mit 54,2 Prozent der Stimmen. Er wird als Staatspräsident vereidigt, aber alle wissen, dass der faktische Chef der neuen Regierung Bruno Juge heißt. Der Minister wird voraussichtlich in fünf Jahren gegen den soeben abgelösten Staatspräsidenten antreten.

Vor dem Tod

Paul Raison leidet schon lange unter Zahnschmerzen. Der Zahnarzt Bashar Al Nazri zieht ihm zwei Weisheitszähne und rät ihm, eine Geschwulst am Kiefer vom HNO-Arzt Amit Nakkache untersuchen zu lassen.

Die am 29. Juni 2027, Pauls 50. Geburtstag, entnommene Biopsie bestätigt den Verdacht, dass die Geschwulst bösartig ist. Eine MRT und ein PET-Scan zeigen einen großen Tumor, der Zunge und Kiefer befallen hat. Dr. Nakkache bringt den Patienten mit den Doktoren Martial, Lesage und Lebon zusammen, die ihn bezüglich Chirurgie, Chemo- und Strahlentherapie beraten. Nach der Besprechung konstatiert Paul:

„Sie sind also der Meinung […], ich soll mir den Kiefer entfernen und die Zunge herausschneiden lassen, um eine Überlebenschance von eins zu vier zu haben?“

Prudence drängt ihn, eine zweite Meinung einzuholen und dabei seine politischen Kontakte zu nutzen. Bruno Juge telefoniert mit dem Gesundheitsminister, und der vermittelt Paul einen Termin bei Prof. Bokobza im Institut Gustave Roussy in Villejuif, der als bester Mundkrebschirurg in Europa gilt.

Nachdem Paul ihn konsultiert hat, beschließt er, auf eine chirurgische Entfernung des Tumors zumindest vorerst zu verzichten und sich erst einmal nur einer kombinierten Chemo- und Strahlentherapie im Hôpital de la Pietié-Salpêtrière zu unterziehen. Sie beginnt am 19. Juli, und im August wird die Behandlung durch eine Immuntherapie ergänzt.

Während der jeweils sechs Stunden an der Infusion liest Paul Sherlock-Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle und Kriminalromane von Agatha Christie, aber auch den Roman „Der Fetzen“ von Philippe Lançon, der den Terroranschlag auf das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015 in Paris mit einem zerschossenen Gesicht überlebte und 17 plastische Operationen erdulden musste.

Die Bestrahlung muss am 31. August abgebrochen werden. Am 18. September fährt Prudence mit Paul nach Saint-Joseph-en-Beaujolais. Dort sitzt er seinem gelähmten Vater stundenlang im Rollstuhl gegenüber.

Zehn Jahre lang hatten Paul und Prudence kein Sexualleben, aber in den letzten Monaten verzichten sie nicht mehr darauf, obwohl Paul sehr geschwächt ist.

[…] stellte er sich beim Oralsex nicht schlecht an, und er versuchte darüber zu scherzen, welche Folgen die Entfernung seiner Zunge für ihre Beziehung hätte; doch er bemerkte sofort, dass sich dieses Thema nicht für Scherze eignete.

Nach weiteren Untersuchungen erfährt Paul am 15. Oktober von Prof. Bokobza im Institut Gustave Roussy in Villejuif, dass sich der Krebs bis zum Zungengrund ausgedehnt hat und eine Operation nicht mehr möglich ist.

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Die Handlung des Romans „Vernichten“ spielt in naher Zukunft: 2026/27. Den Namen des amtierenden französischen Staatspräsidenten nennt Michel Houellebecq zwar nicht, aber es kann sich nur um Emmanuel Macron handeln, weil er nach zwei Amtsperioden erst einmal pausieren muss. Michel Houellebecq geht also von Emmanuel Macrons Wiederwahl im April 2022 aus. Feuilletonisten vermuten, dass der Autor bei der Romanfigur Bruno Juge an seinen Freund Bruno Le Maire (*1969) gedacht hat, der seit 2017 Minister für Wirtschaft und Finanzen ist.

Michel Houellebecq erzählt zum einen von rätselhaften Terroranschlägen, die nicht aufgeklärt werden. Dieser Teil des Romans lässt sich dem Genre Polit- bzw. Agententhriller zuordnen, und als Stichworte könnte man aufzählen: Hackerangriffe, Cyberterror, Welthandel, amerikanisch-chinesischer Handelskrieg, Geheimdienste …

Parallel dazu verfolgen wir in „Vernichten“ den französischen Präsidentschaftswahlkampf im Mai 2027 und die Vorbereitungen dazu. Das liest sich wie eine satirische Darstellung des inneren Politikbetriebs.

„Vernichten“ dreht sich darüber hinaus um die Familie Raison, und in diesen Handlungsstrang packt Michel Houellebecq viel hinein. Am Beispiel des nach einem Schlaganfall gelähmten Patriarchen Édouard Raison prangert der Autor ein kaputtgespartes Gesundheitssystem an, in dem Pflegebedürftige vernachlässigt werden. Paul Raison, der ältere der beiden Söhne des Gelähmten, steht nach zehn Jahren ohne Sexualleben vor dem Scheitern seiner Ehe mit Prudence, dann renkt sich alles ein, aber das Glück ist von kurzer Dauer, weil er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Angesichts des bevorstehenden Todes stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Wertes von Liebesbeziehungen.

In diese drei Handlungsstränge zerfällt der Roman „Vernichten“. Auf Kohärenz kommt es Michel Houellebecq nicht an. Es ist auch kein literarischer Bezug zwischen den Elementen erkennbar, beispielsweise eine Spiegelung oder Kontrastierung. Die Teile bleiben einfach unverbunden, und Michel Houellebecq versucht gar nicht, sie zusammenzuführen. Den Handlungsstrang über die Terroranschläge lässt er einfach fallen.

Die Charaktere der Romanfiguren in „Vernichten“ werden nicht ausgeleuchtet, und es ist auch keine psychologische Entwicklung erkennbar. Stattdessen schildert Michel Houellebecq immer wieder (Alb-)Träume des Protagonisten Paul Raison, und sowohl philosophische Betrachtungen als auch onkologische Referate retardieren den Fluss des Geschehens. Belangloses lädt Michel Houellebecq mit Pseudo-Bedeutung auf, beispielsweise bei den Überlegungen zu Primzahlen. „Vernichten“ ist ein formal anspruchsloser, melancholischer, um nicht zu sagen müder oder fader Roman. Manche Feuilletonisten glauben in der gelangweilten Attitüde des Autors eine neue Art der von Michel Houellebecq gewohnten Provokationen zu sehen, denn er konterkariert damit die Erwartungen der Leserinnen und Leser.

Übrigens: Als Édouard Raisons Geburtsjahr nennt Michel Houellebecq 1952, aber an anderer Stelle gibt er das aktuelle Alter im Jahr 2026 mit 77 an. Das passt nicht zusammen.

Den Roman „Vernichten“ von Michel Houellebecq gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Berkel.

Sebastian Hartmann brachte den Roman „Vernichten“ von Michel Houellebecq auf die Bühne (Premiere: Staatsschauspiel Dresden, 27. April 2023).
 

Veranschaulichung der Beziehungen

Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.