Daniel Kehlmann : Lichtspiel
Inhaltsangabe
Kritik
Was gibt es Neues am Sonntag
Der demente Greis Franz Wilzek lebt im Seniorenheim Abendruh in Wien. Weil er früher Assistent von G. W. Pabst und später selbst Regisseur war, wird er vom ORF in die Fernsehsendung „Was gibt es Neues am Sonntag“ eingeladen. Die ungewohnte Umgebung verwirrt ihn, und als der Moderator Heinz Conrads ihn nach dem verschollenen, 1944/45 von G. W. Pabst in den Barrandov-Ateliers in Prag gedrehten Kriminalfilm „Der Fall Mollander“ fragt, erstarrt er. Der Film sei nie gedreht worden, behauptet er stur – und verpatzt Heinz Conrads damit die Sendung.
Draußen
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten versucht G. W. Pabst in den USA einen Neuanfang, und er hat auch schon eine Idee für einen Film: „War Has Been Declared“.
Ein Schiff, Luxus, auf hoher See. Auf einmal: Krieg erklärt! Streit, Passagiere überall. Gewalt auch. Spannung groß!
[…] auf kleinstem Raum konnte man das Zerbrechen einer Zivilisation zeigen: elegante Menschen aus der ganzen Welt, eben noch in distinguierter Eintracht, aber auf einmal schleicht sich Misstrauen ein, Streit bricht aus, Fraktionen bilden sich, Menschen verfallen wahnhafter Wut. […]
Die amerikanischen Produzenten geben sich begeistert („great“), loben die Idee überschwänglich und stellen G. W. Pabst in Aussicht, sie realisieren zu können, später, nach „A Modern Hero“, den Film, den er jetzt erst einmal drehen soll. Der Regisseur ist entsetzt, denn er findet das Drehbuch grottenschlecht. Aber die Amerikaner sind vom Erfolg überzeugt. Mit dem berühmten Regisseur könne es gar nicht anders sein.
Wie von Pabst befürchtet, wird der im April 1934 uraufgeführte Streifen schon nach einer Woche aus dem Kinoprogramm genommen.
G. W. Pabst klammert sich an sein Projekt „War Has Been Declared“. Er versucht, Greta Garbo dafür zu gewinnen, die nach ihrer Rolle in seinem erfolgreichen Film „Die freudlose Gasse“ den Absprung nach Hollywood geschafft hat. Der Weltstar schätzt den deutschen Regisseur:
Film – das war bis vor kurzem Spektakel und Augenrollen gewesen, Cowboys mit Pistolen, Zweikämpfe unter Rittern, Geister in der Nacht und Clowns, die vor Polizisten flohen. Aber wenn er sprach, klang es mit einem Mal wie Theater, wie ein Roman, wie echte Kunst.
Aber Greta Garbo weiß, dass G. W. Pabst nach dem Scheitern mit „A Modern Hero“ in Hollywood keine Chance mehr hat und verweigert sich mit der Begründung, „War Has Been Declared“ sei ein Ensemble-Film.
Louise Brooks, der G. W. Pabst mit der Hauptrolle in „Die Büchse der Pandora“ zum Durchbruch verhalf, sagt ebenfalls ab.
Bei einer Gartenparty von Fred Zinnemann wird G. W. Pabst von Kuno Krämer angesprochen, der von den Nationalsozialisten den Auftrag erhalten hat, den Regisseur zur Rückkehr aufzufordern. Verärgert schickt Pabst ihn weg. Mit den Nazis will er nichts zu tun haben.
Als er einsieht, dass es für ihn in den USA nichts zu gewinnen gibt, kehrt er mit seiner Frau Gertrude („Trude“) und dem Sohn Jakob nach Europa zurück, aber nicht ins Deutsche Reich, sondern nach Frankreich.
Dort erfährt er, dass einer der Produzenten abgesprungen ist und das in Aussicht gestellte Projekt deshalb nicht realisiert wird.
Daraufhin will G. W. Pabst gleich wieder zurück nach Hollywood und es dort noch einmal versuchen. Aber zuvor muss er noch kurz seine Mutter Erika Pabst in der Steiermark besuchen, denn einem Telegramm zufolge ist sie schwer krank, und er rechnet mit einem Abschied für immer.
Drinnen
Erika Pabst wohnt seit acht Jahren in Schloss Dreiturm im Dorf Tillmitsch, einem früheren Jagdschloss der Bischöfe von Salzburg in der Steiermark, das ihr Sohn Wilhelm erworben hat. Dort wird sie von der im Parterre wohnenden Familie des Hausmeisters betreut: Liesl und Karl Jerzabek mit den Töchtern Gerti und Mitzi.
Am 30. August 1939 werden Wilhelm, Erika und Jakob Pabst von Karl Jerzabek mit einem Fuhrwerk vom Bahnhof abgeholt.
Erika Pabst ist gar nicht sterbenskrank, wie das von den Jerzabeks geschickte Telegramm befürchten ließ. Wilhelm Pabst will seine Mutter in einem Seniorenheim unterbringen und dann gleich wieder weg. Die für den Transit durch die Schweiz und Frankreich sowie die Einreise in die USA erforderlichen Papiere und die Tickets für die Atlantik-Passage hat er bei sich.
Aber am 1. September 1939 beginnt Hitler den Krieg gegen Polen, und die Grenzen werden geschlossen. Der Familie Pabst bleibt nichts anderes übrig, als in Tillmitsch zu bleiben. Allerdings besteht Karl Jerzabek, der Leiter der NSDAP-Ortsgruppe, darauf, dass er sich mit seiner Familie in der ersten Etage einrichten kann und Wilhelm Pabst mit seiner Mutter, der Ehefrau und dem Sohn mit dem Erdgeschoss vorlieb nimmt. Außerdem muss Trude Pabst nicht nur den eigenen Haushalt führen und die Schwiegermutter pflegen, sondern auch für die Jerabeks kochen und waschen.
Nach einiger Zeit taucht Kuno Krämer auf und bestellt den Filmregisseur zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda nach Berlin. Um Pabsts Widerstand zu überwinden, verspricht er, dessen Mutter in einem sehr guten Seniorenheim unterzubringen und sorgt dafür, dass die Hausmeisterfamilie wieder ins Parterre zieht.
Im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda muss G. W. Pabst so weit gehen, dass er argwöhnt, man habe ihn absichtlich im Kreis herumgeführt. Aber auch im Büro des Ministers hat er noch einen weiten Weg bis zum Schreibtisch vor sich, denn es hat die Dimensionen einer Bahnhofshalle.
Der Minister fordert G. W. Pabst auf, wieder Filme im Deutschen Reich zu drehen.
„Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann [….], zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen.“
Erika Pabst wird tatsächlich in einem exklusiven Seniorenheim in Mödling untergebracht. Jakob wird vom Internat Schloss Salem am Bodensee aufgenommen. Und seine Eltern ziehen nach München.
G. W. Pabst dreht 1940/41 in Geiselgasteig den Film „Komödianten“ über die von Käthe Dorsch dargestellte Caroline Neuber und lernt dabei Franz Wilzek kennen, den Assistenten des Kameramanns Albert Benitz.
Trude Pabst lässt sich zu einem Literaturkreis einladen, stellt jedoch entsetzt fest, dass die Damen nur Bücher von Alfred Karrasch lesen, einem Autor, der die NS-Ideologie vertritt und weder inhaltlich noch literarisch etwas zu bieten hat.
Jedoch wird ausgerechnet die Verfilmung von Alfred Karraschs Roman „Die Sternengeige“ 1944/45 die letzte Regiearbeit von G. W. Pabst im Zweiten Weltkrieg. Die Dreharbeiten für „Der Fall Molander“ finden in den Barrandov-Ateliers in Prag statt, und Franz Wilzek unterstützt G. W. Pabst dabei als Regieassistent.
Während die Rote Armee anrückt und Prag erobert, schneidet G. W. Pabst wie besessen den Film. Bis auf Franz Wilzek sind alle Mitarbeiter bereits geflohen.
Und so setzte Pabst die Folge der Bilder zusammen: jeder Schnitt ein Taktschlag, schneller, schneller, langsamer, Atem holen, hier die Gesichter von Mutter und Schwester, und jetzt stürzte die Zeit sich selbst in die Beschleunigung, und die Kamera schnellte empor – so atemberaubend war das, dass sie die Explosion kaum hörten. Lichter flackerten, das Fensterglas klirrte.
Im letzten Augenblick gelingt es Wilhelm Pabst und Franz Wilzek, in einen Zug nach Wien zu kommen. Die sieben Filmrollen mit „Der Fall Molander“ schleppen sie in einem Armeetornister.
Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass die Tornister während der Fahrt vertauscht wurden: Der noch vorhandene ist mit Hufeisen gefüllt. Kein Zweifel: Der gehört einem in Brünn ausgestiegenen Hufschmied. Der hat nun offenbar den Tornister mit den Filmrollen und kann damit nichts anfangen.
Danach
Als Franz Wilzek vom ORF ins Seniorenheim Abendruh zurückkommt, erfährt er, dass ihn die anderen Bewohner in der Sendung „Was gibt es Neues am Sonntag“ gar nicht sehen konnten, weil das Fernsehgerät im Gemeinschaftsraum kaputt ist und erst in der neuen Woche repariert werden kann. Wer wird ihm jetzt glauben, dass er im Fernsehen war?
In seinem Zimmer öffnet er den Kleiderschrank und betrachtet den Armeetornister, der darin steht. Er braucht ihn nicht zu öffnen, um zu wissen, was er enthält: Sieben Blechbüchsen mit Filmspulen.
1945 hatte Franz Wilzek im Zug erwähnt, dass seine Eltern in Wien eine Gärtnerei betrieben, und der Schmied aus Brünn, der seine Hufeisen wiederhaben wollte, kam eigens mit dem versehentlich mitgenommenen Tornister nach Wien. So erhielt Franz Wilzek zwar die Filmspulen, aber er konnte dem Schmied nur sagen, dass sie den Tornister mit den Hufeisen im Zug gelassen hatten.
F. W. Pabst zerbrach durch dem Verlust des Films „Der Fall Molander“ und war kaum noch in der Lage, zu arbeiten. Franz Wilzek zögerte, ihm mitzuteilen, dass die Filmspulen wieder da seien – und irgendwann war es zu spät: G. W. Pabst starb am 29. Mai 1967 in Wien.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Protagonist des Romans „Lichtspiel“ ist der Filmregisseur G. W. Pabst, aber Daniel Kehlmann kombiniert Fiktion und Tatsachen, erfindet auch Figuren wie Franz Wilzek, Kuno Krämer und Jakob Pabst. Im Buch begegnet G. W. Pabst anderen berühmten Künstlerinnen und Künstlern. Diese Szenen sind fiktiv, auch wenn sie plausibel erscheinen. Eine schlossartige Villa in Tillmitsch in der Steiermark besaß Wilhelm Pabst tatsächlich, aber es heißt Schloss Fünfturm (und nicht „Schloss Dreiturm“ wie im Roman).
„Lichtspiel“ dreht sich um Kunst, Macht und Korruption, Mitläufertum und moralische Konflikte.
Daniel Kehlmann erzählt aus wechselnden Perspektiven: Franz Wilzek, Greta Garbo, Louise Brooks, Kuno Krämer, Wilhelm, Gertrude und Jakob Pabst … Und es ist bemerkenswert, dass er dabei jeweils den Blickwinkel genau der Person wählt, die eine bestimmte Szene pointiert wahrnimmt, beispielsweise den des Kindes Jakob an der Grenze in Feldkirch. Als der Drehbuchautor Kurt Heuser (1903 – 1975) von der Gestapo abgeholt wird, wiederholt Daniel Kehlmann die Szene aus der Perspektive von Gertrude Pabst, die im Bett liegt und nur hört, was geschieht.
Im ersten und letzten Kapitel versetzt sich Daniel Kehlmann in den altersdementen Franz Wilzek, G. W. Pabsts Regieassistenten bei den Dreharbeiten für den verschollenen Film „Der Fall Mollander“. Da schließt sich der Kreis durch eine tragikomische Rahmenhandlung.
Daniel Kehlmann braucht die Figuren nicht zu beschreiben, denn er versteht es, die Figuren durch Dialoge zu charakterisieren und lebendig darzustellen.
Beim Lesen von „Lichtspiel“ sieht man einen Kinofilm ablaufen. Beispielsweise wirkt Daniel Kehlmanns Darstellung einer Gartenparty von Fred Zinnemann wie eine Kamerafahrt, bei der wechselnde Gruppen ins Bild kommen und in die verschiedenen Gespräche hineingehört wird.
Trotz der ernsten Themen und der Tragik der Handlung baut Daniel Kehlmann auch komische und groteske Szenen ein, und das ist gut so, beispielsweise wenn er zeigt, wie Hollywood-Produzenten den widerstrebenden deutschen Regisseur G. W. Pabst mit ebenso schwülstiger wie verlogener Begeisterung und leeren Versprechungen auf Linie bringen.
Den Roman „Lichtspiel“ von Daniel Kehlmann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen.
Veranschaulichung der Beziehungen
Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
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